SUZANNE
Suzanne nimmt dich mit zu ihrem Platz am Fluss
Du kannst die Boote vorbeifahren hören
Du kannst die Nacht an ihrer Seite verbringen
Und du weißt, dass sie halb verrückt ist
Aber deswegen willst du dort sein
Und sie reicht dir Tee und Orangen
Welche alle aus dem fernen China kommen
Und gerade, als du ihr sagen willst
Dass du ihr keine Liebe geben kannst
Bringt sie dich auf ihre Wellenlänge
Und sie lässt den Fluss antworten
Dass du immer schon ihr Liebhaber warst
Und du willst mit ihr auf die Reise gehen
Und du willst blind mit ihr gehen
Und du weißt, sie wird dir trauen
Denn du hast ihren perfekten Körper mit deinem Geist berührt.
Und Jesus war ein Seemann
Als er übers Wasser schritt
Und er schaute lange Zeit zu
Von seinem einsamen hölzernen Turm herab
Und als er sicher wusste
Dass nur Ertrinkende ihn sehen konnten
Sagte er „alle Männer werden Seeleute
bis das Meer sie befreien wird“
Aber selbst war er zerbrochen
Lange bevor sich der Himmel öffnen würde
Verdammt und beinah menschlich
Versank er in deiner Weisheit wie ein Stein
Und du willst mit ihm auf die Reise gehen
Und du willst blind mit ihm gehen
Und du denkst vielleicht, du wirst ihm trauen
Denn er hat deinen perfekten Körper mit seinem Geist berührt.
Jetzt nimmt Suzanne deine Hand
Und sie führt dich an den Fluss
Sie trägt Lumpen nur und Federn
Von der Heilsarmee erworben
Und die Sonne scheint herab wie Honig
Auf unsere Dame des Hafens
Und sie zeigt dir, wo du suchen sollst
Zwischen dem Müll dort und den Blumen
Es sind Helden hier im Seegras
Es sind Kinder hier am Morgen
Die versuchen Liebe zu finden
Und sie werden ewig danach suchen
Während Suzanne den Spiegel hält
Und du willst mit ihr auf die Reise gehen
Und du willst blind mit ihr gehen
Denn sie hat deinen perfekten Körper mit ihrem Geist berührt.
Die Welt ist ein Tango. Montreal. New York, Hydra, Paris, Los Angeles, Neu-Delhi, Berlin. Alles Stationen eines Lebens voller Lieder. Leidenschaftlich, heißblütig, brodelnd. Doch die Welt ist auch Blues, Jazz und Folkmusik. Melancholisch, beschwingt und populär. Die Welt ist Musik. Musik ist Kommunikation. Kommunikation ist Sprache. Sprache bedient sich des Wortes. Und manchmal ist das Wort wie Musik. Einige wissen mit Worten gar Bilder zu malen. Andere malen mit Farbe auf Leinwand, andere mit Kreide auf Steine und wiederum andere mit Worten auf Papier.
Einer der wenigen, die Bilder mit Worten zu malen verstehen, ist Leonard Cohen. Er ist in der Lage, Worte mit Leben zu füllen, Worte zu Musik werden zu lassen. Lieder mit Worten so zu singen, als seien sie Bilder, die zu betrachten sind. Worte, die ausreichen, ein ganzes Leben zu beschreiben. Worte, die, auch wenn sie ohne Musik auskommen müssen, noch immer klingen. Worte, die zu Bildern werden, ohne je gemalt oder besungen worden zu sein. Worte mit Leben. Worte, die klingen, auch ohne Ton. Worte, die zu Lebensliedern werden.
Songs of a Life – Lieder eines Lebens sind eine Ansammlung solcher Worte. Einer Galerie gleich, in der man Stunden und Tage damit verbringen kann, immer wieder auf dasselbe Bild zu starren, ohne dabei müde zu werden, Neues zu entdecken. Die Songs of a Life benötigen keine Musik, um gehört zu werden. Sie sind wie ein Gang durch ein Museum des Lebens.
Einer, der es vermag, Bilder zu malen, die in ihrer Gesamtheit einem Museum des Lebens gleichkommen, ist der aus dem kanadischen Montreal stammende Rockpoet Leonard Cohen. Viele kennen seinen Namen und nennen ihn stets im gleichen Atemzug mit Größen wie Bob Dylan, Lou Reed, Mick Jagger und Keith Richards oder John Lennon und Paul McCartney. Die, die seinen Namen nicht kennen, kennen zumindest seine Songs wie „Suzanne“, „Bird On The Wire“ oder „First We Take Manhattan“, die nicht selten von anderen Künstlern interpretiert und erfolgreicher wurden als das Original. Es waren Künstler wie Judy Collins (1967), Joe Cocker (1970 und 1999) oder Jennifer Warnes (1987), die seine berühmtesten Songs zu Welterfolgen machten, und die Zahl und Popularität der Interpreten und Coverversionen geht mittlerweile in die Hunderte.
In den achtziger und neunziger Jahren erlebte der Künstler, der seine Karriere in den sechziger Jahren zunächst als Schriftsteller begonnen hatte, eine wahre Renaissance. Nachdem ihn bis dahin vorwiegend Musiker aus derselben Popgeneration wie z.B. Kris Kristofferson, Nina Simone, Joan Baez oder die bereits erwähnten Judy Collins und Joe Cocker interpretierten, begannen nun auch jüngere Künstler der populären Musik dem Mann, den sie unter anderen als ihren musikalischen Wegbereiter oder zumindest ihr Idol nennen, Tribut zu zollen.
Zunächst leitete Cohens einstige Backgroundsängerin und Tourneebegleiterin Jennifer Warnes diese Renaissance ein. Nachdem Cohen Ende der siebziger Jahre, genauer gesagt, nach dem Recent Songs-Album aus dem Jahre 1979, immer längere Veröffentlichungspausen einzulegen pflegte, brachte Jennifer Warnes 1987 ein viel beachtetes Werk mit Coverversionen unter dem Titel Famous Blue Raincoat auf den Markt. Ihre Version von „First We Take Manhattan“, einem bis dahin neuen Cohen-Song, den der „Meister“ selbst erst ein Jahr später auf seinem eigenen Album I’m Your Man (1988) veröffentlichte, verhalf dem Album dazu, dass es sich weltweit etwa eine Million Mal verkaufte, in den USA Platz 8 in den Albumcharts erreichte, in England wochenlang in den Top Ten zu finden war und in Kanada Gold-Status erhielt. Mit einem Schlag war Leonard Cohen wie ein scheinbar vergessener Phönix aus der Asche aus der Versenkung aufgestiegen. Mit dem Kredit dieser Vorab-Promotion kam er mit seinem erst zweiten Album in den achtziger Jahren selbst auch noch einmal zu großen Ehren. I’m Your Man erhielt zahlreiche Auszeichnungen in den USA und England und wurde sogar mehrfach als „bestes Album des Jahres“ nominiert.
Und nicht nur Joe Cocker, der 1969 erstmals Cohens „Bird On The Wire“ interpretierte, versuchte sich mit „I’m Your Man“ erneut an einem Leonard-Cohen-Song. Auch viele andere Musikerkollegen zollten dem immer öfter als Rocklegende bezeichneten Künstler musikalischen Respekt. Bevor die „schwärzeste weiße Bluesröhre“ Joe Cocker sich mit „First We Take Manhattan“ (1999) zum dritten Mal sehr erfolgreich an einen Cohen-Titel wagte, waren es plötzlich nicht nur jüngere Künstler, sondern auch Künstler aus ganz anderen musikalischen Sparten, die Leonard Cohen ehrten.
Die bis dahin zu den avantgardistischen Independent-Rockern zählende US-Band R.E.M. versuchte sich mit einer weiteren Coverversion von „First We Take Manhattan“ ebenso wie der australische Singer/Songwriter Nick Cave mit „Tower Of Song“ an dem Cohen’schen Werk. Weitere sechzehn Künstler wie z.B. Ex Velvet-Underground-Violinen-Virtuose John Cale, Lloyd Cole oder die Band James beteiligten sich an dem I’Am Your Fan-Projekt (1991), dem bis dahin zweiten Tribute-To-Leonard-Cohen-Album.
Bereits vier Jahre später waren es nicht nur die Avantgardisten, sondern die Populisten wie z.B. Martin Gore von Depeche Mode, Bono Vox von U2, Peter Gabriel, Tori Amos oder Sting, die oft sehr eigenwillige, immer aber höchst hörenswerte Interpretationen von Cohens Songs of a Life offerierten. Während bei Famous Blue Raincoat eine einzige Künstlerin, bei I’m Your Fan Künstler aus dem alternativen Lager Leonard Cohen ihre Hommage erwiesen, begaben sich nun dreizehn vorwiegend hoch gelobte und zumeist selbst schon als „Legende“ geltende „Pop-Stars“ zum Aufstieg in Cohens „Tower Of Song“, und so lautet auch der Titel dieses dritten Tribute-Albums. War bei I’Am Your Fan das Ziel, den Kult um Leonard Cohen einer neuen und jüngeren Generation zugänglich zu machen, stand bei Tower Of Song die Popularisierung des Cohen’schen Liedgutes im Vordergrund. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass gerade die Interpretationen von Peter Gabriel, Elton John, Sting und Bono Vox so arrangiert sind, dass sie durchaus auch als Song-Auskopplung ihrer jeweils nächsten Alben durchgehen könnten. Die anderen auf dem Album vertretenen Künstler präsentieren einen „Cohen“ in sämtlichen erdenklichen Stilrichtungen vom Rock über Country- und Pop-Musik bis hin zum Folk. Ein Ziel war es, Cohen „mainstream-tauglich“ zu präsentieren. Ein anderes, dem damals 61-jährigen „musikalischen Gott von Kanada“, wie ihn The Globe And Mail in Toronto nannte, nicht nur Tribut zu zollen, sondern durch die Differenzierung auch ein breiteres Publikum zu erreichen.
Cohen selbst war „erschlagen“ vom Ergebnis. „Ich bin immer davon begeistert, was man aus meinen Songs macht. Und ich war schon von weniger Gelungenem begeistert, aber da war ich wirklich berührt davon, wie diese großartigen Künstler mit mir umgegangen sind.“ Die Künstler selbst hatten eher die Befürchtung, „nicht gut genug mit Cohens Songs umgehen zu können“, erfährt man z.B. von Billy Joel, der kein einziges Wort des Liedtextes verändern wollte, so beeindruckt war er von den Lyrics. Und Suzanne Vega weigerte sich, „Suzanne“ zu interpretieren. Sie könne kein Liebeslied für jemanden singen, der „Suzanne“ heißt. Von Phil Collins musste er sich gar eine Abfuhr gefallen lassen, hinter der allerdings eine charmante Geschichte steckt:
I asked him, and he declined. And I wrote him saying, „Would Beethoven decline Mozart’s invitation?“ He wrote back a lovely fax, saying „Beethoven must decline because Beethoven is going on tour with so-and-so…“ It was a very charming fax he sent me, and completely legitimate.
Im Zuge dieser erneuten Renaissance nahmen Publikum und Medien nicht nur Cohens Album The Future (1992) zum Anlass, seinen Weg „zurück in die Zukunft“ mehr als gewohnt zu feiern. Bevor The Future erschien und der Meister der Worte und Detailfetischist 1993 eine überall mit hervorragenden Kritiken bedachte Welttournee bestritt, war die Aufnahme in die Juno Hall Of Fame 1991 der Höhepunkt seiner vielen Ehrungen und Auszeichnungen. 1992 erhielt er nach 1970 in Halifax seine zweite Ehrendoktorwürde in Montreal, und 1993 feierte ihn die Juno Award-Jury erneut, dieses Mal für das Beste Video („Closing Time“) und als Bester männlicher Sänger des Jahres.
Cohen selbst tat das, was er am liebsten tat. Er zog sich zurück. „Nach der Welttournee und der Arbeit an dem bis dahin zweiten Live-Album Cohen In Concert (1994) hatte ich das Gefühl, wieder etwas Struktur in mein Leben bringen zu müssen“, erklärt er seinen Rückzug in sein zur zweiten Heimat gewordenes Zen-Kloster auf dem Mount Baldy, nahe Los Angeles. „Dort fand ich Zeit und Ruhe, um weiter zu mir finden zu können, um weitere Zen-Studien zu betreiben und um wieder arbeiten zu können.“
Während Cohen neun Jahre verstreichen ließ, bis er im Oktober 2001 seine zehn neuen Songs veröffentlichte, seinem Zen-Meister Roshi Sasaki huldigte und neue Zen-Studien in Indien bei Ramesh S. Balsekar betrieb, wurde der Kult um ihn nur größer. Über 700 Coverversionen von über 100 Interpreten stehen mittlerweile auf den Listen der Fans. Und nicht nur englischsprachige Künstler sind darunter. Zahlreiche skandinavische, polnische oder auch tschechische Musiker huldigten dem „Rockmönch“ mit Tribute-Alben in ihrer Landessprache. Aber auch der Mainstream ließ sich weiterhin von „El Cohen“ beeinflussen. Don Was von der US-amerikanischen Band Was Not Was lud Cohen 1990 dazu ein, bei dem Song „Elvis’ Rolls-Royce“ auf ihrem Album Are You Okay mitzusingen. Eurythmics-Chef Dave Stewart bat 1991 bei seinem Album On Fire um Mithilfe, und Elton John bestand darauf, auf seinem Album Duets die alte Ray-Charles-Nummer „Born To Loose“ zusammen mit dem Altmeister des Wortes zu intonieren.
