(…)
Hermlin schrieb keine Memoiren, aber 1979 veröffentlichte er die in gestochener Prosa abgefasste autobiographische Erzählung Abendlicht. Der Titel geht auf ein Zitat von ROBERT WALSER (1858–1956) zurück:
Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren.
Ernst Blochs Prinzip Hoffnung endet mit dem Wort Heimat. „Die wirkliche Genesis“, folgerte Hans Mayer in seiner Rezension von Abendlicht, „ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Ohne Selbstmitleid bekennt der Autor, ,Ich war nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der ich angehörte, ich teilte ihre Reife und ihre Unreife, ihre Größe und ihr Elend.‘ Der Kommunist und Dichter, der sich auf das Beste in sich zurückzieht. Peter Weiss nennt es: Ästhetik des Widerstands.“ (Die Zeit, 21.9.1979)
In der Notiz „Musik hören“ in seinem 1983 publizierten Buch Äußerungen 1944–1982 kommt die dialektische Spannung von Hermlins nicht doktrinärer Kunstauffassung am schönsten zum Ausdruck:
Erster Syllogismus: Große Kunst ist reaktionär; sie liquidiert notwendige, mühsam erreichte Frontstellungen. Sie fördert die ewige Illusion des Allgemein-Menschlichen. Zweiter Syllogismus: Große Kunst ist revolutionär. Sie löst anachronistische Erstarrungen und macht erst die eigentliche Auseinandersetzung möglich. Die geht um das Allgemein-Menschliche. Es wird als realisierbar empfunden. Aber wie? Aber wann? (S. 319)
Die Zeit wird es uns möglicherweise lehren. Mit AUGUST VON PLATEN (1796–1835), an dem das Unrecht, das Heinrich Heine ihm in schrecklicher Verkennung angetan hatte, noch immer gutzumachen wäre, mit Platen hätte Hermlin folgendes entgegnet:
Die Zeit, denke ich, lehrt Alles; was wir sind und wissen, sind und wissen wir durch die Zeit. Die Zeit ist ja nichts anderes als das Aufeinanderfolgen der Dinge, wodurch Alles geschieht. Wir sind ganz das Werk der Zeit, denn wir können durchaus nicht seyn, was wir sind, wenn nicht alles so vor uns gewesen wäre, wie es wirklich gewesen ist. (Platen an Friedrich Graf von Fugger, 12.12.1819, Briefwechsel, S. 110f.)
1989 musste der loyale DDR-Bürger Stephan Hermlin zur Kenntnis nehmen, dass seine Hoffnungen mehr als Schiffbruch erlitten hatten. Für erledigt hielt er sie keineswegs. Er, wie auch sein Sohn Andrej, wurden Mitglieder der PDS.
Nachdem Hermlin eine Operation gut überstanden hatte, und die Vorwürfe von Dissidenten, er gehöre zu den Mitschuldigen und hätte der Stasi zugearbeitet, widerlegt worden waren, feierten Autoren wie Wolfgang Hilbig, Thomas Brasch und Volker Braun des neu gegründeten PEN-Zentrums Ost und der Verlag Klaus Wagenbach Hermlins 80. Geburtstag mit einer Lesung ,Neue Lyrik‘. – Sie fand im Plenarsaal der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz statt.
Anschließend luden die Autoren zum Empfang in das zur Literaturwerkstatt umgewandelte Otto-Grotewohl-Haus am Majakowskiring. Nach Reden von Kultursenator Ulrich Roloff-Momin und Christoph Hein wirkte Hermlin am Abend heiter und gelassen. Im folgenden Jahr erschien das die Glaubwürdigkeit seiner Dichtung bezweifelnde Buch von Karl Corino, dem zumeist hämische Kommentare vieler Journalisten folgten. Goethe zitierend, spottete Hermlin: „Getretener Quark wird breit, nicht stark“, aber die unerfreulichen Debatten trafen ihn doch mehr, als er zu erkennen gab.
