AUGUST VON PLATEN
Ich bin wie Leib dem Geist, wie Geist dem Leibe dir;
Ich bin wie Weib dem Mann, wie Mann dem Weibe dir,
Wen darfst du lieben sonst, da von der Lippe weg
Mit ew’gen Küssen ich den Tod vertreibe dir?
Ich bin dir Rosenduft, dir Nachtigallgesang,
Ich bin der Sonne Pfeil, des Mondes Scheibe dir;
Was willst du noch? Was blickt die Sehnsucht noch umher?
Wirf alles, alles hin: du weißt, ich bleibe dir!
um 1825
Der prominente literarische Rivale des formstrengen Dichters August von Platen (1796–1835), der ironische Heinrich Heine (1797–1856) nämlich, hat diesen Text und mit ihm verbundene biografische Gerüchte zum Anlass genommen, den Autor dieses hinreißenden Liebesgedichts als Homosexuellen zu denunzieren. Wenn man von solchen Futterneidkämpfen absieht und sich auf die poetische Qualität dieses Textes konzentriert, kann man nur von einem makellosen Gedicht sprechen.
Der auf Oppositionen aufgebaute Text (Geist-Leib, Mann-Weib usw.), der die unauflösliche Verbindung zweier Liebender suggeriert, bewahrt Distanz – durch den „wie“-Vergleich – und etabliert zugleich größtmögliche Nähe zwischen Ich und Du. Im metaphorischen Spiel von „Pfeil“ und „Scheibe“, „Rose“ und „Nachtigall“ wird die homoerotische Liebe nicht nur offensiv zur Geltung gebracht, sondern „als anthropologische Überbietung der heterosexuellen (Liebe) proklamiert“ (Heinrich von Detering).
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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