Leonard Cohen war schon immer seiner Zeit voraus, was andere, insbesondere die Medien, zu spät erkannten. Jetzt scheint die Öffentlichkeit den Mann, für den Vergangenheit keine Bedeutung hat, einholen zu wollen und erkennt, dass es sehr schwer sein kann, einem Menschen, der in der Zukunft lebt, zu begegnen.
Was hat man dem „Berufsmelancholiker“ nicht schon übel nachgeredet. „Einsamer Mystiker“, „König der Schwermut“, „Schwarzer Romantiker“, „Barde der Einzimmerappartements“ oder „Soundtrack-Lieferant für Selbstmörder“ wurde er genannt. Und sogar seine eigene Plattenfirma bewarb „die pathologischen Töne“ Leonard Cohens mit der Slogan-Frage: „Hatten Sie je das Gefühl, Sie müssten Schluss machen?“ – Doch Cohen besaß weit mehr Lebenslust und Humor, als man ihm unterstellte. Und mit dem Klischee des Gentleman und in Melancholie verweilenden Dichters eroberte er mehr als nur die Herzen vieler Frauen. Der Kunstgriff, seinem Klischee eben nicht entrinnen zu wollen, sondern es im Gegenteil noch zu fördern, mischte Irrtum und Wahrheit zugleich und war letztendlich sein Erfolgsrezept. Jahrzehnt für Jahrzehnt eroberte er sich neue Anhänger. Zunächst die Intellektuellen, die seine Gedichtbände und Romane in den sechziger Jahren verschlangen. Dann, in den Siebzigern die Frauen, die sich von den meist von Liebe handelnden Liedern und Texten betören ließen; aber auch die Männer, die wiederum genau jene Lieder und Texte verwendeten, um ihre Frauen betören zu können, da sie selbst dazu – zumindest textlich und musikalisch – nicht in der Lage waren. Danach – in den achtziger Jahren – waren es diejenigen, die ihn einst verdammt hatten, die ihn nun lobten. In den Neunzigern wurde Leonard Cohen schließlich zu dem, was er eigentlich schon immer war: ein „elder statesman des Rock“. Und das Kuriose daran: Cohen scheint nicht nur das zu werden, was man sonst nur edlen Weinbränden nachsagt, nämlich besser, je älter er wird, nein, Cohen übt nach wie vor eine ungebrochene Faszination auf seine nicht weniger werdenden Anhänger aus. Selbst im Jahre 2001, als er sich aus seiner Zen-Versenkung zurückmeldete, stand er im Alter von 67 Jahren noch immer im Zeichen des „Lord Byron des Rock“, ein Klischee, das so spröde wie weitreichend zugleich ist. Kaum ein deutsches Medium, von Focus bis zum Spiegel kam an der Veröffentlichung eines Leonard-Cohen-Interviews vorbei, von Titelseiten ganz zu schweigen. Auch wenn noch immer einige Blätter über „die Stimme der Melancholie“ (Handelsblatt) „im Namen der Neurose“ (Stern) lamentierten, das Gros der Print- und Hörfunkmedien berichtete „durch den Filter des Herzens“ (Die Zeit), über „meditative Klanggemälde“ (Musikwoche) oder gar über „Sehnen und Süchte“ (Audio). Alle aber interessierte, was unter den neuen „vertonten Gedichten aus dem Zen-Kloster“ (Mannheimer Morgen) zu verstehen ist. Und alle sahen im Ergebnis der „neun Jahre Stille“ ein gelungenes „Spätwerk“ (Saarbrücker Zeitung). Fast schien es so, als hätte ihn die Gesellschaft eingeholt, wäre Leonard Cohen ihr nicht längst und wieder entronnen…
Sobald man erkannt hat, dass Leonard Cohen wieder einmal seiner Zeit voraus ist, ist man auf dem besten Weg, ihn zu verstehen. Doch die Ansätze zur Interpretation seiner Texte scheitern, wenn man sein schriftstellerisches und musikalisches Wirken nicht vor dem Hintergrund seines Lebens und den daraus resultierenden Gedanken beleuchtet. Und Leben bedeutet Wandel, Dynamik, Ablehnung alles Statischen.
Sehr viele meiner Lieder und Gedichte sind aus einer momentanen, reinen Gefühlsstimmung entstanden. Es ist wie mit einem Tagebuch, das man führt, um Gedanken und Assoziationen festzuhalten und sich so von ihnen zu befreien, anstatt sie zu verdrängen. Oft kann ich mich später nicht mehr an die jeweilige Situation, in der ein Gedicht entstanden ist, erinnern. Manche meiner Gedichte erscheinen dem Leser als zusammenhanglos – mir auch. Denn das Niedergeschriebene verliert seinen Zusammenhang ab dem Moment, in dem es niedergeschrieben ist, und ich weiß nicht mehr, was ich damit ausdrücken wollte. Ich glaube, dass die Leute, die meine Gedichte später lesen, ihre eigenen Konflikte hineininterpretieren, und so sehen sie ihre ureigensten Probleme in meinen Gedichten artikuliert. Sie erkennen in mir den gequälten, zwiespältigen Menschen wieder, der vielleicht auch in ihnen steckt. Vielleicht ist das das Geheimnis meines Erfolgs.
„Ich habe keine Pläne, keine Strategie“, sagt Cohen, auf den tieferen Sinn seiner Lieder angesprochen, und bietet eine einfache Erklärung für diejenigen, denen seine Musik mehr am Herzen liegt als eine tiefere Sinndeutung:
Ein Lied baut sich langsam im Herzen auf, zunächst bedeutet es noch nicht viel. Es braucht seine Zeit; um heranzuwachsen. Dann versucht man es zu singen und herauszufinden, was es bedeutet. Lieder handeln nicht von besonders vielen Dingen, die meisten handeln nur von dem einen: der Suche nach Liebe, dem Liebesabenteuer und dem Liebesschmerz. Es ist wie im Leben. Nach dem Sinn meiner Lieder habe ich nie gefragt. Ich habe sie für mich selbst geschrieben. Ich weiß nicht, ob ich das je gewusst oder gewollt habe, aber ich weiß, dass es eine Menge guten Willen auf der Welt gibt und Leute, die versuchen, die Dinge im positiven Sinne zu verändern. Das ist auch der Grund, warum es auf dieser Welt nicht ganz so schlimm zugeht; es gibt Menschen, die unbeirrt ihre Arbeit machen und zeigen, dass es auch anders geht.
Der am 21. September 1934 im kanadischen Montreal als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt gekommene Rockpoet hat genau diese Ablehnung des Statischen kultiviert. Sechs Wohnsitze auf zwei Kontinenten. Orte wie Montreal, New York, London, Hydra, Paris, Los Angeles und längere Zen-Studienaufenthalte in Indien (Ende der neunziger Jahre) stehen nicht nur für Cohens kosmopolitische Grundhaltung. Cohen wollte noch nie Bindungen. „Ich liebe die Idee des unbeschriebenen Blattes, ich liebe die Idee, es mit Leere zu füllen, ich liebe die Idee der Suchenden“. Ein Credo, das sich beruflich wie auch privat wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben zieht. Vielleicht auch ein Credo, das darauf beruht, früh Bindungen verloren zu haben, aber auch wohl behütet in eine statische Umgebung hineingeboren worden zu sein.
Cohens Vorfahren kamen im Zuge der großen Einwanderungswelle europäischer Juden 1869 nach Kanada. Sein Vater Nathan B. Cohen war ein strenger und gläubiger Geschäftsmann in der Textilbranche. Er starb, als Leonard neun Jahre alt war. Aufgrund des frühen Todes seines Vaters stand Leonard seiner Mutter Masha Cohen sehr nahe. Sie ließ ihm und seiner vier Jahre älteren Schwester Esther große Freiheiten. Nur so war es möglich, dass Leonard, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, der eine Kaufmannskarriere für seinen Sohn angestrebt hatte, seine bereits früh erkennbare künstlerische Kreativität entfalten konnte. Mit fünfzehn Jahren nahm er Klavierunterricht, und von einem in Montreal lebenden Spanier lernte er seine ersten Gitarrengriffe. „Meine erste Gitarre habe ich für 12 Dollar in Montreal erstanden. Damals gab es noch keine Gitarrenkultur. Das Einzige, was man darüber wusste, war, dass nur Kommunisten Gitarre spielten“, erzählt Cohen etwas spöttisch über die Ignoranz in den frühen fünfziger Jahren. „Im Park hinter dem Haus meiner Mutter hing oft ein spanischer Flamenco-Gitarrist herum. Er war einsam und spielte fantastisch. Ich bat ihn um Unterrichtsstunden“, erinnert sich Cohen, „und er brachte mir Tremolos, Flamenco-Akkorde und die Kombination von Dur und Moll bei. Er lehrte mich die Grundlagen des Komponierens. Die Leute denken, ich würde nur drei Akkorde beherrschen; in Wahrheit kenne ich fünf“, schmunzelt Cohen.
Genau auf jenen fünf Akkorden beruhen nämlich auch Stücke wie „Suzanne“, „Stranger Song“ oder „Master Song“. Leonards damaliges musikalisches Engagement gipfelte schließlich in der Gründung seiner ersten Band, The Buckskin Boys, ein Trio, das vorwiegend in Jugendlagern Countrymusik spielte.
Zu Beginn der fünfziger Jahre steckte die Popmusik noch in den Kinderschuhen; nach der großen Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen begannen sich Blues, Jazz, Gospel, Country Music und Folksongs als Basis für sie herauszukristallisieren. Vor allem vom Rhythm & Blues und von der Countrymusik, den wichtigsten Vorläufern des Mitte der fünfziger Jahre aufkommenden Rock ’n’ Roll ließ sich Cohen inspirieren. Noch heute nennt Cohen Ray Charles, Hank Williams, aber auch Jazz und klassische Musik als seine Inspirationsquellen.
Die aus vielen Stilen entstandene Popmusik nimmt eine ähnliche Stellung ein wie die Malerei des 19. Jahrhunderts von Picasso und Matisse. Deren Arbeiten hat man anfangs auch nicht geschätzt, heute will man sie nicht mehr missen. Es waren einfach neue Ausdrucksformen. Ich denke dabei nicht an Zwölftonmusik oder atonale Musik, selbst das wäre noch 19. Jahrhundert. Ich meine die Einstellung, mit der eine neue Geschichte erzählt, eine Vision entwickelt wurde, erklärt Cohen.
Zum einen geprägt von seiner elterlichen Religion und der jüdischen Erziehung, zum anderen fasziniert von den aus der Religion ableitbaren Mythen und der Freude an Musik war es auch die Literatur, die Cohen früh berührte und zur Triebfeder seines späteren Schaffens wurde.
Ein Buch von Federico García Lorca war daran schuld, dass ich meine Weltanschauung enorm veränderte. Seine surrealen Schriften, geprägt von transzendentaler Romantik – Romantiker waren zu der Zeit schließlich alle –, haben mein Tun und Denken auf die radikalste Weise beeinflusst. Seine Bücher machten mir deutlich, dass Poesie jungfräulich und tiefgründig und zugleich volkstümlich sein kann.
Mit 17 Jahren schrieb sich Leonard Cohen an der McGill University in Montreal ein und belegte Fächer wie Englische Literatur, Jura und Wirtschaft ebenso wie „creative writing“-Kurse. Letztere verhalfen ihm zu zahlreichen Lesungen in den zu der Zeit in Montreal wie Pilze aus dem Boden schießenden Kaffeehäusern. Im Frühjahr 1956 erschien sein erster Gedichtband Let Us Compare Mythologies. Dabei griff er gern auf die surrealistische Bildsprache zurück, die er durch Lorcas Schriften kennengelernt hatte.
Viele von Cohens Gedichten wiesen damals schon eine Liedstruktur auf. „Ich war schon immer an der Art von Sprache interessiert, die sich gut mit Musik vereinen ließ. Ich trennte Musik und Text kaum. Schrieb ich einen Text, hörte ich stets die dazu passende Musik im Hintergrund, ohne auch nur eine Note dazu komponiert zu haben“, erklärt er diese Symbiose, die er stets sucht. Und ähnlich wie der walisische Dichter Dylan Thomas, an dessen Werk und Namen sich auch der junge Robert Zimmermann alias Bob Dylan orientierte, entwickelte Cohen eine eigene assoziative Bildsprache, zu der er auch in seinen späteren Werken immer wieder zurückkehrte.
Zwischenzeitlich pendelte Cohen zwischen Montreal und New York. Ein Stipendium verhalf ihm zu einem Aufenthalt in London. Doch dort war es ihm zu kalt, und eine Werbeanzeige in einem englischen Reisebüro brachte ihn dazu, 1960 nach Griechenland zu reisen. Die dortige Lebensart der Menschen, die von Geschichte, Kunst und Religion geprägt war, aber vor allem die auf den Inseln aufkommenden Künstlerkolonien bestätigten Cohen darin, sich auf Hydra für längere Zeit niederzulassen. Seine erste Liebe zu der Norwegerin Marianne Jensen ließ fast ein ganzes Jahrzehnt sowie eine stete Wiederkehr daraus werden.
Auf Hydra entstand Leonard Cohens zweiter Gedichtband The Spice-Box Of Earth. Kurz darauf unternahm er eine Reise nach Kuba, „weil ihn angesichts der bevorstehenden US-Invasion in die Schweinebucht eine ,ungeheure Sehnsucht nach Gewalt‘ überkam“. Er traf Künstler und Schriftsteller, diskutierte über Freiheit und Unterdrückung – und genoss vor allem das bunte Nachtleben von Havanna. Einige Tage nach der Invasion gelang ihm unter einigen Schwierigkeiten die Ausreise. Nach dieser doch eher passiv verlaufenen Erfahrung kehrte er nach Hydra zurück, um sich dort von seinen ersten Einnahmen ein kleines Häuschen zu kaufen, das noch immer in seinem Besitz ist und zu dem er im Jahre 2000 zum letzten Mal reiste, um alte Manuskripte für sein aktuelles Album aufzuarbeiten.