Sein Schutzschild blieb das Haus, dessen im Westen lebende Eigentümer sich nach der Wende meldeten, mit denen er sich über einen akzeptablen Mietpreis einigen konnte, Irina Hermlin war um alles besorgt, man musste viel bescheidener als früher leben, die Altersrente reichte gerade, aber Wertsachen wie das Liebermann-Porträt von Hermlins Mutter mussten verkauft werden. Andrej Hermlin konnte 2004 das Haus und den vorderen Teil des Grundstücks Hermann-Hesse-Straße 39 erwerben. Das Gebäude wurde gründlich saniert, im Innern etwas umgestaltet, aber baulich nicht verändert. Hermlins Sohn, der Weltkarriere gemacht hat, bewohnt es heute mit seiner Familie. Irina Hermlin hat sich in der Kellerwohnung, im einstigen Arbeitszimmer ihres Mannes, eingerichtet.
Stephan Hermlin ist am 6. April 1997 in Berlin gestorben. Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, in unmittelbarer Nachbarschaft der Gräber von Hanns Eisler, Christa Wolf, Thomas Brasch, Hans Mayer. Wenn ich Hermlins dichterische Existenz auf eine Formel bringen müsste, wäre sie eine wunderbare Mischung aus August von Platen und Georg K. Glaser, wissend, dass „was die Flächen wärmet / Die Tiefe wärmt es nicht“. (Gesang der Toten) Und bekennend, „stillschweigend war mein Ziel zerbröckelt; ich war in einem Strome aus Schweigen und Warten abgetrieben, und ich versuchte angstvoll zu erkennen, wohin“. (Geheimnis und Gewalt, S. 216) Doch wer vermag schon das Wesen eines Menschen ganz zu erschließen oder gar endgültig zu beurteilen? Hölderlin hat Diotima die passende Antwort geben lassen:
Du sagtest mir einmal, Hyperion: es sei Entwürdigung, vor irgend einem Menschen zu sagen, man hab ihn ganz begriffen, hab ihn weg. (Hyperion, S. 292)
Stephan Hermlin,
1915 in Chemnitz als Rudolf Leder geboren und 1997 verstorben, war einer der bedeutendsten und zugleich widersprüchlichsten Schriftsteller in der DDR. Kritisch bezugnehmend auf die durch Karl Corino 1996 entfachte Legenden-Debatte, skizziert Klaus Völker zunächst Lebensstationen Hermlins bis in die Nachkriegszeit, bevor er sich ausführlicher dessen Leben, Schreiben und Wirken in Ost-Berlin widmet. Völker lernte Hermlin 1959 kennen und war oft Gast in dessen Haus in Niederschönhausen. Aus Erinnerungen, Korrespondenzen, Gesprächen mit Mitgliedern der Familie sowie Texten von und über Hermlin entsteht ein Porträt, das Widersprüche nicht glättet und Dichtung und Wahrheit nicht als Gegensätze betrachtet.
verlag für berlin-brandenburg, Ankündigung
Stephan Hermlin in Berlin
Stephan Hermlin (1915–1997, bürgerlicher Name Rudolf Leder) war einer der großen Schriftsteller der DDR-Literatur – neben Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym, Volker Braun oder Heiner Müller. In der Reihe Frankfurter Buntbücher des Kleist-Museums Frankfurt (Oder) ist nun ein Band erschienen, der Hermlins Leben und Wirken in Ost-Berlin (immerhin ein halbes Jahrhundert) näher beleuchtet. Zunächst gibt der Autor Klaus Völker aber einen kurzen Überblick zu Hermlins Biografie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Nach 1945 arbeitete Hermlin zunächst als Rundfunkredakteur in Frankfurt/Main, entschloss sich dann aber, seinen Lebensort nach Berlin zu verlegen. Hier erhielt er eine Anstellung beim Berliner Rundfunk und seine bereits im Westen publizierten Bücher erschienen in Ostberliner Verlagen. Obwohl er gute Kontakte zu Partei- und Regierungskreisen hatte, war Hermlin kein kommunistischer Karrierist, sondern ein Dichter und Intellektueller, dem der Glaube an den Sieg des Sozialismus und die Ablehnung jener alten Welt, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatte, Herzenssache war. Wie Brecht appellierte er an die DDR-Politiker, den neuen Staat für die Menschen zu bauen.
Sein Haus in Niederschönhausen wurde vielfach zum Treff von DDR-Künstlern. So auch, als man nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 eine gemeinsame Erklärung aufsetzte. Der „spätbürgerliche Schriftsteller“ (wie Hermlin sich selbst bezeichnete) hielt aber weiterhin an den sozialistischen Idealen fest. 1989 musste er jedoch zur Kenntnis nehmen, dass seine Hoffnungen Schiffbruch erlitten hatten. 1995 konnte Hermlin noch seinen 80. Geburtstag im Kreise von Freunden und Weggefährten feiern, ehe er am 6. April 1997 verstarb. Die biografische Darstellung ist mit zahlreichen Privatfotos illustriert und vermittelt nicht nur einen Eindruck von Hermlins Leben in Berlin sondern auch von der DDR-Kulturpolitik.
