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Wind und Schnee und Dunkelheit.
Der Januar hatte uns in die Enge getrieben
wer konnte, machte sich aus dem Staub.
wer’s nicht schaffte, ist hängen geblieben.
Seine Heimat sucht man sich nicht aus.
Ort und Zeit sind eitler Schein.
Und wenn du lange in den Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Auf einem Blatt Papier hat man
alle Büchertitel durchgestrichen.
Winde wirbeln, die schon bald
des Winters Klangspur wichen.
Der Frost legt Gitter vor die Fenster,
Angst tropft durch die Stunden der Nacht.
„Zur Seite!“, ruft man dem Mutigen zu,
zum Sturkopf sagt man: „Hab Acht!“
In jedem Traum wohnt ein Albtraum,
in jeder Nacht zerschmilzt das Licht.
Du verstehst die Vergeblichkeit
deiner eigenen Hoffnungen nicht.
Wie sagt man es dem Geschöpf
mit dem giftigen Schwanz:
wer nur mit Rauch baut,
baut ohne Substanz.
Wie beim Stiefvater im Märchen,
der seine Kinder schließlich gehen lässt,
so steht auch unser Ende
der Geschichte fest.
Atme auf des Winters Finger,
solang in deiner Brust noch Sonne ist.
Über den Gefängnismauern
wird morgen die Fahne gehisst.
Andrej Chadanowitsch
Übersetzung Ulf Stolterfoht
Sprachmittlerin und Interlinearübersetzerin Susanna Sophia Kołtun
KRÄHE NACH LUKAS
(2)
im soundsovielten jahr der regierung des eisenhauers, als der ältere wainwright statthalter von hoboken war und happy traum der tetrarch von abilene, also unter den hohepriestern leiber und stoller, da erging am hudson das wort an häher (jay bird) und habicht, die künftigen onkels des krähe. und hier ist, was sie hörten: „jedes tal soll aufgefüllt / und jeder hügel abgetragen werden / was krumm
ist, soll gerade / und was rau ist, soll zu eb’nen wegen werden / und alles fleisch darf gottes heil erblicken!“ da waren die beiden onkels erst mal baff. und die stimme fuhr fort: „schon ist die kleine axt an die wurzel der bäume gelegt / wer uns das obst versagt, wird umgehauen / der mag das feuer speisen. / und wem es unter euch am funk gebricht / den treffe bitteschön der erste stein,“ oha! wir
haben eine situation, denn es verhielt sich so: der häher besaß zwar den folk und der habicht so eine mischung aus rock und blues, vielleicht ein bisschen richtung paul butterfield, nur um mal eine hausnummer zu nennen, also von funk bei beiden keine spur. da hob ein zittern und zibeben an, ein großes zähneklappern, und der häher und der habicht fürchteten sich sehr! bis mit einem lauten knall der him-
mel mittig riss und der heilige geist in leiblicher gestalt wie eine gabelweihe auf sie niederstieß und sprach: „ihr beiden seid mir doch die liebsten! euch soll ein patenkind geboren werden, so süß wie melasse, klebrig wie sirup auf buchweizengrütze, dick wie sumachdicksaft über maispfannenkuchen, verführerisch wie gestockte milch mit rübenseim – ganz genau so! habt ihr die schnallung und die
scheckung von solcher süßigkeit? liegt sie euch auf der zunge? wenn aber dieser bub den schnabel öffnet, entströmt ihm reinster rap. hart wie vollkontakt, zart wie pansen, wahr wie cnn, penibel wie bibel, wunderbar fließend wie bach. und politisch so weit links, dass es buchstäblich weh tut!“ als sie dieses vernommen, freuten sich häher und habicht sehr. und harrten geduldig der ankunft des knaben.