1963 erschien Leonard Cohens erster Roman mit dem Titel The Favourite Game, der letztendlich eine autobiographische Suche, aber auch eine Suche der Jugend nach Zielen zum Inhalt hatte. Zu seinem Debüt und Durchbruch als Singer/Songwriter 1968 veröffentlichte Cohen mit Flowers For Hitler (1964), Parasites Of Heaven (1966), Selected Poems (1968) noch drei weitere Gedichtbände und den Roman Beautiful Losers (1966). Alle Werke erhielten in Kanada Auszeichnungen und Preise, und einige wurden in mehrere europäische Sprachen übersetzt.
Ein Teil dieser Gedichte, insbesondere aus Flowers For Hitler, hielten später auf Cohens erstem Album Songs Of Leonard Cohen (1968) Einzug. Darunter auch sein wohl bekanntester Song „Suzanne“, der im Original „Suzanne Takes You Down“ hieß, und an dem er dann über ein Vierteljahrhundert keine Rechte mehr besaß. Erst Anfang der neunziger Jahre kaufte Cohen die zuvor schon fast verschlissenen Nutzungsrechte an „Suzanne“ zurück. Auch „Teachers“ und „One Of Us Cannot Be Wrong“ dienten als Grundlage für Lieder auf seinem ersten Album. Auf „The Old Revolution“ und „Queen Victoria“, ebenfalls Gedichttexte aus Flowers For Hitler, griff Cohen für sein Folgealbum Songs From A Room zurück. „Queen Victoria“ fand Eingang auf seinem ersten Livealbum Live Songs (1973). Den schlicht und einfach „Poem“ (Gedicht) betitelten Text zitierte er nicht selten in seinen Live-Konzerten:
I heard of a man
who says words so beautifully
that if he only speaks their name
women give themselves to him.
If I am dumb beside your body
While silence blossoms like tumors on our lips
It is because I hear a man climb stairs
And clear his throast outside our door.
Literaturwissenschaftlich wird Cohen als Vertreter der amerikanischen Gegenkultur gesehen; sozialwissenschaftlich betrachtet, greift Cohen die Theorie der Subversivität im Sinne Herbert Marcuses auf. Dabei ist Cohens Subversivität fast zeitlos, da sie unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform grundsätzlich alles Bestehende infrage stellt, umstürzlerisch wirkt und damit einen Teil der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft widerspiegelt. Das Subversive daran spiegelt sich zudem in der Erinnerung an das Glück und die in ihm enthaltene Hoffnung. Hoffnung, das Glück wieder zu finden, auch wenn dies den Preis des Leidens enthält. Schon in den frühen sechziger Jahren, lange bevor er mit der Vertonung seiner Gedichte begann, versuchte er in geschriebenem oder erlebtem Leiden sein Ich zu erfahren. Schon hier sind auch erste Spuren für seine späteren Zen-Studien auszumachen. Was andere schon damals als Cohens typische Melancholie ansahen, offenbarte nichts anderes als die Ohnmacht des Individuums gegenüber der Gesellschaft. Cohen selbst sah darin eine Lösungsperspektive. Gleichzeitige Ablehnung von und Festhalten an Werten, Traditionen und Strukturen, aus denen er geradezu ritualhaft Neues, wenn auch nur in sprachlichen Bildern, zu schaffen pflegte.
In „Suzanne“ illustriert Leonard Cohen dieses Konzept von Weltablehnung, Ich-Vernichtung und sexueller Transzendenz, indem er seine mythenhafte Idee einer Verschmelzung von Außen und Innen, Körper und Geist, Realität und Surrealität anhand einer konkreten Situation nachvollziehbar macht. Der Leidensaspekt ist stets unverkennbar („… he himself was broken…“). Der Leidensaspekt kommt z.B. auch in nicht zu Liedern gewordenen Texten wie etwa in „One Of The Nights I Didn’t Kill Myself“ zum Tragen, wenn er schreibt:
I am the lost sweet singer whose death
in the fog your new high-heeled boots
have ground into cigarette butts
An anderer Stelle, im 1972 erschienenen Gedichtband The Energy Of Slaves, heißt es:
They locked up a man
who wanted to rule the world
the fools
they locked up the wrong man
Die wahre Geschichte von „Suzanne“ ist die von Suzanne Vaillancourt, Tänzerin und Frau des Montrealer Bildhauers Armand Vaillancourt, deren „makellosen Körper“ Leonard Cohen tatsächlich nur mit seinem „Geist“ berührt hat. Die Geschichte von Suzanne Elrod, Cohens langjähriger Weggefährtin bis Ende der siebziger Jahre und Mutter seiner beiden Kinder Adam und Lorca, ist eine andere, über die Cohen nie viel Worte verlor. Immer wieder von Hydra zurückkehrend, pendelte Cohen weiterhin zwischen Montreal und New York. In der lebendigsten Stadt der Welt wohnte er im berühmten Chelsea Hotel, Manhattan, 23. Straße, Room Number 222. Ein Ort, wo auch all jene unterkamen, die später zu Legenden der Popgeschichte werden sollten: Janis Joplin, Joan Baez, Bob Dylan oder The Velvet Underground, inklusive deren späterer Sängerin Nico, in die sich Leonard Cohen heimlich verliebte.
Mit der allmählich in Mode kommenden Popmusik und den vielen Musikern, die in kleinen Bars, Cafés und Bistros auftraten, wurde der Nährboden für Cohens Wandel vom Literaten zum Songpoeten vorbereitet. Nachdem Bob Dylan bereits die Folkmusik revolutioniert hatte, waren es Joan Baez und vor allem Judy Collins, die Leonard Cohen den musikalischen Weg ebneten. Ihr sang er einige seiner Texte in deren Wohnzimmer vor. „Weißt du, wenn du wieder einmal etwas geschrieben hast, ruf mich an“, ermunterte sie den damals bereits 32-jährigen Kanadier. Als er „Suzanne“ fertig hatte, rief er an und Judy Collins nahm den Song mit auf ihr Album In My Life. Sein öffentlicher Durchbruch jedoch kam mit seinem ersten größeren Konzertauftritt am 16. Juli 1967 beim Newport Folk Festival. Das Publikum, das Cohen bereits vor dem Auftritt bejubelte, brach nach seinem Konzert in Beifallsstürme aus. John Hammond, Talentsucher von Columbia Records, sah in Cohen einen zweiten Dylan. „Wenn aus einem Sänger, wie in Dylans Fall, ein Dichter werden kann, warum soll aus einem Dichter, wie in Cohens Fall, kein Sänger werden können“, philosophierte der Mann, der auch Count Basie, Bruce Springsteen und Patti Smith unter Vertrag nahm.
Cohen sah sein erstes Album The Songs Of Leonard Cohen zunächst nur als ein Abenteuer an, um sein kärgliches Auskommen als Schriftsteller aufzubessern. Schon auf Kuba wurde klar, Cohen war kein politischer Mensch. Philosophie, Religionen, das eigene Ich, Leidenschaft, Leben, Kultur und Frauen waren seine Themen. Und Letztere wusste er dank einer eindringlich betörend wirkenden Stimme voll von romantischer Tristesse zu faszinieren, mit leicht ins Ohr gehenden Melodien und Texten mit Worten, die kein anderer so schön zu sagen weiß. „Ein gutes Lied schreibe ich für eine Frau, die es in Empfang nimmt, aber auch für einen Mann, der es verwendet“, erklärt Cohen seine so bekannt gewordenen Liebeslieder. Allein vier Songs des Debütalbums handeln von Frauen: „Suzanne“, „So Long, Marianne“, „Winter Lady“ und „Sisters Of Mercy“.
Dennoch empfand Cohen tiefe Einsamkeit. Um dieser zu entkommen, nahm er Drogen. War es auf Hydra lediglich schick, hin und wieder Haschisch zu rauchen, konnte er in New York nicht mehr davon lassen. Seine Zimmernachbarn schienen sich geradezu von Speed und LSD zu ernähren. „Abheben, um spirituelle Energie freisetzen zu können, das war das Alibi“, gibt Cohen Jahre später zu. „Es gab sogar Zeiten, in denen Drogen für mich etwas Alltägliches darstellten, wenn sie nur dazu beitrugen, spirituelle Höhenflüge zu garantieren.“ – Um von den Drogen loszukommen, wechselte er ständig die Hotels.
Im April 1969 erschien das zweite Album; die Rückseite des Covers zeigt seine damalige Lebensgefährtin Marianne. Das Album, das in Großbritannien Platz 5 der Albumcharts erreichte, enthielt mit „Bird On The Wire“ seinen zweiten großen Hit. Was die Texte anging, hatte sich nicht viel verändert, bis auf die Tatsache, dass außer in „Seems So Long Ago, Nancy“, die Frauen nicht mehr beim Namen genannt wurden.
Während der Plattenaufnahmen in Nashville lebte er bereits mit der späteren Mutter seiner Kinder, Suzanne, zusammen. Zur selben Zeit lernte Cohen auf einer Kalifornienreise den Zen-Mönch Roshi Joshu Sasaki kennen, der sein Kloster in Japan verlassen hatte, um in den Vereinigten Staaten die Lehren des Buddhismus zu verbreiten. Cohen war dafür sehr empfänglich und quartierte sich erstmals 1968 für einen Monat in Roshis Kloster auf dem Mount Baldy nahe Los Angeles für erste Zen-Studien ein. Die Selbsterfahrung sah ihre Fortsetzung in der Ergänzung fernöstlicher Riten und Lehren.
Das Jahr 1970 führte Cohen zum ersten Mal als Musiker nach Europa, das bereits sehnsüchtig auf seine baudelairesche Drogenpoesie in Reinform wartete. Die erste Tournee wurde zum Großerfolg. Man feierte Cohen als zweiten Dylan, als Vermittler eines neuen Freiheitsgefühls, als Verfasser romantischer Texte und Identifikationsobjekt junger Intellektueller zugleich. Sein legendärer Auftritt am 31. August 1970 beim Isle-of-Wight-Festival ging in die Rockgeschichte ein. 600.000 Besucher machten dieses fünftägige Be-In von Musikfans zum europäischen Woodstock. Und Leonard Cohen war die dazugehörige Gallionsfigur.
Im März 1971 erschien mit Songs Of Love And Hate das dritte Album, mit dem wohl meistinterpretierten Song „Famous Blue Raincoat“. Dieser Song drückt in den drei Strophen all das aus, wofür Cohen bis dahin drei Alben und sieben Bücher benötigt hatte; er stellt ebenso wie der Roman The Favourite Game eine Schlüsselposition im Gesamtwerk dar. „Famous Blue Raincoat“ beschreibt eine Wanderung zwischen zwei Welten und ist ein Lied voller Rätsel und Bilder; eine Vorgehensweise, die auch noch in späteren Werken erkennbar ist.
1972 trat Leonard Cohen seine zweite große Europatournee an, die als Basis für das im Jahr darauf erscheinende erste offizielle Live-Album Live Songs dienen sollte. 1973, kurz vor Ausbruch des Yom-Kippur-Krieges zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, fügte er seiner Konzertreise mehrere Konzerte auf diversen israelischen Militärbasen hinzu, um seine einstige „Flucht“ aus der Schweinebucht etwas zu „rehabilitieren“. Doch ein wirklich politisches Engagement sollten auch diese Konzerte nicht darstellen.
Anfang der siebziger Jahre zog es ihn immer wieder nach Montreal zurück. Hierher lud er auch Bob Dylan für einige Wochen ein. Dylan, damals noch nicht im Klaren, ob er eine pro-arabische oder eher eine pro-israelische Position einnehmen sollte, war fasziniert von Cohens Auffassung, „dass das Christentum der missionarische Arm des Judentums sei“. Eine Auffassung, die für beide Songwriter Ausgangspunkt für zahlreiche Gespräche und neue Lieder werden sollte.
Im August 1974 erschien das neue Album New Skin For An Old Ceremony. Zuvor kam Cohens Musik-Tournee-Dokumentation Bird On The Wire in die Kinos. Kritiker lobten Cohens „neue Verständlichkeit“, die Abkehr von seiner für ihn bis dahin charakteristischen Melodramatik und ein poporientierteres Vorgehen. Nicht nur in Deutschland hatte Cohen mit „Lover Lover Lover“ einen Top-Ten-Hit. Doch Nordamerika war für ihn stets schwieriger zu erobern. Ein Phänomen, das übrigens auch bei Charles Bukowski oder Frank Zappa auftrat. Deren Kunst war ebenso wie die Cohens stets voll immenser Intensität und Authentizität. Eine Kombination, die das europäische Publikum bis heute besser honoriert als das amerikanische. Bis heute gab es zum Beispiel keine Europatournee Cohens, die nicht ausverkauft gewesen ist.
