AUGUST WILHELM SCHLEGEL
Das Sonett
Zwei Reime heiß ich viermal kehren wieder,
Und stelle sie, geteilt, in gleiche Reihen,
Dass hier und dort zwei eingefasst von zweien
Im Doppelchore schweben auf und nieder.
Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder
Sich freier wechselnd, jegliches von dreien.
In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen
Die zartesten und stolzesten der Lieder.
Den werd ich nie mit meinen Zeilen kränzen,
Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket,
Und Eigensinn die künstlichen Gesetze.
Doch, wem in mir geheimer Zauber winket,
Dem leih ich Hoheit, Füll’ in engen Grenzen,
Und reines Ebenmaß der Gegensätze.
um 1800
Der wohl größte Apologet des Sonetts in der deutschen Literaturgeschichte war der Literaturhistoriker, Übersetzer, Dichter und bekennende Romantiker August Wilhelm Schlegel (1767–1845). In einer Vorlesung adelte er das Sonett zum „Gipfel der Reim- und Verskunst“ und verwies auf den in den Sonetten selbst „öfter besungenen Spaß mit der Schwierigkeit des Sonetts“, und die „ganz besondre exorbitante Correctheit“, die bei der Anwendung dieser Gedichtform erforderlich sei.
Im ersten Terzett wendet sich Schlegel gegen den weit verbreiteten Irrtum, die Sonettform lege dem Dichter einen unglücklichen Zwang auf und folge einem willkürlichen Regelwerk. Dagegen hält Schlegel die Form nicht nur für ein „Werkzeug“, sondern für „ein Organ“ des Dichters, das gleichsam physisch wie metrisch zu seiner „Seele und Leib“ gehört. Am Ende steht der Wunsch nach vollkommener Symmetrie der Antithesen – das „reine Ebenmaß der Gegensätze“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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