Ulf Stolterfoht
Beim diesjährigen belarussisch-deutschen VERSschmuglerInnen-Team mitzumachen, war ein wahres Geschenk für den Dichter sowie den Übersetzer, die in mir koexistieren. Deutsche OrganisatorInnen bekundeten ihre Solidarität mit Belarus in diesen für uns schwierigen Zeiten. Neben der Möglichkeit, unsere Sorgen und unsere Hoffnungen auf Besseres zu teilen, waren Nachdichten und kreative Zusammenarbeit mit talentierten KollegInnen, künstlerische Herausforderungen und Versuche, sie zu meistern, allesamt eine Art Psychotherapie, die erlaubte, zumindest teilweise die Normalität der „Friedenszeiten“ zurückzugewinnen, zumindest für die Dauer dieses Projekts. Wir waren auf Online-Kommunikation eingeschränkt und lernten, in Teams zu arbeiten – nicht nur mit den deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern, sondern auch mit den Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern, die uns bei der Kommunikation unterstützten. Die Gedichte von Ulf Stolterfoht, voller Allusionen und Stilkontraste, waren für mich eine intellektuelle Herausforderung und verlangten mir eine kreative Nicht-Wortwörtlichkeit bei der Übersetzung ins Belarussische ab. Einige Äquivalente, mit denen ich die bei einer Nachdichtung unvermeidlichen Verluste zu kompensieren versuchte, haben mich sogar angenehm überrascht. Die spannenden Fragen, die Ulf stellte, um mich besser zu verstehen, erlaubten mir, auf meine eigenen Texte einen objektiveren Blick zu werfen, sie durch eine andere Brille zu betrachten und besser zu verstehen, was einst rein intuitiv geschrieben und empfunden wurde. Eine Frage – Um wessen Zöpfe geht es in deinem Haarnadel-Gedicht? – verleitete mich zum Nachgrübeln über Besonderheiten von Zeit und Erinnerung und verwandelte die Haarnadel in einen Schlüssel zur Selbsterkenntnis… Herzlichen Dank an alle KollegInnen, die an diesem aufregenden und, wie es mir scheint, erfolgreichen Unternehmen beteiligt waren!
Andrej Chadanowitsch
Kurzer Bericht eines Schmugglers
Während draußen die dritte Corona-Welle ganz langsam verebbte und eine Ryan Air-Maschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius zum Zwischenstopp in Minsk gezwungen wurde, saßen wir: Andrej Chadanowitsch, unsere Sprachmittlerin Susanna Sophia Kołtun und ich im digitalen Sprachlabor und sprachen über den Bedeutungsumfang einer Präposition. Darf man das denn, so etwas diskutieren, während sich die Welt draußen so schnell verändert, dass man Angst bekommen kann, anschließend im Radio die Nachrichten zu hören? Ich hatte jedenfalls die allergrößten Skrupel und Bedenken. Die sich nach mehreren emails und einem längeren Gespräch mit Andrej allerdings in Luft auflösten. Wahrscheinlich sollte man die vielerorts und immer wieder aufs Neue beklagte Folgen- und Nutzlosigkeit der Lyrik endlich einmal ernstnehmen, um sie so vielleicht nicht zur Waffe, aber doch zum Schild machen zu können: Gerade weil es nutz- und folgenlos ist, tun wir es ja! Und dann wollen wir doch mal sehen, ob es wirklich ganz umsonst gewesen ist!
Ulf Stolterfoht
Ulf Stolterfoht und Andrej Chadanowitsch bildeten ein Dichterpaar, wie es unterschiedlicher nicht hätte sein können. Umso berührender war die tiefe Verbindung, die wir im Rahmen des VERSschmuggels erfahren durften. In Zeiten räumlicher Isolation und politischer Repressionen ist es uns gelungen, Grenzen zu überschreiten, literarische und persönliche Verbindungen außerhalb des virtuellen Mediums zu schaffen und einander über die Lyrik kennenzulernen, zu unterstützen und zu stärken. Dabei verfolgten beide Dichter stets das gemeinsame Ziel, der Stimme des jeweils anderen auch in der eigenen Muttersprache treu zu bleiben und sie einem neuen Publikum vorzustellen. Die aktuelle Bedeutung dieser Arbeit zeigt sich eindringlich in den Worten Andrejs: ,,Jedes übersetzte Buch und jeder neue Autor bedeutet für die belarussische Gesellschaft heute eine Erweiterung der Grenzen des Möglichen.“
Susanna Sophia Kołtun
Sprache in ihrer Genauigkeit tröstet, ohne zu betrügen
Herta Müller
„Der Belarusse ist wie das Gras“, hört man in Minsk und anderswo oft:
stürmt der Wind, legt es sich flach und steht wieder auf, wenn der Sturm vorüber ist.
Solch ein Defätismus!, denkt man und fragt, woher das kommt und wie sich hier je etwas ändern soll –? Seit dem letzten Wahlbetrug des Diktators jedoch scheint alles anders dort. Da ist Widerstand, und der Widerstand hält schon lange an, ist erfinderisch in seinen Formaten, und er ist im Wesentlichen weiblich. Das Regime reagiert erbärmlich: gewalttätig.
