Albin Zollingers Gedicht „Straßenbahnfahren“

ALBIN ZOLLINGER

Straßenbahnfahren

Morgens Straßenbahn fahren.
Die Stenotypistinnen wandern daher
In Scharen.
Wie Aquarien stehen die Blumenläden.
Jemand verreist nach dem Meer,
Am Himmel reisen Marienfäden.
Nach und nach werden die Wagen leer.
Auf einmal fahr ich in Wiesen und Bäumen.
Wegweiser zeigen nach blauen Räumen.
Es geht in Nebel, es dunkelt sehr,
Die Baumgärten dämmern wie Algen am Grunde.
Da schwänzelt das Bähnchen, ein feuchter Fisch.
Der Sonnemond schwimmt heuchlerisch.
Darüber ein Riesenangelmann
Sieht den leuchtenden Korken geruhlich an.

1933

aus: Albin Zollinger: Werkausgabe. Artemis & Winkler, Zürich 1981–1984

 

Konnotation

In seinem unbändigen Hunger nach schöpferischer Produktivität steigerte sich der Schweizer Dichter Albin Zollinger (1895–1941) immer mehr in eine manische Schreibwut hinein, die 1941 zu seinem plötzlichen Herztod führte. Während seine Romane kaum verschlüsselt die autobiografische Entäußerung forcieren, erreichte der an seinem Primarlehrer-Beruf leidende Dichter in vielen Gedichten eine schöne Vollkommenheit: den „Wellenschlag eines reinen, von Nähen und Fernen sanft bewegten Gemüts“ (Emil Staiger).
Der aus dem Zürcher Oberland stammende Großstadtpoet verfällt hier als Straßenbahn-Fahrgast einer romantisierenden Träumerei. Die Fahrt führt unversehens in artifizielle Paradiese – in „blaue Räume“ und Naturidyllen. Die Landschaft und die Himmelszeichen verwandeln sich dem träumenden Flaneur in märchenhafte Gestalten; am Himmel steht am Ende ein allegorischer „Riesenangelmann“. Diese kleine Meditation zu einer Straßenbahnfahrt wurde erstmals 1933 in Zollingers Band Gedichte veröffentlicht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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