Manfred Orlick, amazon.de, 23.3.2020
Von Hermlin bis Gründgens. Die Domizile großer Schriftsteller
– In der Kolumne Fundstücke geht es dieses Mal um die Heimatorte von Schriftstellern und ihre literarische Verarbeitung. –
Die Ferienzeit ist in diesem Jahr eher selten die Fernreisezeit. So reüssieren gerade in und um Berlin die Ausflüge in die nähere Umgebung oder Erkundungen innerhalb der Stadt. Es nehmen auch die „Geheimtipps“ zu – wenn in der Brandenburger Provinz (vulgo: Pampa) plötzlich ein sandiger oder noch kopfsteingepflasterter Weg von der Bundesstraße abzweigt und wie unverhofft zu einem gerade restaurierten Landschlösschen führt.
Mit eben noch stillem Park, in dem etwa wegen einer modernen Skulpturenausstellung sich zwischen Wiesen und Bäumen sowie im angrenzendem Gastgarten die Großstädter in verwunderten Scharen begegnen.
Flaneure im Geiste Fontanes, Tucholskys, Franz Hessels, die uns mit ihren Beschreibungen zu solchen Orten im Märkischen wie im Städtischen verführen, gibt es nicht eben zuhauf, doch immer mal wieder. Und einer ist der Berliner Dramaturg, Übersetzer, Biograf und Geistesgelehrte Klaus Völker.
Der zuletzt langjährige Rektor der Ernst-Busch-Theaterschule hat neben seinen umfänglicheren Büchern über Brecht, Boris Vian, Sean O’Casey, Max Hermann-Neiße, Fritz Kortner oder die Schauspielerin Elisabeth Bergner auch drei schmale Broschuren verfasst, die sich jeweils Dichtern und Künstlern in und mit ihren Wohnhäusern widmen.
So sind in der Reihe Frankfurter Buntbücher seit 2008 von Klaus Völker erschienen: Mephistos Landhaus. Klabund (1926) und Gründgens (1934–1946) in Zeesen; dann Johannes Bobrowski in Friedrichshagen 1949–1965 und in diesem Jahr Stephan Hermlin in Berlin-Niederschönhausen (1947–1997)“ (alle in der Schriftenreihe des Kleist-Museums Frankfurt/Oder, zwischen 24 und 32 Seiten, 8 Euro).
Die mit oft seltenen Fotos, Karten und Faksimiles schön illustrierten, hochformatigen Buntbücher bieten in Völkers überaus kenntnisreicher Manier neben der kurzgefassten Lebensgeschichte der Hausbesitzer und ihrer Mitbewohner Einblicke nicht nur in die benannten Orte.
Es entsteht jedes Mal auch ein pointiertes, biografisch fokussiertes Bild deutscher Kultur- und Zeithistorie. Wobei die Domizile der Poeten Johannes Bobrowski und Stephan Hermlin zumindest von außen jederzeit und das von einer Enkelin und ihrem Mann erworbene und sanierte Bobrowski-Haus nach Voranmeldung auch mit Blick in das ehemalige Arbeits- und Bibliothekszimmer noch zu besichtigen sind.
(…)
Ein Wurf ist das jüngste Buntbuch über Stephan Hermlin. Den als Rudolf Leder geborenen Schriftsteller, der als Jude und junger Kommunist über abenteuerliche Stationen der Emigration in Frankreich und der Schweiz nach 1945 erst nach Frankfurt/Main und dann nach Ost-Berlin zurückgekehrt war, hat Völker seit 1960 näher gekannt.
Zwischen linken Idealen, rotem „DDR-Adel“, langjähriger Nähe zu Honecker und dennoch kritischer Courage (etwa nach der Biermann-Ausbürgerung) war Hermlin ein schillernden Feingeist. Mit viel Sympathie porträtiert ihn Völker nun vor allem als Freigeist. Auch das ein Denk-Mal.