Dazu gehört auch, dass der coproduzierende Verlag dieser Anthologie in Belarus seine Mitarbeit aus Selbstschutz hat absagen müssen. Der Verleger, Zmicier Višnioŭ, hat nichtsdestotrotz ein persönliches Vorwort beigesteuert.
Es ist ein Prinzip des VERSschmuggels, dass der ihn dokumentierende Band in den beiden beteiligten Sprachräumen in je einem Verlag zur gleichen Zeit als das selbe Buch erscheint und so von zwei Verlagen an zwei Publika distribuiert wird. Noch nie in der zwanzigjährigen Geschichte des VERSschmuggels ist geschehen, dass der Band mit Gedichten aus zwei Sprachräumen aus politischen Gründen nicht zur gleichen Zeit in beiden hat erscheinen können. Verse zu schmuggeln ist somit im Wortsinn zur Aufgabe geworden!
Der vorliegende Band vereint bisher Unerhörtes und nicht Gelesenes. Zeitgenössische Dichtung aus Belarus und Deutschland gilt im jeweils anderen Sprachraum durchaus als Geheimtipp, ist aber nur wenig bekannt, weil sie kaum übersetzt und noch viel seltener veröffentlicht wird.
Gedichte gelten verlegerisch gesehen gemeinhin als „heiße Ware“. Nur die mutigen und somit echten Verleger führen sie in ihren Verlagsprogrammen und veröffentlichen gar fremdsprachige Dichtung, obwohl sie zusätzlich der Übersetzung bedarf. Das Übersetzen von Poesie selbst gilt als ganz besonders knifflige Angelegenheit. Es ist die Königsdisziplin allen literarischen Übersetzens, und die Erzählungen über den Prozess des Übersetzens sind spannend wie Krimis.
Denn das, was das Gedicht zum Gedicht macht, ist in erster Linie nicht nur das, wovon es spricht, sondern das, woraus es gemacht ist: aus Klängen, und Rhythmen, die den Vers bilden. Diese musikalischen Elemente lassen das Gedicht als „angenehm“ erscheinen, wenn es zu hören ist, und es sind genau diese Elemente, die sich bei privater stiller Lektüre nicht ohne weiteres erschließen. Die Stimme der Dichterin, des Dichters ist das Instrument des Gedichts und befördert die Tiefen seines Bedeutens als gebundene Sprache an die Oberfläche, sprich: in unsere Wahrnehmung.
Dass der vorliegende Band die Instrumente des Gedichts, die Stimmen und Gesichter der Dichter, qua Video als QR-Code beifügt, ist die erste Schmuggelanweisung und ergibt sich aus der Materie von Poesie generell: eine eigenständige Kunst zu sein, deren Instrument die menschliche Stimme ist.
Die nächste Besonderheit dieses Bandes liegt in dem, was es zu schmuggeln galt: zeitgenössische Dichtung, geschrieben in belarussischer, russischer und deutscher Sprache. Zwölf Dichterinnen und Dichter aus Belarus und Deutschland haben sich in das Abenteuer des Verseschmuggelns gestürzt und sich zum poesiefestival berlin im Juni 2021 gegenseitig übersetzt, Corona sei’s geflucht: in ZOOM-Räumen, via Internet also.
Der vorliegende Band stellt zwölf dichterische Positionen vor, als gedankliche wie ästhetische. Es sind häufig erste Einblicke in andere Gedankenwelten und Präferenzen, auch wenn die einzelne Dichterin, der einzelne Dichter im eigenen Sprachraum kein Unbekannter mehr ist. Sie alle haben Verse geschmuggelt über die Grenzziehungen hinweg, die die Sprachen auferlegen, in der Regel ohne die Sprache des anderen zu verstehen.
Was zunächst absurd erscheinen mag, ist ein Verfahren, das im Haus für Poesie entwickelt wurde und das in zwei Stufen vonstattengeht, zwischen vielen Sprachen erprobt ist und hervorragend funktioniert: In einer ersten Stufe des Arbeitens werden Interlinearübersetzungen der Gedichte aus beiden Sprachen angefertigt. Diese stehen den sich übersetzenden Dichterinnen und Dichtern als Material zur Verfügung. In der zweiten Phase, dem eigentlichen Übersetzungsworkshop, begleitet eine Sprachmittlerin oder ein Sprachmittler beide sich gegenseitig übersetzenden Dichterinnen und Dichter und ermöglicht, dass die Geschichten, die hinter den Worten eines jeden Gedichts liegen und letztlich zu seiner Textur führen, erzählt und auch verstanden werden.