Nach seiner Welttournee 1975/1976 zog Cohen wieder nach Hydra, um dort sein Buch Death Of A Lady’s Man zu beenden und Vorbereitungen für das (fast) gleichnamige und zeitgleich erscheinende Album Death Of A Ladies’ Man zu treffen. Sowohl Buch als auch Album sollten für Jahre das wohl Autobiographischste sein, was Cohen je veröffentlicht hatte. „Nirgendwo sonst sind meine Bilder so expressiv. Es ist zwar noch immer viel Bitterkeit, Negierendes und die Enttäuschungen aus der Erfahrung der vergangenen Jahre enthalten, aber noch nie habe ich so offen darüber geschrieben“, sagt Cohen. Cohen kehrt in diesem Doppelwerk so manches um. Die Frau ist plötzlich Chauvinistin, dominiert und bedient sich des Mannes. Death Of A Ladies’ Man enthält die Essenz aus seinem Privatleben, das durch Spannungen mit seiner Lebensgefährtin Suzanne und den Tod seiner Mutter geprägt war. Das Album, aufgrund der Produzententätigkeit Phil Spectors zumindest musikalisch Cohens untypischstes, wurde von seinen Anhängern kontrovers aufgenommen. Für die einen stellt es Cohens Meisterwerk, für die anderen ein nicht nachvollziehbares Kunstwerk der eher zu vernachlässigenden Art dar. Und dennoch, Cohen, der nach Abschluss dieser Arbeiten für längere Zeit in Roshis Zen-Zentrum verschwand, sprach deutlicher als je zuvor, teils sogar mit Hilfe recht brutaler und harter Bilder.
Ihre Brüste sind mit Nägeln
An ein schwarzes Brett geschlagen
In Ihrer Fotze steckt eine Zigarre…
… Darf ich ihr dienen
Beiderseits des Grabes
Wenn ich nicht ihr Diener bin
Werde ich Sklave einer anderen sein
schreibt er im Buch, „Don’t Go Home With Your Hard-On“ („Geh nicht mit ’nem Ständer nach Hause“) singt er auf dem Album. Phil Spector tat mit ausgefallenen und für Cohens Melodien untypischen Arrangements das Seinige zu dem „Ungewohnten“ dazu. Spector lenkte durch seine „Soundexperimente“ einfach zu sehr von Cohens Texten ab, was Cohen selbst damals „als Katastrophe“ bezeichnete.
Cohen suchte nunmehr nicht nur die Theorie des Zen nachzuempfinden, sondern auch sein praktisches Leben danach auszurichten. Mit der Erkenntnis, Ballast der Vergangenheit abzuwerfen, begann er die Arbeiten am Album Recent Songs, das kurz vor seiner Welttournee 1979/1980 erschien. Credo des Albums: Der Poet hat seine Trauer überwunden und erkannt, dass es neben der körperlichen noch andere Formen der Liebe gibt. Sein Konzertieren unterwarf er jedoch einem Wandel. Alte Gewohnheiten wurden mit neuen kombiniert: Der mittlerweile 45-jährige Cohen sang rauer und trug kaum noch Gedichte in seinen Konzerten vor, trat dafür aber in Lederjacke auf und führte seine The Army betitelte Begleitband wie ein „Field Commander“ nicht nur durch mehrere Länder und Kontinente, sondern auch durch verschiedene Musikstile wie Jazz, Rock, Blues und Country Music. Schließlich variierte er alte und neue Songs, indem er nicht nur die instrumentalen Arrangements und seinen Gesangsvortrag, sondern auch einzelne Worte und Zeilen änderte oder gar ganze Strophen durch neue ersetzte. Dieses Konzept hat Cohen bis zu seiner bislang letzten Tournee von 1993 beibehalten.
Nach einer für Cohen bis dahin ungewohnten Zeit der Zurückgezogenheit von nahezu vier Jahren erschien 1984 das lang erwartete Album Various Positions, übrigens Cohens Lieblingsalbum. Doch Cohen saß in den vier Jahren zuvor nicht untätig herum. Er arbeitete zum einem an einem neuen Buch, dem Book Of Mercy, das er als „sein Gebetbuch“ bezeichnete, und realisierte das Video-Filmprojekt I’m a Hotel, das fünf seiner Lieder dort in Szene setzte, wo sich Cohen schon immer gern aufgehalten hatte: in Hotels.
Ein Hotel ist erst dann ein gutes Hotel, wenn ich morgens um vier Uhr mit fünf Frauen und drei Bären durch die Eingangshalle schreiten kann und keiner Notiz davon nimmt.
Nebenbei lieferte Cohen auch die Texte für ein Musical- und Soundtrack-Projekt namens Night Magic seines Montrealer Freundes Lewis Furey. Insbesondere die Textgrundlagen für Night Magic lassen Cohens Arbeitsweise erkennen. „Hunter’s Lullaby“ und „Coming Back To You“ erschienen nach der Verwendung für Night Magic auch als Lied auf Various Positions. Der Schlusstitel des als Rockoper bezeichneten Musicals The Beils basiert auf Cohens Lied „Take This Longing“ (1974) und hat später mit teils erneut abgewandelten Zeilen unter dem Titel „Anthem“ auch Eingang in das 1992 veröffentlichte Album The Future gefunden. Wieder und wieder greift er ältere Strophen und Zeilen auf, um an ihnen zu arbeiten. So ist es auch zu erklären, dass insbesondere bei Live-Konzerten andere Texte zu entdecken sind als die, die man von den Alben her kennt. Berühmteste Beispiele hierfür sind die Songs „Chelsea Hotel“, „Hallelujah“ oder „The Democracy“. Optisch gab sich der bereits in den achtziger Jahren zum „elder statesman“ gereifte Rockpoet in schwarzem Anzug, Hemd und Krawatte sehr seriös. Musikalisch war er nun country-und-western-orientierter denn je.
Wieder einmal zeigte sich Cohens größere Akzeptanz in Europa. Hier hatte er mit „Dance Me To The End Of Love“ immerhin einen mittelmäßigen Charterfolg, in den USA wollte seine Plattenfirma Various Positions zunächst gar nicht veröffentlichen. Die darauf folgende Welttournee mit 76 Konzerten wurde dagegen auch in den USA als zweites Comeback gefeiert.
Zum dritten Mal gelang ihm ein Comeback, als er nach Jennifer Warnes’ Vorarbeit 1988 mit dem fulminanten Pop-Werk „I’m Your Fan“ aufwartete und eine weitere, noch erfolgreichere Welttournee absolvierte.
Charakteristisch blieb seine bilderreiche Sprache. Andererseits fand der Rockpoet, mittlerweile mit der französischen Modefotografin Dominique Isserman liiert, zu einem neuen Selbstverständnis:
Well my friends are gone and my hair is grey
I ache in the places where I used to play
And l’m crazy for love but I’m not coming on
I’m just paying my rent everyday in the tower of song…
I was born like this, I had no choice
I was born with the gift of a golden voice
(„Tower of Song“).
Auch sein Selbstverständnis als „Lover“ hatte er mit Mitte 50 erneuert:
If you want a lover
I’ll do anything you ask me to
And if you want another kind of love
I’ll wear a mask for you
singt er in „I’m Your Man“. Ein Selbstverständnis, das vielleicht auch aus der etwa drei Jahre anhaltenden Partnerschaft mit der Schauspielerin Rebecca DeMornay („Die Hand an der Wiege“) Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre entstanden ist.
Es vergingen fast weitere fünf Jahre, bis sich Leonard Cohen Ende 19921 Anfang 1993 mit dem Buch Stranger Music – Selected Poems And Songs und dem neuen Album The Future und der wiederum sehr erfolgreichen Welttournee zurückmeldete. Mit Songs wie „Democracy“ oder dem Titelsong malte Cohen plötzlich wieder düstere Zukunftsbilder, bei geradezu beschwingter Begleitmusik, womit Cohens politischstes Album entstand. Textzeilen wie „give me back the Berlin Wall“ oder „give me crack and anal sex“ ließ er schließlich den Schluss folgen: „I’ve seen the future, brother: It is murder“.
Neun Jahre vergingen, bis Leonard Cohen im Herbst 2001 seine ersten zehn neuen Lieder (Ten New Songs) nach mehr als fünfjähriger konstanter Zurückgezogenheit in Roshis Zen-Zentrum auf den Markt brachte. Unzählige mehr oder weniger inoffizielle Greatest Hits- oder Best Of-Kompilationen, ein Live-Album, das die Welttourneen von 1988 und 1993 dokumentierte, sowie die Fortsetzungsvariante seines 1975 erschienenen Best Of-Albums als More Best Of-Album mit zwei bisher unveröffentlichten Songs darauf sollten den Fans die Zeit verkürzen.
Um sich auf dem immer schnelllebigeren Musikmarkt in Erinnerung zu bringen, war die Veröffentlichung des Live-Albums Field Commander Cohen – Tour of 1979 ein gelungener Schachzug, der sein bis dato viertes Comeback einleitete.
Den „Rockpoeten der Postmoderne“ zieht es regelmäßig zu neuen Studien nach Bombay/Indien, wo er weitere Lehren und Erkenntnisse über das Sein und das Ich zu finden hofft. Das bereits seit Jahren angekündigte neue poetische Werk The Book Of Longing blieb Leonard Cohen bislang noch schuldig.
Berlin, 5. Juli 2001. Nur zwei Wochen zuvor verwandelte Pop-Göttin Madonna die Stadt in einen Hexenkessel. Jetzt herrscht in der Stadt erneut eine mörderische Hitze. 34 Grad im Schatten. In der Luxusherberge Four Seasons umgibt einen dagegen angenehme Kühle. In der Suite Leonard Cohens atmosphärische Dichte. Cohen wirkt wie immer wie ein Gentleman. Begrüßt mich herzlich und mit einer Verbeugung bei zusammengefalteten Händen, die an jene der Zen-Mönche erinnert. Man freut sich über das Wiedersehen, man plaudert, tauscht sich aus, auch Geschenke. Doch das größte Geschenk ist, sich mit diesem Mann unterhalten zu dürfen. Er strahlt Ruhe aus und ist eine Quelle wohl akzentuierter Worte. Man lässt sich Zeit, um ein Gespräch aufzubauen, um zu sich zu finden. Man trinkt Kaffee, raucht, lacht und freut sich über die Tatsache, interessierten Menschen zu begegnen. Wieder einmal nimmt ein langes Gespräch, das auf vorherigen aufbaut, seinen Lauf.
„Die neuen Texte beziehen sich nicht auf Zen, resultieren aber auf Meditationsphasen. Viele Texte haben einen sehr aktuellen Bezug“, relativiert Cohen die intensive Klosterzeit zwischen 1994 und 1999. Seine Faszination für Zen basiert dabei nicht auf dem aktuellen Trend: „Zen ist zu schwierig, um einfach nur ,in‘ zu sein“, belächelt er die besonders in Hollywood populär gewordene Religion.
Derzeit ist Leonard Cohen wieder stark beschäftigt. Die Rocklegende, die am 21. September 2002 68 Jahre alt wird, verließ. 1999 das Kloster, jedoch nicht, ohne immer wieder einmal zu seiner Zen-Gemeinde zurückzukehren. Ja, er intensivierte sogar seine Studien in Bombay, wo er die Vorträge des indischen Schriftstellers Ramesh S. Balsekar, einem Roshi sehr ähnlichen Zen-Spezialisten, aufsuchte. Nach mehrmonatigen Aufenthalten in Indien suchte Cohen im letzten Jahr zum ersten Mal seit zehn Jahren auch wieder sein Haus auf der griechischen Insel Hydra auf. Dort, wo er in den sechziger und siebziger Jahren einige seiner größten Alben und Bücher schrieb, fand er auch ältere Texte wie etwa „Alexandra Leaving“ wieder, die auf dem neuen Album Ten New Songs zu hören sind.
„Je älter man wird, umso weniger spielt Zeit eine Rolle, oder sie läuft einem davon. Für manche meiner Texte benötige ich gar 15 Jahre. Manche Texte haben bei ihrer Entstehung noch nicht die Reife und Intensität für eine Veröffentlichung“, erklärt er und fügt hinzu: „Es ist wie bei einem Menschen, der durch das Leben reich an Erfahrungen wird.“
Auf dem neuen Album machen Songs wie „Land Of Plenty“ auf Missstände aufmerksam, ohne dabei wie eine Predigt zu wirken. „Mit meinen Texten möchte ich nie Stellung beziehen. Ich sehe mich mehr als der Reporter des Inneren“, philosophiert Cohen bei der Frage um die Interpretationsvielfalt seiner Texte. „Ein Song ist ein Mosaik, das eine letztgültige Erklärung einzelner Passagen nicht immer zulässt.“
Ähnlich ist es auch bei dem bereits 1986 entstandenen Lied „First We Take Manhattan“. Vor dem Hintergrund des 11. September 2001 und der entsetzlichen Ereignisse in New York erhielt dieser bereits 15 Jahre alte Text unvorhersehbare Aktualität. Der Song, der in einer Ursprungsversion „In Old Berlin“ hieß, enthält in der Tat einige Passagen, „die erschreckend wirken, in ihrer Gänze jedoch dazu beitragen sollen, sich eben nicht nur vor Terrorismus zu ängstigen oder sich ihm zu beugen, sondern ihm mit Verstand zu begegnen“, sagt Leonard Cohen über dieses Lied, das oft über- oder, vor allem jetzt, gar falsch interpretiert wird. „Ich nehme nie eine Position gegenüber meinen Songs ein. Ich denke, die Menschen, die meine Arbeit mögen, sind mit mir gealtert und immer noch daran interessiert. Jüngere Menschen lernten meine Arbeit durch andere Künstler, die meine Songs nachspielten, kennen. Und Mitte der neunziger Jahre begann das Internet meinen Namen in der Erinnerung der Leute zu halten. Angesichts moderner Marktmechanismen im Musikbusiness ist es allerdings schon sehr ungewöhnlich, dennoch ein Thema für die Medien zu sein“, wundert sich Cohen über das große Medieninteresse an seiner aktuellen Arbeit.
