DIE MAUER
Daß ich nicht fliehe niemand sich nähere über
aaaaagebotene
distanz richtet sich auf mir meine mauer Die
aaaaabitteren
schüsse treffen ins herz nur mich nach der flucht
manchmal öffnet sich wortbreit ein spalt Einlaß
aaaaagewähren
kann dir schon ein blick deiner augen
aaaaaNachrichten erreichen
mich noch statements bleiben zeitweilig zurück Mit jedem
tag verringert sich die chance zu entkommen Gleichmäßig
schützt sie mich von innen nach außen fest gefügt mit
tag-&-nacht-träumen aus hoffnung & resignation Die
aaaaaMauer ist
organisch: jeder durchbruch sendet die heftigen signale
einer wunde weißer schorf schließt jedes loch Narben weisen
sie aus Das hoffen auf hoffnung, flüstern verstohlen die spitzel
aaaaaGültige verfassung bleibt die eigene Die fahnen wehen
auf halbmast Daß ich nicht fliehe niemand sich nähere
über gebotene Distanz richte auf ich mir meine mauer: der
stacheldraht der Worte bewahrt noch immer mich vor mir
selbst :die bitteren schüsse treffen ins herz nur nach flucht
Frank-Wolf Matthies
(…)
IV
Wider-Worte also. Gegen-Bilder. Bewußt-Sein. Begriffe, die auf eine Haltung ziehen, die sich dem mentalen, optischen und semantischen Status quo in Deutschland verweigert; die Gegen-Bewegung meinen, Hin-Sehen, Nach-Denken. Das alles sind auch Synonyme für: Arbeit. Der aus dem Vogtland stammende Lyriker Bernd Jentzsch sagte vor einigen Jahren:
Der Schriftsteller soll nicht über die deutsche Frage klagen, er soll keine Bittschriften verfassen, er hat vielmehr die Pflicht, die deutsche Frage zu beschreiben, in Gegenworten, denn… sie ist ein Arbeitsauftrag an die deutschen Schriftsteller in Ost und West, und das Wort ,Arbeit‘ bedeutet bekanntlich vielerlei: Mühsal, Not, Beschwerde, Leid, Bedrängnis und auch: mühseliges Werk.
Die vorliegende Anthologie versteht sich in genau diesem Sinne als ein Stück notwendiger Arbeit. Sie versammelt eine Auswahl von Gedichten, die – über ihre ästhetisch-literarische Einzelbedeutung hinaus – die Kontinuität einer poetischen Trauerarbeit belegen, an deren Ergebnissen die deutsche Gegenwartsliteratur zukünftig gemessen werden wird. Wie ernst wir es genommen haben, das Geteilt-Sein und seine inzwischen ebenso alltägliche wie katastrophale Kontur – in Gedicht und Roman, Novelle und Film, Drama und Komposition, Bild und Fotografie –, dieser Ernst wird dem Rang heutiger deutscher Kunst und Literatur morgen ausmachen.
Haben wir also nach Wörtern gesucht für das Sprachlos-Machende? Nach Bildern für das, was uns ins Auge sticht die wir deshalb verschließen möchten? Nach Noten für Hilferufe der Sterbenden und Verletzten?
Haben wir uns Zeit genommen gegen diese Zeit? Sind wir unruhig gewesen angesichts soviel erwünschter oder verordneter Ruhe? Haben wir uns – physisch und psychisch – dem Schnitt durch Deutschland, der zuerst und zuletzt ein Schnitt durch die Menschen des Landes ist, gestellt? Oder haben wir ihn, ohne ins Stocken zu geraten, nur eilig passiert?
Haben wir aus der Ohn-Macht vor diesem Zaun ein realpolitisches Arrangement gemacht oder eine humane Revolte gegen die Mächtigen, die ihn brauchen, und all jene, die hierzulande „Verständnis“ dafür empfehlen?
Haben wir letztlich Freiheit gewollt oder nur die Un-Freiheit in Frieden gelassen?
V
Die Texte dieser Anthologie sind versuchte Antworten auf jene Fragen. Die Fotografien Jürgen Ritters stehen in Korrespondenz zu diesen Antworten. Sie illustrieren zwar kein einziges Wort über den Schrecken, der hier ins Bewußt-Sein getrieben wird. Aber sie machen ihn auf eine konsequent komparative Weise sichtbar: Indem sie ihn, zumeist im Gewand des Idylls, ans Licht holen und so – provizierend schön – vors Auge stellen: Aus vordergründigen Landschaftsmotiven werden – nach genauem Hinsehen – Bildtafeln eines Kreuzweges, der immer noch gegangen wird, Ikonen des Schmerzes. „Der Kampf des Menschen gegen die Macht“, schreibt Milan Kundera, „ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.“ Darum diese Wider-Worte und Gegen-Bilder. Darum dieses Buch. Es gilt den Opfern der Mauer, die gegenwärtig vergessen sind; aber auch unseren Kindern, die fragen werden, warum sie vergessen wurden.
Ulrich Schacht, Nachwort
auch nicht die Grenzen, die Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg teilt. In ihren Gedichten drücken Wolf Biermann, Günter Kunert, Reiner Kunze und viele andere Autoren aus, wie sehr sie diese Grenze beschäftigt. Fotos von Jürgen Ritter dokumentieren die deutsche Teilung in ihrer ganzen Konsequenz.
Harenberg Kommunikation, Klappentext, 1989
Ulrich Schacht: Kein Nachruf
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