Dieser äußerst intime und hochenergetische Prozess – das ist der VERSschmuggel. Denn beim VERSschmuggel begegnen sich nicht nur zwei DichterInnen, sondern auch zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei Stimmen, zwei Charaktere, die einander im Zuge des Austauschs verwandeln.
Die Dichterinnen und Dichter lasen sich die Texte mehrmals gegenseitig vor, nahmen sie Wort für Wort und Bild für Bild auseinander, fragten nach kulturellen Konnotationen und stilistischen Zusammenhängen sowie nach individuellen Kompositionsverfahren und deren Verortung innerhalb der poetischen Traditionen der jeweiligen Sprache.
Das Besondere am VERSschmuggel ist, dass die DichterInnen an der Übersetzung ihrer eigenen Texte aktiv und kreativ beteiligt sind, dass sie es sind, die das Übersetzte legitimieren. So wird größtmögliche Freiheit beim Übersetzen ermöglicht, ohne Form und Gehalt des Originalgedichts preiszugeben. Das Ziel ist immer, in der jeweiligen Zielsprache wieder ein gutes Gedicht entstehen zu lassen. Rein linguistische Verfahren helfen dabei nur bedingt, freies Übersetzen hingegen lässt die notwendige Nähe entstehen. Die Konfrontation mit dem fremden Blick regt zudem zur neuen Auseinandersetzung mit den eigenen Texten an. Beim Übersetzen erleben die DichterInnen auch die Dimensionen der eigenen Sprache neu.
Im vorliegenden Band äußern sich die DichterInnen selbst zum Erleben der poetischen Welt des anderen und seiner und ihrer Sprache. Diese sehr lesenswerten Statements sind dem Band ebenso beigefügt wie Statements der sie begleitenden SprachmittlerInnen.
Dieses Buch enthält also in mehrfacher Hinsicht Schmuggelware. Vielfältigste Facetten des Nachdichtens, die DichterInnen und SprachmittlerInnen miteinander entwickelt haben, sind vertreten und vom Leser/Hörer nachvollziehbar, weil komplett zweisprachig. Die Lektüre pendelt zwischen Original und Übersetzung, zwischen eigener und fremder Poetik, bis sich die Sprachgrenzen geradezu verwischen.
Allen Lesenden und Hörenden in Belarus und Deutschland wünsche ich viel Vergnügen bei dieser Klang- und Bedeutungsreise über System- und Sprachgrenzen hinweg. Hier ist poetisches Gut vom Feinsten zusammengetragen. Wir alle sind dadurch reicher geworden.
Das gegenwärtige Regime versucht es zu verhindern, aber auch dieser Band wird in Belarus auftauchen, kursieren und gelesen werden. Geschmuggeltes ist immer in höchstem Maße interessant. Und Menschen werden in menschlicher Verantwortung zur Verbreitung auch dieses Buches in Belarus beitragen. Markiert ist im Buch, dass es im Moment keine belarussische ISBN-Nummer geben kann. Diese irgendwann nachzutragen ist Platz gelassen, ein weißer Fleck. Oder wie der Vers des belarussischen Dichters Andrej Chadanowitsch sagt:
Wie beim Stiefvater im Märchen,
der seine Kinder schließlich gehen lässt,
so steht auch unser Ende
der Geschichte fest.
Ich bedanke mich bei Karolina Golimowska für die Leitung, Organisation und Moderation des Übersetzungsworkshops; an Ekaterina Tewes für Assistenz und – gemeinsam mit Alexander Gumz – für die redaktionelle Betreuung dieser Anthologie; an Andrej Chadanowitsch für Mithilfe bei der Übersetzung von Statements und Biografien. Außerdem geht Dank an alle Interlinear-ÜbersetzerInnen und SprachmittlerInnen, ohne die diese Nachdichtungsarbeit so nicht möglich wäre.
Großer Dank darüber hinaus an Valzhyna Mort und Taciana Niadbaj, die die belarussischen DichterInnen kuratiert haben; an Jakob Racek und Alexander Nasartschuk vom – mittlerweile unter Zwang geschlossenen – Goethe-Institut in Minsk, an die S. Fischer Stiftung und das Auswärtige Amt für die freundliche Unterstützung des Workshops, dessen Ergebnisse dieses Buch präsentiert.