Hier nun das weitere Gespräch:
Christo Graf: Vielleicht aus dem Grund, weil du noch immer etwas zu sagen hast?
Leonard Cohen: Vielleicht aus dem Grund, weil andere weniger zu sagen haben?
Graf: Was hat sich deiner Meinung nach seit deinem Beginn in den sechziger Jahren auf dem Musikmarkt verändert?
Cohen: Ich denke, der heutige Musikmarkt ist geradezu für die jüngste Generation designt. Als ich begann, musste man erst noch einen Markt erschaffen. Damals war Popmusik etwas Neues und die Art zu tanzen etwas langsamer. Aber wenn ich es mir recht überlege, dauerten die sechziger Jahre auch nicht viel länger als gerade mal 15 Minuten, danach war auch alles nur noch ein Geschäft.
Graf: Unlängst hast du deinen 67 Geburtstag gefeiert. Bob Dylan ist im selben Jahr 60 geworden. Gibt es überhaupt noch Künstler, die in der Lage sind, in diese Fußstapfen treten zu können?
Cohen: Ich weiß nicht, ob wir überhaupt in der Lage sind, Fußstapfen hinterlassen zu können. Ich denke auch nicht, dass wir das, was wir tun, um der Fußstapfen willen tun. Es ist eine Art zu leben, eine Art des Denkens und eine Art des Überlebens, die das ausmacht, was wir tun. Du weißt, was ich meine. Und ich denke, es ist die Originalität, die diese Art einzig macht. Jüngeren Künstlern wie z.B. Nick Cave gelingt das ebenso. Es ist die Mischung zwischen „strange and good“.
Graf: Was ein Nick Cave übrigens auch über dich sagt.
Cohen: Der Mann hat Humor.
Graf: Was er dir ebenso nachsagt.
Cohen: Jeder Mensch, der sich Gedanken macht und sie aufschreibt, hat Humor. – Was hat er noch gesagt?
Graf: Dass ihn deine Songs über Jahre hinweg berühren, seine eigenen aber nicht so ausgefeilt sind wie die deinigen. Und dass er nicht so spontan wie Bob Dylan und nicht halb so gut wie Van Morrison singen kann…
Cohen: Der Mann hat wirklich Humor.
Graf: Wieso auch nicht, sein aktuelles Album No More Shall We Part klingt sehr cohenesque. Weißt du, dass er dein Lied „Tower Of Song“ in einem Konzert einmal in Form einer über 31-minütigen Live-Version vorgestellt hat?
Cohen: Nein, ich kenne natürlich seine „Avalanche“-Version, aber nicht die „Tower Of Song“-Version.
Graf: Cave sagt, er stünde dir so nahe, obwohl er dich nie kennen gelernt hat, oder gerade weil er dich nie kennen gelernt hat. Wie reagierst du, wenn du einen deiner Songs von einem anderen Künstler interpretiert hörst?
Cohen: Ich freue mich immer, wenn ich Coverversionen meiner Songs höre, weil ich denke, jeder singt meine Songs besser als ich.
Graf: Warum gabst du deinem lang erwarteten neuen Studio-Album den recht unspektakulären Titel Ten New Songs?
Cohen: Spektakuläres ist stets unberechenbar. Dem wollte ich mit einem entsprechenden Titel nicht vorweggreifen. Ich habe den größten Teil der neunziger Jahre im Kloster von Mount Baldy verbracht, dort entstanden die meisten Texte. Wie sehr die Zeit in meinem Schaffen eine Rolle spielt, zeigt die Tatsache, dass ich zur Fertigstellung mancher Texte 15 Jahre brauchte. Als ich 1999 nach zehn Jahren erstmals wieder einen Monat in meinem Haus auf Hydra verbrachte, entdeckte ich „Alexandra Leaving“, einen Song aus dem Jahre 1985, den ich nie beendete, weil ich das Gefühl hatte, dass er noch nicht beendet war. „Alexandra Leaving“ basiert auf einem Gedicht des griechischen Dichters Konstantin Kavafis. Auf Hydra fand ich die Noten, die ich bereits 1985 schrieb. Ich habe versucht, eine gute Übersetzung des Originals zu bekommen. Glücklicherweise spricht mein Nachbar Roger Green etwas Griechisch und half mir bei der Übersetzung. Als ich auf Hydra war, gingen wir Gedicht für Gedicht des Buches von Kavafis The God Abandons Anthony Wort für Wort durch. Es war sehr erfrischend, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der mit Sprache nicht jeden Tag zu tun hat. Aus Alexandria, der Lieblingsstadt von Kavafis, machte ich Alexandra.
Graf: Hätten die Ten New Songs eine andere Intensität, wären sie nicht in einem Zen-Kloster entstanden?
Cohen: Die Leute haben verschiedene Vorstellungen von dieser Art des Lebens. Das Leben in einem Zen-Kloster ist Arbeit; man arbeitet an seinem Geist an einem Ort, wo man sich besser darauf konzentrieren kann. Daher hat dieses Album auch eine sehr entspannte Atmosphäre.
Graf: Nicht nur eine entspannte, auch eine – sagen wir einmal – überraschend modern, wenn auch etwas steril wirkende Atmosphäre?
Cohen: Ich hatte das Glück, bei der Produktion mit zwei fantastischen Menschen, Leanne Ungar und Sharon Robinson, mit der ich schon seit 1979 arbeite, zusammen sein zu können. Als ich 1999 das Kloster verließ, richtete ich mich in meinem Home-Studio ein, stand sehr früh am Morgen auf, arbeitete an den Grundstrukturen der Lieder und nach und nach und immer bis spät in der Nacht arbeiteten Leanne und Sharon an den Rhythmen, suchten nach Tönen, die zu der Poesie meiner Texte passten, und transportierten den Frieden, der innerlich wie auch äußerlich auf dem Mount Baldy herrscht, auf das Album.
Graf: Du hast deine Karriere als Poet, Romancier und Schriftsteller in einer Zeit ohne Globalisierung, ohne Multimedia und Internet begonnen. Könntest du dir vorstellen, heutzutage eine ähnliche Karriere zu starten, wenn du noch einmal alles vor dir hättest?
Cohen: Meinen ersten Roman verkaufte ich in einer Auflage von 3000 Stück. Viel zu wenig, um als Schriftsteller leben zu können. Von meinen späteren Einnahmen kaufte ich mir ein kleines Häuschen auf Hydra und lebte dort sehr spartanisch. Ich hatte Glück, dass ich 1967 zum Thema für die Singer/Songwriter wie z.B. Joni Mitchell und Joan Baez wurde. 1968 hatte ich mit der Vertonung meiner Gedichte gerade noch den Anschluss an diese Ära geschafft. Vielleicht wird die Zukunft einmal so aussehen, dass man den Genuss von Kunst genauso über eine monatliche Gebühr wie Strom oder Telefon bezahlt.
Graf: In einem deiner neuen Lieder beschreibst du das „Land Of Plenty“. Was hat es damit auf sich?
Cohen: Ich denke, wir leben bereits dort, wenn auch erst in seiner bescheidensten Ausgabe. Mit dem „Land Of Plenty“ ist das, was man allgemeinhin als „den Westen“ bezeichnet, gemeint. Mit diesem Text habe ich versucht, den Appetit zu beschreiben, den wir nach Fairness, Gleichheit und Wettbewerb haben. All das, was die so genannte westliche Welt ausmacht. All das, was im Vergleich den so genannten „armen Ländern“ – und damit dem Großteil der Menschheit – vorenthalten ist. Dieser Song soll nicht wie eine Predigt wirken, er soll lediglich ins Bewusstsein rufen, dass das, was dem Westen so selbstverständlich vorkommt, nicht selbstverständlich ist, und wir versuchen sollten, es auch dem Rest der Welt zugänglich zu machen, damit diese Ungleichheit nicht zu irreparablen Diskrepanzen führt. Den Armen dieser Welt muss geholfen werden.
Graf: Ist dieser Text nur Anklage oder bietet er auch eine Lösung?
Cohen: Ich bin kein Kreuzritter der ewigen Wahrheit. Ich bin nicht der Boss der Bosse. Daher kann ich auch keine Lösung anbieten, die nur im Kollektiv zu bewerkstelligen ist. Ich schrieb nicht umsonst: „I don’t know, why I come here“. Ich weiß ja noch nicht einmal genau, was es ist, was ich da „anklage“. Ich kann daher gar keine Stellung beziehen, sondern nur aus meiner Perspektive beschreiben, was ich sehe. Oft ist den „Entscheidern“, den Bossen, jenen, die Lösungen anbieten könnten, diese Perspektive nicht zugänglich.
Graf: „You Have Loved Enough“ ist der Titel eines anderen neuen Songs. Hast du genug geliebt in deinem Leben?
Cohen: Ich habe versucht, auf meine Art zu lieben. „I closed the book of longing / And I do what I am told“. Niemand weiß die Liebe zu meistern, wirklich zu meistern, selbst wenn wir noch so viel Energie in diesen Versuch investieren. Es ist unmöglich, eine Strategie zu etablieren, die einem garantiert, zu lieben und geliebt zu werden. Und in diesem Lied basiert die Antwort auf diese Frage auf Hunderten von Berührungen mit der Realität, mit Gott, mit Kindern, mit Frauen oder was es auch immer ist, was unseren Appetit auf nie eintretende Erfüllung stillt. Und was immer es ist, es kommt daher mit einer Stimme, die da sagt: „Live your life as if it’s real, a thousand kisses deep“. Nur die Liebe selbst, so auch ein Titel einer meiner anderen Songs, entscheidet, ob man genug geliebt hat.
Graf: Ist das der Grund, warum du, wie in „Boogie Street“, noch immer „Wange an Wange“ tanzt?
Cohen: Yes, I still loved the wine… „Boogie Street“ beschreibt die Leidenschaft, den Hunger nach Leben, egal ob nach einem Leben im Zen-Kloster oder nach einem in Luxus. „Boogie Street“ behandelt das, was Leben ausmacht. Mein Lehrmeister Roshi sagte immer: Du kannst nicht im Paradies leben, es gibt dort keine Restaurants oder Toiletten. Du kannst dem Paradies einen Kuss geben, seine Lippen berühren, kurz dort verweilen, aber nie dort bleiben. Aber der Hunger nach Leben führt dich immer wieder dorthin.
Graf: Man sollte mehr Restaurants im Paradies eröffnen und mit hervorragenden Toiletten versehen.
Cohen: Nein, wir haben sie dort, wo wir sie brauchen. Wir leben nicht im Paradies.
Graf: Wie ich sehe, ist auch der Hunger nach Gemälden mit Worten nicht gestillt. Eine Fähigkeit, wie sie auch Bob Dylan attestiert wird.
Cohen: Womit ich mich wohl in sehr guter Gesellschaft befinde. Wobei Bob der Begnadetere von uns beiden ist.
Graf: Zumindest der Produktivere, was die Anzahl der bereits fertigen Gemälde betrifft.
Cohen: Dylan ist Picasso, er hat ein immenses Reservoir an Schätzen.
Graf: Die ihn dazu bewegten, nach der Feststellung „The times they are a changin“ 30 Jahre später mit „Things have changed“ dies auch noch zu unterstreichen.
Cohen: Ich weiß, worüber er singt. „I used to care about it, but things have changed.“
Graf: Ist es das Wissen um die Worte, die einen Bob Dylan zu einem Picasso und einen Leonard Cohen zu einem Matisse der populären Musik machen, wenn beide danach streben, mit Worten und Tönen Gemälde für ihre Zuhörer zu entwerfen?
Cohen: Ich weiß um diesen Vergleich, aber ich weiß dagegen wohl nur mit einem „eyeliner“ Striche zu ziehen.
Graf: Viele Frauen sehen in dir entweder den großen Romantiker oder einen Mann, der Angst vor Frauen hat. Wie stehst du zu diesen Ansichten?
Cohen: Den Sinn meiner Arbeit sah ich immer darin, die menschlichen Gefühle zu beschreiben. Und Frauen haben sehr viel mit den Gefühlen von Männern zu tun. Und ich denke, es ist berechtigt, vor Schmerz und Erniedrigung Angst zu haben, genauso wie man sich nach Leidenschaft, Lust und Liebe sehnt.
Graf: Vor zehn Jahren hast du die Zukunft als „mörderisch“ bezeichnet. Wie ist sie heute?
Cohen: Als das Album 1992 herauskam, hatte ich bei diesen Texten den Eindruck, dass sich alle meine Befürchtungen, die ich schon weitaus früher hatte, bewahrheiteten. Die Welt, damals der Golfkrieg, Kroatien oder die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Los Angeles, erlebte Bilder, wie man sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kannte. Gleichzeitig fiel die Mauer in Berlin, die Sowjetunion zerbrach. Damals versuchte ich mich an einem Text mit dem Titel „Russian Honeymoon“, der diesen Zustand des Kollapses von allem Bestehenden beschreibt. Ich habe diesen Song nie beendet. Ich war schon immer von der Brutalität dieser Welt entsetzt und machte mir Gedanken darüber. Heute ist sie nicht anders.
Graf: Wie kann sich eine solche Brutalität in einer zivilisierten Welt etablieren?
Cohen: Der Verlust von Moral ist nur eine Komponente.
Graf: „First we take Manhattan, then we take Berlin“ ist eine andere Textzeile in einem deiner Hits. Ist Berlin es immer noch wert, eingenommen zu werden?
