DAS INSTRUMENT
Wer liest schon Poesie? Nicht unsere Intellektuellen;
sie wollen sie steuern. Nicht Liebende, nicht die
aaaaaKampflustigen,
keine Prüflinge. Auch sie überfliegen sie nach
aaaaaSträußen
und Zaubertrumpfkarten. Nicht die armen
aaaaaSchulkinder,
die heimlich furzen, während sie dagegen geimpft
aaaaawerden.
Poesie wird von den Liebhabern der Poesie gelesen
und von einigen anderen gehört, die man ins Café lockt
oder zu einer Bifokallesung in der Bezirksbibliothek.
Liebhaber der Poesie belaufen sich wohl auf eine Million
Menschen auf der ganzen Erde. Weniger als Skatspieler.
Was diese Menschen erfreut, ist eine nie mörderische Essenz,
hauptsächlich zu Versen destilliert, die in verzückter Ruhe
auf der Oberfläche des Papiers schwebt. Der Rest der Poesie,
mit dem dies früher eine Einheit bildete, beherrscht noch heute
die Kontinente wie immer schon. Jetzt unter der Bedingung,
daß man den wahren Namen nicht nennt. Konstrukte, wilde Poesie,
das Gegenteil, aber auch das Geheimnis des Rationalen,
und wer liest sie dann? Ah, die Liebenden, die Schulkinder,
die Disputanten, Generäle, Mafiabosse, alle lesen sie:
Porsche, Rakentenstart, Gaia, Cool, Patriarchat.
Unter wilden Strophen verlangen viele nach deinem Fleisch,
um sich zu verkörpern. Nur die vollkommene Kunst,
frei vom Gehorsam gegenüber ihrer Zeit, kann dich quer
durch die größeren Gedichte tanzen lassen, in denen du lebst.
Außerhalb aller Poesie zu sein, ist unerreichbare Leere.
Warum Poesie schreiben? Für die bizarre Arbeitslosigkeit.
Für die schmerzlosen Kopfschmerzen, die man anzapfen muß,
um am Schreibarm den gesammelten Moment zu schlagen.
Für die Änderungen, wenn man Facetten eines Verbs ausrichtet,
bevor die Trance verblaßt. Um immer über die eigene Intelligenz
hinaus zu arbeiten. Dafür, sich nicht hochzuarbeiten und dabei
die Armen zu verraten. Für einen Ruhm, der nicht auffrißt.
In der Politik gleicht ihr nicht viel: womöglich
die Erfindung der australischen Kolonialisten, eine nun weit-
verbreitete geheime Wahl, in der sich Deflation verbergen kann,
um als Wohlfahrtsträger Massengrab-Revolutionen zu beschämen,
so axtschneidig, so liktorisch.
War das der einmalige, leuchtende Weltsieg moralischer Feigheit?
Traumrhythmen im Wachzustand und fern vom Bett einzuatmen zeigt
die Begabung. Tragisch sein mit einem Buch auf dem Kopf.
Mit dem 1938 als Nachfahre schottischer Auswanderer auf einer Rinderfarm in New South Wales Geborenen erwuchs dem fünften Kontinent eine sprachmächtige Stimme. Obgleich er jedes seiner Bücher „Der Ehre Gottes“ widmet, ist Murray kein Frömmler, sondern trotz dunkler Anfechtungen, ein aus allen Nähten platzender selbstironischer Chronist und Hedonist. Der einstige Sprachstudent und Übersetzer, der nach Jahren in Sydney und Canberra die elterliche Farm zurückkaufte, kehrte 1986 mit seiner Familie endgültig nach Bunyah zurück, das er immer wieder zu Lesereisen nach Europa verläßt, dem er als bewunderter Dolmetscher australischer Natur, Maloche und Lebenskultur gilt.
Aus Charlotte Grasnick: Poesiealbum 317 , MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2015
in der englischen Sprache, die so verwurzelt ist in ihrer Heiligkeit, so breitblättrig in ihren Freuden und doch so intim und umgangssprachlich.
Derek Walcott
Nie gab es einen Dichter mit weniger Literarität in Stil, Aussehen oder Sprache.
Michael Glover
Murrays Lobgesang und Verdammung kann in Pietismus und Groll münden, aber im Kern seiner Kunst ist er ein Dichter großer Sprachkraft und moralischer Stärke.
Adam Kirsh
Im kulturell brüchigen Australien nähert sich Les Murray dem Rang eines Nationaldichters. Wie einst Robert Frost und Victor Hugo als Schöpfer eines heimischen Ethos weithin Anerkennung fanden, so findet er diese in seiner kontinentalen Heimat.