Thomas Wohlfahrt, Vorwort, Januar 2022
– Vorwort eines Nicht-Herausgebers. –
Sind Verse und Schmuggel miteinander vereinbar? Einmal landete ich in der Stadt Pastawy auf dem Polizeirevier und blieb über Nacht in Gewahrsam. In eine Zelle gesperrt, rezitierte ich Gedichte, die ich auswendig kannte. Ich rezitierte im Stillen und laut – keiner konnte es mir verbieten. Man könnte sagen, ich schmuggelte Verse ins Gefängnis – ich füllte das Zellenloch mit anspruchsvoller Dichtung. Doch ich komme um eine triviale und dennoch zeitlose Feststellung nicht herum: Ein Dichter im Kerker ist wie ein Vogel im Käfig.
Wie soll man über Dichtung schreiben, wenn das Herz keine Luft mehr kriegt? Ich schaue mir mein literarisches Reservat an. Ich habe meine Leidenschaft verloren. Ich denke an Andrei Nowikow, der früher ein internationales Poesiefestival in Minsk ausrichtete. Ich erinnere mich, wie der russische Dichter Andrei Korowin brüllte:
Die Poesie wird ewig leben!
Ich denke an Andrei Bitow und seine Worte:
Zmicier, ich trinke nur nach 16 Uhr. Welches Buch soll ich dir nun schenken? Ich schlage vor, ein kompliziertes.
Heute fällt es mir schwer, nach Poesie zu suchen. Ich bin vom Leben ziemlich enttäuscht. Dennoch. Zurück zum vorliegenden Gedichtband.
Wie soll er besprochen werden, nach welchen Kriterien beurteilt? Was hat dieses Buch mit mir persönlich gemacht? Zuerst wollte ich dieses Vorwort als eine Western-Geschichte verfassen. Dann als ein Polizeiprotokoll. Und jedes Mal fehlte es mir an treffenden Worten. Leider versagen die Worte, dachte ich, wenn es darum geht, etwas Wichtiges zu sagen.
Alle hier vorgestellten Dichterinnen und Dichter, deutsche sowie belarussische, sind höchst lesenswert. Jede und jeder von ihnen ist einen eigenen Weg in der Lyrik gegangen. Ich las dieses Buch – und die Poesie klang für mich wieder. Wirklich wahr. Wie es mir schien, können einige der vertretenen DichterInnen soziales Engagement aus ihrer Dichtung nicht wegdenken, für andere ist es in der Lyrik dagegen ein absolutes No-Go. In jedem Fall ist es eine bewusste Entscheidung. So kommen in diesem Band sehr unterschiedliche Texte zusammen, die alle singulär sind. Was macht sie aus? Die jeweilige Stimme. Klar und unverwechselbar. Unnachahmlich. Wie die Stimme der Stille. Wie der Schrei des Himmels. Genau so.
Jetzt werde ich diese Anthologie wieder beiseite legen und versuchen, Sie zu schocken. Lächeln Sie. Wozu? Und wie über Poesie sprechen? Ich sollte zur Sache kommen und nicht „das Wasser umsonst laufen lassen“, wie man im Belarussischen sagt. Los geht es! Einmal, in den 1990er Jahren, war ich Zeuge, wie Hühnerkeulen nach Belarus geschmuggelt wurden. Korpulente, verschwitzte Menschen wickelten sich Hühnerkeulen mit Klebeband um den Körper. Ich war kein Vegetarier, wollte es in diesem Moment aber werden. Heute denke ich an den wachsenden Strom der Lastwagen, die Schmuggelzigaretten aus Belarus befördern. Was hat das mit Poesie zu tun? Ich glaube, dass Gedichte heute tatsächlich zu einer Schmuggelware werden, um die man kämpfen muss, allemal in Belarus. Ich bin überzeugt, dass mir auch deutsche LeserInnen zustimmen werden.
Es gibt einen Mythos, der belarussische Wortschatz enthalte zweitausend deutsche Wörter. Ich glaube daran, dass es nicht die einzige Schnittmenge zwischen unseren Literaturen ist.
Zmicier Višnioŭ, Vorwort, Januar 2022
stand 2021 Dichtung aus Belarus im Austausch mit Lyrik aus Deutschland. VERSschmuggel erhielt in diesem Jahr eine erschreckend wörtliche Dimension. Angesichts der aktuellen politischen Situation erscheint es wichtiger denn je, belarussische DichterInnen im Ausland laut werden zu lassen. Und das Schmuggeln ist geglückt: In virtuellen Räumen trafen sich sechs DichterInnen-Paare aus beiden Ländern zum Workshop im Rahmen des poesiefestival berlin. Sie tauchten ein in die poetisch und kulturell reichen und mutigen Verse ihrer Gegenüber. Die Ergebnisse dieser intensiven Transfers werden hier präsentiert.