Cohen: Ist Manhattan es noch immer wert, eingenommen zu werden? Ich verwendete die Namen dieser Städte nur, um die gesamte Welt darzustellen. Es ist für mich immer schwierig, einen Song zu erklären. Ich brauche sehr viel Zeit, um ihn zu schreiben, und er durchläuft mehrere Phasen, bis er zu dem wird, was die Leute zu hören bekommen. Es sind Bilder, Satzgebilde, Kommentare, die eine Einheit bilden, ohne sich auf etwas Spezielles zu beziehen. Ein Song ist ein Mosaik, der eine letztendliche Erklärung einzelner Passagen nicht immer zulässt. „First We Take Manhattan“ beinhaltet in der Tat einige Passagen, die erschreckend wirken, in ihrer Gänze jedoch dazu beitragen sollen, sich eben nicht nur vor Terrorismus zu ängstigen, sondern ihm mit Verstand zu trotzen.
Graf: Wie sehr stört es einen Dichter, wenn seine Poesie zerlegt wird?
Cohen: Es ist mein Job, die Texte zu schreiben, und der eines anderen, sie zu hinterfragen. Aber manchmal habe ich den Eindruck, der andere Job ist nicht notwendig, weil der meinige bereits beendet ist. Manchmal ergibt es keinen Sinn, Bob Dylan zu fragen, was der „Wind“ ist, wenn er singt: „The Wind Is Blowin“.
Graf: Ende der sechziger Jahre hast du begonnen, mit Drogen zu experimentieren. Wie beurteilst du diese Art von Experimenten heutzutage?
Cohen: Ich bereue es nicht, Drogen genommen zu haben, aber ich empfehle es auch nicht weiter. LSD ist entsetzlich in seiner Wirkung, es ist in der Lage, dir alles Negative zu offenbaren, dich an einen Ort in deinem Inneren zu entführen, wo du noch nie zuvor warst und nie hinwolltest, und es birgt die Gefahr, von dort nicht mehr zurückzukommen. Ich habe nicht allzu viele Erfahrungen damit gemacht, um darüber ausreichend Informationen geben zu können. Aber als ich durch Roshi die Lehren von ZaZen kennen lernte, erfuhr ich, dass man durch Meditation ebenso zu Orten in seinem Inneren gelangen kann, die wesentlich positiver sind und weitaus gesünder. Es brauchte einmal lange Zeit, um meinen Geist zu stabilisieren. ZaZen war dabei effizienter als die Drogenerfahrungen, die ich sammelte.
Graf: Was war der Grund, Mount Baldy zu verlassen?
Cohen: Ich hörte von einem indischen Schriftsteller namens Ramesh S. Balsekar, dessen Arbeit mich interessierte und den ich in Bombay besuchen wollte. Er empfängt dort täglich Leute, die sich für seine Vorträge interessieren. Er stellt Fragen, er gibt Antworten. Seine Präsentation macht auf mich einen sehr fundierten Eindruck.
Graf: Dein Klosteralltag beinhaltete die Abhandlung regelmäßiger „Koans“. War die Reise nach Bombay eine Art von „Koan“?
Cohen: Nein, nach Bombay zu gehen war für mich lediglich die Möglichkeit, einem Menschen nahe zu sein, dessen Schriften mich seit Jahren beschäftigen. Balsekar ist nach Roshi mein zweiter großer Lehrmeister. Mit Hilfe von Balsekars Lehre konnte ich Roshi besser verstehen und schätzen lernen. Gleichzeitig wurde damit auch Roshis Lehre geehrt. Auch Balsekar ist mittlerweile über achtzig Jahre alt.
Graf: Wirst du wieder ins Kloster zurückgehen?
Cohen: Ich kann es mir gut vorstellen, ja.
Graf: Wie lebst du, wenn du nicht gerade im Kloster bist?
Cohen: Mein Alltag in den letzten zwei Jahren und auch mein Lebensrhythmus unterscheidet sich nicht sehr von dem auf dem Mount Baldy. Ich stehe sehr früh auf, arbeite, koche. Zu Hause herrscht mittlerweile eine ähnliche Atmosphäre.
Graf: 1998 machte es dein Sohn Adam den Söhnen Bob Dylans und Stephen Stills’ nach und debütierte mit dem Album Adam Cohen. Wie bewertest du seinen Schritt ins Musikgeschäft?
Cohen: Seine Songs sind klasse. Ich bin stolz auf ihn. Ich habe erst kürzlich wieder eines seiner Konzerte besucht. Und ich habe ihn schon oft live gesehen. Ich bin begeistert.
Graf: Hast du die Befürchtung, dass er in deinem Schatten stehen könnte?
Cohen: Das ist eine Frage, die auch einmal eine französische Journalistin Adam stellte, und er sagte lediglich: Wieso? Er ist mein Vater.
Graf: Und wie würdest du antworten?
Cohen: Er ist mein Sohn. Aber ich bin froh, dass ihn Journalisten dies fragen, er würde es mir so nie ins Gesicht sagen. Es ist eine so schöne Antwort.
Graf: Warum gab man dir im Zen-Kloster den Namen „Jirkan“ (Der Stille)?
Cohen: Ich kenne die Bedeutung nicht ganz genau. Es meint nicht „Der Stille, der Ruhige“. Es ist vielmehr die Stille, die etwas zu sagen hat. Roshi spricht nicht sehr gut Englisch. Und es ist Tradition in einem Zen-Kloster, den Schülern einen neuen Namen zu geben. Für Roshi ist das zudem einfacher, als sich die amerikanischen Namen merken zu müssen.
Graf: Wäre dein Leben anders verlaufen, hättest du Roshi nicht kennen gelernt?
Cohen: Ja. Es war ein großes Privileg, ihn und seine Lehren kennen zu lernen. Er ist eine der großen Lieben in meinem Leben.
Graf: Welches sind die anderen Lieben?
Cohen: Keine, die ich ungefragt öffentlich nennen möchte.
Graf: Du sagtest einmal, du bist nicht an eigenen Ansichten interessiert. Wie aktuell ist diese Einstellung?
Cohen: Aktueller denn je.
Graf: Gibt es derzeit eine Frau, die du liebst?
Cohen: Ja. Keine spezielle, keine, die ich heiraten möchte, keine, mit der ich eine romantische Affäre habe, aber es gibt immer eine Frau, die ich liebe. Außerdem bin ich sehr glücklich darüber, mit diesen beiden schönen intelligenten Frauen, Sharon Robinson und Leanne Ungar, zusammenarbeiten zu können. Und außerdem bewohnt meine 26-jährige Tochter Lorca die untere Etage meines Hauses in Los Angeles. Ich habe also genug Frauen in meinem Leben.
Graf: Hast du Angst vor dem Tod?
Cohen: Es ist, wie mein Freund Irving Layton sagt, es ist nicht der Tod, vor dem man sich fürchtet. Es ist die Vorstufe des Todes. Tennessee Williams beschreibt das Leben als ein gut geschriebenes Theaterstück, mit Ausnahme des dritten Aktes. Ich denke, ich stehe am Anfang des dritten Aktes und bin froh, diesen noch gesund und ohne Geldsorgen erleben zu können.
„Lieder und Texte sind wie Einträge in das Tagebuch eines Künstlers“, sagt Herman van Veen, obwohl holländischer Herkunft, einer jener deutschsprachigen Künstler, die in jene Kategorie einzuordnen sind, die im englischen Sprachraum als „Singer/Songwriter“ bezeichnet werden, eine Kategorie von Künstlern, für die es in der deutschen Sprache allerdings keine adäquate Bezeichnung, kein Synonym mit entsprechendem Inhalt gibt. „Lieder und Texte in eine andere Sprache zu transponieren bedeutet nicht unbedingt, das Original Eins-zu-Eins wiederzugeben“, bekräftigt Wolfgang Niedecken, ein anderer deutschsprachiger Künstler, der sich neben Herman van Veen ebenfalls schon öfters mit Coverversionen Leonard Cohens beschäftigt hat. „Es geht nicht unbedingt um den Originaltext, es geht darum, die Stimmung, das Gefühl und die Atmosphäre des Originals zu transportieren oder zumindest eine Plattform zu bieten, dasselbe oder zumindest ein ähnliches Bild mit dem Text zu entwerfen, zu welchem das Original fähig war“, erklärt der Frontmann der Deutschrock-Band BAP, der 1988 die Texte von „First We Take Manhattan“ und 15 Jahre später, im Jahre 2001, „Famous Blue Raincoat“ in den Dialekt seiner Heimatstadt Köln übertrug und diese Versionen auch auf der CD-Single Aff un zo sowie dem 2002 erschienenen Live-Album Överall veröffentlichte.
Herman van Veen dagegen beschränkte sich auf eine Übertragung ins Hochdeutsche, als er 1969 zum ersten Mal „Suzanne“ und 1994 zum ersten Mal „Hey, That’s No Way To Say Goodbye“ seinem Live-Publikum vorstellte. Und obwohl van Veen mit der Coverversion von „Suzanne“ einen eigenen Charterfolg erzielte und Niedecken nie aufhören wird, „sich mit Cohens Liedern zu beschäftigen“, sind diese beiden deutschsprachigen Künstler überzeugt, niemals in der Lage zu sein, die Schönheit, Brillanz und Tiefe des Originals erfassen zu können.
Was ist es also, was ein Original ausmacht? Was ist es, was einen dazu bewegt, ein Original in eine andere Sprache zu übersetzen? Und vor allem stellt sich einem die Frage, wie man an die Übersetzung herangeht. Beide Künstler, Niedecken wie auch van Veen, Ansprechpartner für stildifferente Genres, betonen, dass das „Covern“ von Songs in der Originalsprache immer einer anderen Betrachtung unterliegt als das „Covern“ in einer anderen Sprache. Es ist eine andere musikalische wie auch textliche Ebene, ob man nur „interpretiert“, „überarbeitet“ oder gar „transformiert“. „Leonard Cohen bewundere ich“, sagt Herman van Veen, „weil er Texte schreibt, die so viel Mehrwert haben. Für den einen bedeutet es das, für den anderen bedeutet es etwas anderes. Aber es spricht trotzdem beide an. Das ist wahre Kunst. Wenn ein Künstler sein Bild malt, in dem ein anderer sein eigenes Bild wiedersieht, ohne dass es unbedingt damit identisch ist.“
SUZANNE
(dt. Text von Thomas Woitkewitsch; gesungen von Herman van Veen)
Suzanne lacht dich an
auf der Bank, die beim Fluss steht
tausend Schiffe ziehn vorbei,
und sie zeigt dir
wie ein Kuss geht
du sagst ihr,
sie muss verrückt sein
denn sie fällt aus dem Rahmen,
mit dem Übermut der Menschen,
deren Kräfte nie erlahmen
und du willst ihr gerade sagen,
ich muss gehen
es ist zu Ende,
doch sie hält deine Hände,
über deine Lippen kommt kein Wort.
und sie will ans andere Ufer,
und du möchtest mit ihr mitgehen,
zusammen Hand in Hand,
sie ist deine große Liebe
aber noch kämpft dein Gefühl
mit dem Verstand.
Hat Jesus nicht bewiesen,
dass Wunder noch geschehen,
er, der frei von Furcht und Angst war,
konnte übers Wasser gehen.
wenn sie dich allein zurücklässt,
würde dich das sehr verletzen,
doch du lässt die Zeit verstreichen,
anstatt Berge zu versetzen.
und du weißt wohl, du wirst leiden,
doch du kannst dich nicht entscheiden.
und sie fragt dich mit den Augen,
über deine Lippen kommt kein Wort,
und du möchtest mit ihr mitgehen,
zusammen Hand in Hand,
sie ist deine große Liebe
aber noch kämpft dein Gefühl
mit dem Verstand.
Suzanne lacht dich an
auf der Bank, die beim Fluss steht, und du hörst ihre Pläne,
und du denkst, dass ihr Bus geht,
Über euch kreisen Möwen,
das Licht wird langsam blasser,
und du spürst, wie es kalt wird.
und du starrst auf das Wasser,
niemand gibt dir die Antwort
auf all deine Fragen.
was euch drüben erwartet,
kann Suzanne auch nicht sagen,
und du siehst, dass sie aufsteht,
und du möchtest mit ihr mitgehen,
zusammen Hand in Hand,
sie ist deine große Liebe,
aber über dein Gefühl
siegt der Verstand.
„Lieder verändern nicht die Welt“, kommentiert van Veen. Dennoch appellieren Künstler wie Leonard Cohen an die Vernunft der Menschen, wie er es zum Beispiel auch in „The Land Of Plenty“, einem seiner neuen Songs zelebriert. „Aber das geschieht immer zuerst durch den Kopf“, erklärt van Veen. „Ich glaube, dass es nie zu spät für etwas ist. Wir müssen lediglich beginnen, anders zu denken. Man kann nicht einfach gewissenlos tun, was man tut. Und genau so etwas wird in solchen Liedtexten proklamiert.“
Aber kann einem Künstler nicht auch vorgeworfen werden, dass er mit seinen Äußerungen nur an der Oberfläche kratzt, nur Worte statt Taten offeriert?