Peter von Becker, Tagesspiegel, 30.6.2020
Stephan Hermlin in der DDR:
„Der Zustand, in dem ich lebe, ist kein Zustand für Literatur“
– Ein „spätbürgerlicher“ Dichter in der DDR: Stephan Hermlins Jahre in Berlin-Niederschönhausen. –
Er lebte zwischen den Fronten. 1915 in Chemnitz geboren und aus einem wohlhabenden, bildungsbürgerlichen jüdischen Milieu stammend, näherte er sich schon in jungen Jahren der kommunistischen Bewegung, der er bis zu seinem Tod 1997 treu blieb. Stephan Hermlin (eigentlich Rudolf Leder) ging 1936 ins Exil – erst nach Palästina, dann nach Frankreich und in die Schweiz. Er schloss sich früh dem Widerstand an, behauptete (zu Unrecht), in Spanien gekämpft zu haben und arbeitete nach 1945 beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt. Schließlich wählte er 1947 Ostberlin zu seinem endgültigen Wohnsitz.
Hermlin zählte bald zu den wichtigsten und von seinem Staat mit vielen Preisen gekrönten Dichtern der DDR. Seine Erzählungen, Gedichte, Essays oder das autobiografisch grundierte Abendlicht (1979) wurden auch in der Bundesrepublik viel gelesen.
Über Hermlins ein halbes Jahrhundert währendes Leben in Berlin-Niederschönhausen erzählt in einer schmalen, sehr informativen, mit eindrucksvollen Bildern bereicherten und seinen „Helden“ überaus liebevoll zeichnenden Broschüre jetzt der Theater- und Literaturwissenschaftler Klaus Völker. Mehrfach hatte der in der Bundesrepublik lebende und arbeitende Völker den Dichter in seiner hübschen (gemieteten) Villa in der damaligen Kurt-Fischer-Straße 39 besucht und viele Jahre mit ihm korrespondiert. Er berichtet von einem Intellektuellen, der den Traum von einer gerechteren Welt nie verloren hat, von einem Schriftsteller, der seinen Staat verteidigte und doch auch immer wieder in wichtigen kulturpolitischen Fragen kritisierte.
Wilhelm v. Sternburg, Frankfurter Rundschau, 10.4.2020
Weiterer Beitrag zu diesem Buch:
Klaus Hammer: Vom dichtenden Pastor Schmidt von Werneuchen zum „dekadenten“ Sozialisten Stephan Hermlin
literaturkritik.de, Mai 2020
Fakten und Vermutungen zum Autor
In der Reihe „Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“ präsentierten Autoren je ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialiensammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel fand 1992 in der Literaturwerkstatt Berlin statt.
Hans Richter: Laudatio auf Stephan Hermlin, Sinn und Form, Heft 2, 1985
Klaus Werner: Stephan Hermlin und die literarische Tradition, Sinn und Form, Heft 2, 1975
Hanjo Kesting: Der Worte Wunden bluten heute nur nach innen. Der Lyriker Stephan Hermlin, Merkur, Heft 401, November 1981
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Stephan Hermlin
Gespräch & Interview: Stephan Hermlin und ein unbekannter Gesprächspartner. Sammlung „Verlag Klaus Wagenbach“: Tonkassetten 31 und 32 und Tonband 13.
Gespräch Alexander Reich mit Andrée Leusink über ihren Vater Stephan Hermlin:
Teil 1: „Ein beliebtes Wort war: Lies!“
Teil 2: „Auf einmal war er wie Stein“
Teil 3: „Klein beigeben wäre Verrat gewesen“
Peter Huchel | Stephan Hermlin Zeitzeugen des Jahrhunderts. Literarischer Salonabend im Haus Dacheröden, Erfurt mit Lutz Götze (Manuskript) und Franziska Bronnen (Lesung).
Fakten und Vermutungen zu Stephan Hermlin + Archiv + KLG + IMDb + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Autorenarchiv Susanne Schleyer + Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK + gettyimages + IMAGO + Keystone-SDA
Zum 75. Geburtstag von Stephan Hermlin: Sinn und Form 1 + 2 + 3
Nachrufe auf Stephan Hermlin: Der Spiegel ✝ Sinn und Form
Zum 100. Geburtstag von Stephan Hermlin: junge welt + der Freitag +
Kölner Stadt-Anzeiger
Zum 25. Todesstag von Stephan Hermlin: nd
„Welch eine Abendröte“ Stephan Hermlin – zum 100. Geburtstag eines spätbürgerlichen Kommunisten
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