Das Wunderhorn, Klappentext, 2022
VERSschmuggel Belarus – Deutschland. Lesung und Gespräch mit den DichterInnen Julia Cimafiejeva (BLR) | Özlem Özgül Dündar (DEU) | Jonis Hartmann (DEU) | Andrej Chadanowitsch (BLR) | Uladzimir Liankievič (BLR) | Maryja Martysievič (BLR) | Andre Rudolph (DEU) |Daniela Seel (DEU) | Tania Skarynkina (BLR) | Ulf Stolterfoht (DEU) | Dmitri Strozew (BLR) | Uljana Wolf (DEU) | Moderation: Karolina Golimowska (DEU) Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin
Die Dichterin und Übersetzerin Uljana Wolf spricht in der Bücherfrage der Woche über ihren Versschmuggel mit Julia Cimafiejeva.
Dichterinnen und Dichter aus Belarus und Deutschland trafen sich beim Poesiefestival 2021 zum Versschmuggel, leider nur online: Sie haben sich gegenseitig übersetzt. Nun gehen einige von ihnen live auf Tour, beginnend am Dienstag im Berliner Haus für Poesie, ein Buch dazu gibt es auch. Die Bücherfrage der Woche geht an die gerade mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Lyrikerin, Übersetzerin und Essayistin Uljana Wolf: Was bedeutet in dieser Zeit des Krieges der Austausch von Gedichten?
Uljana Wolf: Der Dichter und Verleger Zmicier Višnioŭ schreibt im Vorwort zu der Anthologie, der belarussische Wortschatz enthalte 2.000 deutsche Wörter. Und er fügt hinzu:
Ich glaube daran, dass das nicht die einzige Schnittmenge zwischen unseren Literaturen ist.
Der Versschmuggel, eine 2002 gegründete Übersetzerwerkstatt, glaubt nicht nur, dass sich Gedichte übersetzen lassen. Sondern auch, dass es mannigfache Schnittmengen zwischen unseren Sprachen und Literaturen gibt – durch gemeinsame Lebensbedingungen und Geschichte.
Wir erleben seit dem furchtbaren Angriff Russlands auf die Ukraine unfassbaren Schmerz im Herzen von Europa, aber auch Gemeinsamkeit. Im Sommer 2021, als wir mit unseren belarussischen Kolleginnen Gedichte übersetzten, lebten viele von ihnen schon im Exil, andere in ständiger Gefahr. Der Kampf für Gerechtigkeit, Demokratie und Selbstbestimmung in Belarus ist genauso zentral für unsere europäische Zukunft wie der Kampf der Ukrainer. Wir dürfen das nicht vergessen, jetzt da Putin mit Lukaschenko den Schulterschluss gegen die Ukraine sucht. Es ist eine Qual für die meisten Belarussen.
Ich habe die Dichterin Julia Cimafiejeva übersetzt – und sie mich. Eines ihrer Gedichte heißt „Kein Film“ und berichtet von der Angst, als Kind im Fernsehen Folter zu sehen. Gemeint ist ein sowjetischer Erinnerungsraum, in dem die Täter meist Deutsche waren. Das Kind wird beruhigt – „ist doch nur ein Film“. Am Ende des Gedichts aber hält die Gegenwart Einzug, die Täter sind nun die Handlanger des eigenen diktatorischen Staates. Und Cimafiejeva schreibt:
Diesen Film kannst du
nicht umschalten, nicht abschalten
Ein Satz, der in Europa seit dem 24. Februar 2022 eine weitere schreckliche Dimension dazugewonnen hat. Nein, es ist kein Film, nein, die Herren Diktatoren bluffen nicht. All das steht schon lange in den Texten, den Gedichten vieler osteuropäischer Autorinnen und Autoren, für alle Welt lesbar.
Gedichte können den Krieg nicht stoppen. Aber sie können unsere Wahrnehmung schärfen, echoreiche Räume öffnen, in dem Gemeinsames und Schmerzvolles verflochten ist. Und auch an die Lücken in unserer Erinnerung rühren.
Aurélie Maurin und Rainer G. Schmidt: Übers Übersetzen von Gedichten
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