Alberto Mobilio
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2015
Den Buschbarden von Bunyah haben Kritiker den 1938 im hügeligen Küstenhinterland von New South Wales geborenen Nachfahren schottischer, irischer und englischer Auswanderer genannt. Das Etikett markiert den sandigen Weg des Sprachstudenten von einer ärmlichen Milchfarm in die Lesesäle der Welt und auf die Namensliste für den Nobelpreis. Mit breitem Hut entfaltet der massige Magier ein Panorama des australischen Kontinents wie die Schattengewächse seiner schicksalsgeprüften Kinderseele.
MärkischerVerlag, Klappentext, 2015
Wir Leser sind eine begnadete Innung: Wir sind kostenlos, anstrengungslos, opferlos und gewaltlos genau das, worum sich weltweit Leute bekriegen, verausgaben, verkaufen, vergeuden, verraten: Wir sind – Teilhaber. Dürfen es sein, einfach so. Sind in der Beziehung zur Poesie also das, was im Geschäft von Politik und Ökonomie und sonstigem Machtgebaren nur furchtbare Hackordnungen verfestigt.
Leserschaft, ach: großartigste Instanz – die sich ja sogar einbilden darf, recht eigentlich den Poeten zu schaffen; denn was wäre er ohne uns, die wir die Bücher aufschlagen, die wir das Geschriebene aufnehmen, wie man Nahrung aufnimmt, Witterung, Tuchfühlung. Jedes Buch, zu dem wir greifen, ist Aufhilfe für die vorzüglichste Emanzipation: du machst lesend Dichter, verwandelst Konsum in Genesis.
Auferstehung? Kein Problem. Jeder Buchstabe – Teil eines toten Textes – wird beim Lesen gleichsam ein Grabfliehender, jeder gute Satz eine Gelegenheit zu heiligem Geist, jedes vortreffliche Buch ein Erlöser. Les Murray porträtiert in einem Gedicht die Poesie, als sei sie Jesus: Schreiben, um „sich nicht hochzuarbeiten und dabei / die Armen zu verraten. Für einen Ruhm, der dich nicht auffrißt“.
Der Australier, 1938 geboren, ein massiger, doch kindlicher Kerl, schon mehrfach als Favorit für den Nobelpreis benannt, schreibt vertrackte Gedichte, in Grausamkeit noch wunderlich, in Absurdität so wahrhaftig. Ein von Tieffliegern beschossener Lastkraftwagen brennend, „fährt zur Welt hinaus / mit seinen Jüngern“. Großartig was ein alter Apfel so vermag:
Ein Veteran kann sich in einem Schmetterherbst
großteils fallenlassen, um aus einem Stiefel neu zu wachsen.
Aufgemerkt eben? Beim sonderbaren Wort vom Schmetterherbst? Schön, wenn man Worte noch nie gehört hat (Margitt Lehbert schreibt wohl das beste Murray-Übertragungsdeutsch!).
Der Dichter versetzt sich in einen Zugvogel, in einen Hahnendornbusch, in Kühe am Schlachttag. Er bedichtet elegisch Hunde, Farmterrassen, überhaupt: Pflanzen und Tiere, Arbeit im harten Boden, das Erleben von Wetter und Wirtschaften in freier Natur – es ist, als wehre sich Murray mit nahezu wortorgiastischer Würde, Wut und Wildheit gegen alles blöd Rationale und das so bieder wie brutal Anmaßende menschlicher Überhebung. Ein Augenzwinkern in Richtung Tod.
Die Mutigen sterben nur einmal? Ich schaffe es hundert Mal die Woche,
klammerte mich an meinen Puls, die Schneide der Welt gleich da
Ein Poet der Butterblume, der Sommerkoppel und so merkwürdiger Dinge wie dem „splittrigen Horizont voller Nullperlen“. Herrlichster Bilderwildwuchs. Dreckfingerzeige ins Unausgeschilderte. Lieblichste Derbheit. Als seien Gitarrensaiten Stromleitungen.
A wie Adrenalin, die ursprüngliche A-Bombe, Treibstoff
und Strafe des Strebens
Schreiben als Wegweisung aus aller Ordnung. Wer liest Gedichte?
Nicht die armen Schulkinder,
die heimlich furzen, während sie dagegen geimpft werden.
Les Murray spricht beim 15. poesiefestival berlin mit Margitt Lehbert über sein Werk.
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
Les Murray – Lesung eines seiner Gedichte aus dem Buch Killing The Black Dog.
Schreibe einen Kommentar