Ein Künstler ist nicht dazu da, Lösungen anzubieten. Es geht nicht darum, anzuprangern. Ein Künstler spricht aus dem Herzen und er verarbeitet, was ihn bewegt. Das Publikum entscheidet, was es davon hält, das Publikum entscheidet, ob es ihm wichtig ist, was der Künstler anbietet. Der Künstler ist in erster Linie einmal sich selbst wichtig. Er tut, was er tun muss. Was daraus wird, entscheidet das Publikum. Für mich persönlich ist es wichtig, etwas zu tun, was mir wichtig ist und weil ich es mag. Der Zweck eines Künstlers ist es, dass sich sein Wesen „äußern“ muss. Ein Künstler ist kein Pfarrer, kein Politiker, kein Botschafter, es ist nicht die Aufgabe der Kunst, Politik zu machen. Die Kunst tut es für sich. Ich singe für mich, Leonard Cohen singt für sich, und wenn man es teilen kann und andere ähnlich empfinden, macht mich das gigantisch dankbar. Und ich bewundere dabei das Publikum, dass es der Kunst und dem Künstler folgen kann.
Wobei Texten wie „First We Take Manhattan“ sicherlich schwerer zu folgen ist. „Für mich ist es eigentlich ein wenig Babylon, was Cohen da beschreibt. Es ist eigentlich ein apokalyptisches Lied. Er sagt, die Wiederholung findet statt. Und die Wiederholung kann man nur unter Kontrolle bringen, wenn man die Geschichte als Tatsache und nicht als Hypothese akzeptiert.“ Und warum hat ein Herman van Veen nicht „First We Take Manhattan“ gecovert, sondern „Hey, That’s No Way To Say Goodbye“?
Dieses Lied liebe ich sehr, weil es zeigt, dass man keinen Abschied nehmen kann. Es gibt keine Methode, sich perfekt zu verabschieden, weil das Leben nicht dazu da ist, Abschied voneinander zu nehmen. Und selbst der Tod ist für mich keine Form des Abschieds. Und wenn ich Cohen singen höre „Hey, That’s No Way To Say Goodbye“, bedeutet das für mich, es gibt keinen „way to say goodbye“, weil ich überhaupt nicht „goodbye“ sagen möchte. Und das hat er unwahrscheinlich schön und unwahrscheinlich poetisch gesagt. Und das Schöne dabei ist, dass es dabei nicht um ein Kind, eine Frau, Eltern oder whatever geht, es geht einfach darum, dass es eigentlich keine Art des Verabschiedens gibt. Ein Abschied ist eigentlich eine unmögliche Sache. Alle Menschen wissen doch, dass das, was du einmal geliebt hast, eigentlich das ganze Leben lang geliebt wird, weil das, was du geliebt hast, einmal ein Teil von dir geworden ist.
1993 hatte Herman van Veen die Gelegenheit, Leonard Cohen nach seinem Konzert in Frankfurt backstage zu treffen. Hat sich das Bild, das er vorher von ihm hatte, bestätigt?
Die Zeit, die wir nach seinem dreistündigen Konzert hatten, war zu kurz. Zumindest hat mich das kurze Meet ’n’ Greet nicht enttäuscht. Ich denke, man muss Cohen länger und öfters sprechen, um das bestätigt zu bekommen, was man erwartet, oder nicht erwartet. Auf jeden Fall ist er ein Gentleman.
Zu dieser Feststellung konnte Wolfgang Niedecken noch nicht kommen. Niedecken, der bereits seine beiden anderen großen Idole, Bob Dylan und Bruce Springsteen, persönlich kennen lernen konnte und auch schon Gast im Chelsea Hotel war, hat jedoch eine weniger dogmatische Erwartungshaltung: „Ich würde ihn fragen, ob es ihm gut geht.“ – Mehr nicht? – „Nein, zunächst nicht. Darüber hinaus würden mich Geschichten aus den sechziger Jahren interessieren, aus der Zeit also, als es um die Schnittstellen zwischen Schriftsteller und Musiker ging“, plaudert Niedecken weiter. „Ich denke, das ist mit das Interessanteste bei Leonard Cohen, durch dessen Werk ich mich alle paar Jahre wieder mal durcharbeiten muss.“ Resultat sind dann wohl auch Coverversionen, die es leider immer nur als B-Sides oder „live in concert“ zu hören gibt. Erstmals 1988, als Niedecken mit BAP „First We Take Manhattan“ („Eez steht he: Manhattan“) und letztmals 2001 „Famous Blue Raincoat“ („Wat schriev mer en su enem Fall“) Cohen-Songs ins Kölsche übertrug.
Und warum gerade „Famous Blue Raincoat“?
Aff un zo ist sozusagen unser „Exile On Main Street“-Album, das wir auf Mallorca aufnahmen. „Famous Blue Raincoat“ entstand am Tag unserer Ankunft. Die Crew war mit dem Aufbau noch nicht fertig, und ich hockte in meinem wunderschönen Hotelzimmer mit Meerblick. Dort, wo ich drei Wochen später, zwei Stockwerke tiefer „Irrendjen Rock ’n’ Roll-Band“ schreiben sollte, kam mir meine Lieblings-Leonard-Cohen-Nummer in den Kopf, weil mich der erste Eindruck des Zimmers an die Rückseite der Plattencovers von Songs From A Room erinnerte, wo diese äußerst ansehnliche Frau an einem Tisch hinter einer Schreibmaschine sitzt. Hinter ihr diese hölzernen Fensterläden, die man, wann immer man sich dieses Bild anschaut, einfach nur öffnen möchte, um zu sehen, wo man landet, wie der Ausblick dahinter ist. Und genau diese Motivationskette brachte mich dazu, endlich den Song einmal einzukölschen, der mir schon immer am Herzen lag.
Der Song ist also der Fensterladen, den man öffnet, indem man ihn hört; das, was sich dahinter verbirgt, entspricht demnach der Aussicht, die sich einem erschließt?
Ja, zunächst einmal muss man von einem Song ergriffen sein, damit man das festhalten kann. Man sucht sich keinen Song aus, der Song sucht aus. So gehe ich zumindest an eine Coverversion heran. Es gibt Songs, wie z.B. Bob Dylans „Blowin’ In The Wind“ oder David Bowies „Heroes“, die man besser nicht covert, weil es fast unmöglich ist, die Bedeutung der Begriffe Eins-zu-Eins zu übernehmen und dennoch das Reimschema erhalten zu können. Weil, genau das möchte man ja, wenn man den Song in einer anderen Sprache als dem Original nachspielen und singen möchte. Also bleibt einem nichts anderes übrig, als den Inhalt des Textes zu erfassen und ihn mit eigenen Worten und dennoch so nah wie möglich am Original wiederzugeben. Aus „New York is cold, but / like where I’m living / There’s music on Clinton Street all through the evening“ machte ich „Die Stadt ess jetz kalt, wat öm die Zick normal ess un trotzdämm Musik, jenachdämm wo du langjehs“ und ersetzte New York durch „die Stadt“ und verzichtete somit auch auf die „Clinton Street“, weil ich der Meinung war, es muss nicht New York sein, um ein solches Gefühl, das Cohen da beschreibt, nachempfinden zu können. New York kann überall sein. Würde ich diesen Song jedoch nicht in meiner Heimatsprache singen wollen, sondern das Original einfach nur übersetzt nachlesen wollen, während ich zum Beispiel im Hintergrund den Originalsong höre, wenn ich also einfach nur wissen möchte, welche Geschichte der Mann uns da erzählt, dann wollte ich wiederum „New York“ und die „Clinton Street“ lesen können. Und, falls möglich, auch wirklich die „Clinton Street“ und nicht die „Klintonstraße“. Die zwanghafte Suche nach womöglich missglückenden Reimen würde ich zugunsten einer Sinn machenden Übersetzung vernachlässigen. Das Schöne an einer solchen Übersetzung – wobei mir hier der Begriff „Übersetzung“ zu hoch angesetzt ist – sei es, dass du sie musikalisch oder textlich angehst, ist, dass sich bei einer längeren Beschäftigung mit dem Text der Song neu erschließt. Er bekommt Tiefe, und je mehr du dich von seiner Oberflächlichkeit entfernst, umso mehr Bedeutung kannst du entdecken. Und genau das ist es, was einen Song ausmacht, wenn du ihn nicht nur schön findest, er dir im Ohr bleibt, sondern wenn er wächst und nach jahrelangem Hören immer noch Wirkung und Bedeutung hat, ja sogar Neues offenbart. Aus heutiger Sicht zum Beispiel, hatte ich „Famous Blue Raincoat“ anfangs überhaupt nicht verstanden. Anfangs glaubte ich, da rennt einer durch New York und hängt an einem ganz bestimmten Kleidungsstück, an das er eine ganz besondere Erinnerung hegt. Heute glaube ich, Cohen erzählt eine Geschichte, die mit einer Dreierbeziehung zu tun hat, mit der er viele Dinge verbindet. Dinge, die er ohne eine solche Erfahrung nie erlebt hätte, Dinge, für die er dankbar ist, dass er sie erleben durfte. Andererseits denke ich auch nicht, dass Cohen uns so etwas wie die Moral von der Geschicht’ erzählen möchte. Cohen ist nicht der Typ von Künstler, dem es um Botschaften geht. Cohen schreibt Stücke, die sich um ihn drehen. Er beschreibt und formuliert es poetisch. So etwas wie eine ,tabula rasa‘ der Geschichte gibt es nicht. Es ist jedem selbst überlassen, was er daraus macht. Ich denke, Cohen und die Bedeutung seiner Texte sind für die Rockmusik deswegen so elementar, weil er es schafft, Songs mit ebensolchen Tiefen zu schreiben, in denen jeder Ähnlichkeiten zu ganz individuell Erlebtem für sich selbst entdecken kann. Cohen hat das Talent, Berührungspunkte mit den Biographien der eigenen Zuhörer zu schaffen. Und genau das sollte auch eine Übersetzung schaffen. Es geht nicht darum, den Übersetzungswissenschaften zu entsprechen, es geht darum, diese Berührungspunkte in einer anderen Sprache nachvollziehbar zu machen. Und wenn ein „native speaker“ an einer Zeile wie „That night that you planned to go clear / Did you ever go clear?“ Schwierigkeiten hat, dies in den korrekten Zusammenhang des Liedes zu stellen, wie sollte da ein Nicht-Muttersprachler diese Schwierigkeiten nicht auch haben?
„Famous Blue Raincoat“ beschreibt eine Wanderung zwischen zwei Welten – eine Wanderung, die beschwert ist mit der Bürde der Vergangenheit. Vor dem Hintergrund überlieferter Traditionen und Mythologien durchquert der Sänger die Gegenwart auf der Suche nach einer ungewissen Zukunft. Er singt von einer Welt, in der sich Männer und Frauen wirklich lieben – aber nur, um sich wieder verlassen zu können, weil der Moment der Trennung tiefere Gefühle hervorruft als monotone Beständigkeit. In der Verschmelzung von Geist und Sexualität wird der Ich-Erzähler zum „Heiligen“. Dass der Titel „Famous Blue Raincoat“ einen biographischen Hintergrund hat, wurde bereits erwähnt: Es handelt sich um den Regenmantel, den sich Cohen Anfang der sechziger Jahre in London zulegte und der Elizabeth, Leonards damalige Londoner Bekannte, zu der Bemerkung veranlasste, er sehe darin aus „wie eine Spinne“. Den Mantel trug Cohen noch Anfang der siebziger Jahre; später wurde er aus der Wohnung von Marianne Jensen gestohlen.
„Famous Blue Raincoat“ ist aber auch ein Song voller Rätsel, zu deren Auflösung nicht einmal Leonard Cohen in der Lage zu sein scheint: Ich habe vergessen, ob ich mit der Frau wirklich zusammen gewesen bin. Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich existiert hat. Ist er derjenige, der den Brief schreibt („I’m writing you now, just to see if you’re better“), oder ist es ein anderer? Ist er die dritte Person in Bezug auf ein Paar, oder steht ein Dritter in Bezug zu seiner Beziehung („Well, your enemy is sleeping and his woman is free“)? Oder schreibt er gar als L. Cohen an eine dritte Person und ist die vielleicht „L. Cohen“, womit er selbst zusätzlich als vierte Person im Spiel wäre? Der Text lässt dies (wohl absichtlich) im Unklaren. „L. Cohen“ erklärt nur, dass er diesen Brief nie abgeschickt hätte. „Auf jeden Fall ist es ein Song, mit dem ich nie zufrieden gewesen bin“, sagt er und fügt hinzu: „Ich bin froh, dass er so geheimnisvoll ist.“
Es ist also legitim, auch in der Übersetzung das Missverständliche missverständlich zu lassen, solange darauf Wert gelegt wird, dass die Übersetzung etwas Ähnliches beschreibt wie das Original. Und genau deswegen schrieb Niedecken in seiner kölschen Version nicht „Der berühmte blaue Regenmantel“, sondern:
Wat schriev mer en su enem Fall?
(dt. Text von Wolfgang Niedecken; gesungen von BAP)
Vier Uhr ess et, morjens, Ende Dezember.
I eh schriev, weil ich wesse will: Jeht et dir besser?
Die Stadt ess jetz kalt, wat öm die Zick normal ess
un trotzdämm Musik, jenachdämm wo du langjehs.
Stemmp et, datt’e Huus baus, irjendwo, wo keiner dich kennt
un dat du ahn nix mieh gläuvs, als Nirjendwo-Mann erömrenns?
Jane kohm heim met ner Art Souvenir
un saat, dat hätt se vun dir,
sick dä Naach, als du lossleets bei ihr,
kohms du je loss vun ihr?
Als ich dich zoletz troof, do soochste nit joot uss,
Räänmantel, Turnschoh, et Hemp uss der Bozz eruss,
leefs jraad zum Bahnhoff: „Nur jo nit verpasse,
falls sie jraad hück ahnkütt!“ … ir’ndsujet saatste.
Un wenn du domohls en Frau hatts, mieh uss Zofall, als ir’ndwie
jeplant,
wollts du nix vun ihr hühre, nur spüre, wofür du bezahlt.
