CHRISTIAN WAGNER
Spätes Erwachen
So wie ein Mensch nach lärmendem Gelag
Noch spät zu Mitternacht nicht schlafen mag
Und seine Ruhe erst findet knapp vor Tag;
Und süß erst schläft beim hellen Morgenschein,
So reichte in die Jugend mir hinein
Versäumter Schlaf von einem vorigen Sein. –
O wüßt ich doch, was mich nicht schlafen ließ!
Ob mich ein Gott vom Bacchanal verstieß?
Ob ich betrunken kam vom Paradies?
1913
Der Glaube an die Möglichkeit einer existenziellen Verwandlung, an den ewigen Wechsel zwischen unterschiedlichen Seins-Zuständen hat das Weltverständnis des schwäbischen Naturdichters Christian Wagner (1835–1918) entscheidend geprägt. Konstitutiv für seine Dichtung ist nicht nur eine Naturphilosophie, die die „Schonung alles Lebendigen“ und die symbiotische Verbundenheit mit der Pflanzen- und Tierwelt predigt, sondern auch der Glaube an die Seelenwanderung.
Der Schlaflose des Gedichts sucht den Zugang zu einer früheren Seinsweise – ihn treibt die Sehnsucht, sich an seine alten Existenzen zurückerinnern zu können. Er beschwört verheißungsvolle Zustände: einen Aufenthalt im Paradies und die Teilhabe an einem orgiastischen Fest der Römer, den Bacchanalien. „Er ahnte“, so Kurt Tucholsky über eine 1913 erstmals erschienene Gedichtsammlung Wagners, „dass die Erscheinung nicht das Ding ist, und dass nie und nimmer der Mensch etwa im Mittelpunkt dieses Treibens stehen könnte. Er war – dogmenlos – fromm.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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