Ich sinn dich met dä Ruus zwesche dä Zäng, dämm Ring uss Jold,
dä dir’m Uhr hängk,
en ner Bilderbooch-Naach, ich hühr noch, wie se laach.
Wat kann ich dir saare, Mann, wat soll ich saare?
Wat schriev mer en su enem Fall?
Gläuv fass, ich vermess dich, verzeih dir. Wie maach et dir jonn,
Mann? Nä, da’s nit ejal!
Hey, wenn du jemohls vorbei küss, he bei Jane oder bei mir,
will ich dat du ein Saach weiss: Ich benn lange keinen Feind mieh vun dir,
denn ich dank dir dofür, dat du se befreit, ich hann et kapiert, deit mer leid.
Hätt et selvs nie probiert, tja, ess einijes passiert
sick domohls, du met dä Bloom en dä Zäng, dich hatt uns dä Himmel jeschenk.
Ich sinn, Jane weed jraad wach.
„Schöne Jrooss!“ sähtse’n laach.
Versuche, Cohen zu erklären, gibt es viele. Schriften aus den siebziger Jahren folgen dem Ansatz der „Black Romantic“. Ähnlich wie Charles Baudelaire oder Jean Genet zog Cohen die Erfahrung seiner Individualität aus seiner Vorstellungskraft in Form von Visionen, Wahnsinn und apokalyptischem Leid. Zweifel an traditionellen Welterklärungsmodellen, das Relativieren aller moralischen Prinzipien, ebneten für Cohen den Weg zu einem gedanklichen Konstrukt der Ablehnung aller sozialen Systeme, die in einer Ohnmacht des Selbst gipfelten. Es ist die Zerstörung der alltäglichen Ordnung, ohne dabei zu Gewalt zu greifen, die Cohen anstrebt, wenn er gerade in seinen früheren Texten zunächst absurd wirkende Situationen zu Themen macht.
Ansätze, Cohen zu übersetzen, scheitern, wenn sie ihn erklären wollen, sein Leid, das derart individuell gestaltet ist. Cohens auffällige Flucht in die Religionen, die er in gewohnter Manier individuell für sich selbst reformiert, bereitet Schwierigkeiten, die Abkehr vom Judentum, ohne jemals das Judentum zu verleugnen, Hinkehr zum Buddhismus, ohne jemals zu konvertieren – eine Vorstellungswelt, die sich in phantastischer, surrealer Bildhaftigkeit ausdrückt. Die Antworten, die Leonard Cohen uns offeriert, ähneln den „koans“, die die Zen-Meister ihren Schülern stellen, die letztendlich zum Zerbrechen der ichbezogenen Denkstrukturen führen. Indem er sich seit Ende der sechziger, und in den neunziger Jahren mehr denn je, seinen Zen-Studien widmete, führte Cohen vor, wie Aufgaben – zumindest ichbezogen – gelöst werden können. Es sind nicht die Antworten auf Fragen, die die Lösung bedingen, es ist der Zugang zu einer anderen Wirklichkeit. Vielleicht findet man sie, indem man das „Fenster“ öffnet und hinter die hölzernen Fensterläden auf der Plattenhülle von Songs From A Room schaut.
„Eine Übersetzung ist nicht nur die Konfrontation eines Ausgangstextes mit den sprachlich-stilistischen Mitteln und Möglichkeiten einer Zielsprache, sondern auch die Konfrontation mit teils widersprüchlichen, schwer vereinbaren Bedingungen und Faktoren“, so der Übersetzungswissenschaftler Werner Koller. Es geht also nicht nur um die sprachlich-textuelle Dimension, sondern „darum, die Berührungspunkte mit den Biographien der Zuhörer/Leser in der anderen Sprache nachvollziehbar zu machen“, wie Wolfgang Niedecken sagt. Da bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel „The Great Event“ (More Best Of, 1997) oder „Minute Prologue“ (Live Songs, 1973), alle „Songs of a Life“ als gesungene Lieder, nicht selten in verschiedenen Versionen wie etwa „Hallelujah“, vorliegen, wurde bei dieser „Übertragung ins Deutsche“ auf Betonung, Reimschema und vor allem auf Nachdichtung verzichtet. Ansonsten wurde von Fall zu Fall, ganz in der Tradition Cohens, individuell entschieden, ob man klangliche Effekte situationsabhängigen Wortspielereien („a sip of wine / a cigarette / And then it’s time to go / I tidied up the kitchenette / I tuned the old banjo“) gegebenenfalls vorzieht oder sie vernachlässigt.
Songs of a Life sind in der Tat also „nur“ Lieder und Texte, die Einträgen in Tagebücher gleichen. Lieder und Texte, die in der Lage sind, Bilder zu projizieren. Bilder, die oft gar keiner Nachdichtung bedürfen, Bilder, denen eine Übertragung genügt. Bilder, die aus sich selbst eine individuelle Interpretation implizieren. Vielleicht aber auch nur Lieder und Texte, die, im Zusammenhang gelesen, etwas Ähnliches wie die geheime Autobiographie eines der vielsagendsten Rockpoeten unserer Zeit ergeben. Greifen wir das Bild des Museums noch einmal auf. Schreiten wir noch einmal durch die Gänge des Lebens von Leonard Cohen und fragen nicht nach der perfekten Übersetzung. Orientieren wir uns vielmehr an den Bildern, die uns Leonard Cohen mit diesen einhundert Texten zur Ansicht, nicht zur Begutachtung, stellt. Lassen wir diese Bilder auf uns wirken. Sowohl im Original wie auch in einer anderen Sprache. Verwenden wir diese andere Sprache zum Verständnis alter und zur Projektion neuer Bilder.
Viele Künstler, die sich mit Cohens Songs beschäftigt haben, taten dies in ähnlicher Art und Weise. Wie vielseitig diese Betrachtung in Sachen Interpretation sein kann, offenbaren all jene Tribute-Alben und Coverversionen, die Cohens zunächst einfach strukturiert wirkende Songs in unterschiedlichen Stilrichtungen zu einer neuen Blüte verhalfen. Als bestes Beispiel sei hier nur Cohens „Hallelujah“ aus dem 1984er-Album Various Positions genannt, ein Album-Titel, der geradezu beispielhaft für Cohens Gesamtwerk und für alle Interpretationsversuche steht. Sei es in der eher wie eine Geschichte vorgetragenen Version von John Cale, in der eher wie ein postmoderner Extrakt eines U2-Songs wirkenden Fassung von Bono Vox oder gar in der auf Tonträger nie veröffentlichten Variante von Bob Dylan, der diesen Song im Rahmen seiner seit 1988 bis heute andauernden Neverending Tour bereits zweimal live on stage vortrug. Das erste Mal übrigens am 8. Juli 1988 ausgerechnet in Cohens Heimatstadt Montreal. Nehmen wir also die unausgesprochene Einladung an, ein Museum zu besuchen, das ohne feste Öffnungszeiten stets in der Lage ist, neue Bilder zu präsentieren. Vielleicht sind Leonard Cohens Songs of a Life tatsächlich seine nie geschriebene Autobiographie.
Christof Graf, Vorwort, März 2002
alle kennen seine Lieder. Mit Songs wie „Suzanne“, „Bird On The Wire“ oder „First We Take Manhatten“ wurde der kanadische Poet, Songschreiber und Musiker Leonard Cohen zur Rocklegende. Einst stand sein Name für sanfte, romantische und nachdenkliche Musik, mittlerweile ist er Vorbild für Künstler wie R.E.M., Nick Cave oder U2 und gehört neben Bob Dylan zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der populären Musikkultur. In diesem Buch liegen nun erstmals alle Songtexte auf Englisch und Deutsch vor. Dazu gibt es kurze Einführungstexte zu den Alben, Informationen zur Enstehungsgeschichte der Texte und zur Biographie, Fotos, Auszüge aus Interviews mit Leonard Cohen, aus Gesprächen mit Herman van Veen, Wolfgang Niedecken und Adam Cohen, dem Sohn des „Lord Byron of Rock“.
Deutscher Taschenbuch Verlag, Klappentext, 2002
Prima: alle Texte von Leonard Cohen gesammelt in einem Taschenbuch englisch/deutsch! Nun kann man endlich – so dachte ich wenigstens –, die Qualität seiner Texte nachvollziehen. Aber nein. Selbst die Versionen von Hermann van Veen und von Wolfgang Niedecken wirken (so gelungen sie für sich betrachtet sein mögen) irgendwie weichgespült. Die Besonderheit der Cohen-Texte lässt sich eben nur schwer durch etwas anderes ersetzen und auch nur sehr, sehr schwer übersetzen. Es ist kein Vergnügen, die deutschen Fassungen zu lesen. Ich möchte die Songs auch nicht übersetzen müssen; aber wenn schon, dann würde ich – wenn es heißt. „I saw Jesus on the cross on a hill called Calvary“ – vorschlagen: „Ich sah Jesus am Kreuze auf Golgatha“. Statt dessen heißt es: „Ich sah Jesus am Kreuz auf einem Hügel, namens Kalvarien“; und „From the bloody cross on top of Calvary“ (aus „Everybody knows“), wird übersetzt mit: „Von dem blutigen Kreuz an der Spitze der Kavallerie“. Bei „Chelsea Hotel“ lesen wir: „Und besorgtest es mir auf dem ungemachten Bett“ – was ich gesungen noch so im Ohr habe: „Giving me head on the unmade bed.“ Der deutschen Version fehlt einfach die Freude an der Sprache und das Verhältnis zum tiefen Gefühl (was man ja gerne entschuldigt); es fehlt aber auch die Schärfe – manchmal hat man sogar den Eindruck, es fehlt an Verständnis davon, worum es eigentlich geht. Ich will nicht pingelig sein – Christof Graf ist es selber. Seine Stärke liegt darin, einen genauen Index zu erstellen (übrigens auch eine Webseite) und uns mitzuteilen, dass Cohen immer schon irgendwie seiner Zeit voraus war. Mich hätte eher interessiert, auf welche anderen Gedichte (z.B. auf die von García Lorca) sich die Texte von Cohen beziehen oder welche Bezüge zu seinem Leben (z.B. zu seiner Zeit in Cuba) bestehen – und weniger die Frage, welcher Song auf welcher Sammlung enthalten ist und aus welchen Orten die Live-Aufnahmen stammen. Das ist etwas für Fans, für die das Kleingedruckte Trumpf ist – nicht aber für Leute, die seine Lyrik ernst nehmen wollen.
Hier auf der Amazon-Seite findet sich die Mitteilung, der Autor sei der wohl größte deutsche Dylan- und Cohen-Experte. Mag ja sein. Aber eins ist gewiss: sicherlich hat für die Übersetzung kein Experte gesorgt, noch nicht einmal jemand, der sich halbwegs auf’s Übertragen aus dem Englischen versteht. Bestenfalls wird wort-wörtlich übersetzt, was sich bei Lyrik ja von selbst verbietet. Aber selbst das klappt oft nicht. Wir alle kennen ja diese „You are heavy on the woodway“ – und „You are heavy on wire“ – Verhohnepiepelung. Man mag es kaum fassen: sehr weit von derartigen Stilblüten ist dieses Werk tatsächlich nicht entfernt.
Nicht dass ich nun von „selber Musik machen“ etwas verstehen würde: aber dass „Master Song“, „Stranger Song“ und „Suzanne“ nicht auf nur insgesamt 5 Akkorden beruhen wie behauptet wird, erschließt sich sogar mir, der früher immer zu dämlich war, eine Gitarre nach Gehör zu stimmen.
Unter humoristischen Gesichtspunkten hätte dieses Buch glatte 5 Sterne verdient. Vielleicht mache ich mich auf die Suche nach einer Dylan-Übersetzung vom gleichen Autor, wenn ich mal wieder herzhaft lachen möchte.
Wer bessere deutsche Übersetzungen sucht, der wähle boelters.de/LC! Sehr zu empfehlen! Inzwischen ist auch „Old Ideas“ in der Liste. Die Übersetzungen von Christof Graf sind erschütternd schlecht, allerdings gibt es das Buch wohl nur noch antiquarisch.
Mark Twain, amazon.de, 31.10.2009Blaubart & Ginster #6: Leonard Cohen und Nick Cave
Wie Leonard Cohen seine Stimme findet
Gert Heidenrich: Nächte mit Leonard
Detlef Kuhlbrodt: Seems so long ago
FÜR LEONARD COHEN
Es sterben immer die Falschen,
es sterben immer die Gleichen,
auf immer demselben Stern,
ihr Sterben geht über Leichen.
Und wieder treiben die weißen
die gräulichen Haufen voran,
es fliehen wieder die Gleichen
im Pulk auf der Flucht zu sich selbst.
Es weichen die schönen Verlierer,
die schönen Verlierer der Zeit
strömen stromab zur Quelle;
Schönheit ist das, was sie treibt.
Kai Pohl
Margret Kreidl: Krempelsatz
Fixpoetry.com, 11.11.2016
Hallelujah – Leonard Cohen zum 90. Geburtstag
WDR5, 21.9.2024
Kurt Kister: Leonard Cohen ist nicht tot
Süddeutsche Zeitung, 21.9.2024
So Long, Cohen. Beautiful Loser und Weltstar Leonard Cohen
Leonard Cohen’s 90th Birthday – Massive Hallelujah Sing-Along auf Tour in Boston
Leonhard Cohen-Porträt als 30jähriger beim Besuch seiner Heimatstadt Montreal.
Leonard Cohens Dankrede – How I Got My Song – zur Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises am 21.10.201 in Oviedo.
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