CONRAD FERDINAND MEYER
Der schöne Tag
In kühler Tiefe spiegelt sich
Des Juli-Himmels warmes Blau,
Libellen tanzen auf der Flut,
Die nicht der kleinste Hauch bewegt.
Zwei Knaben und ein ledig Boot –
Sie sprangen jauchzend in das Bad,
Der eine taucht gekühlt empor,
Der andre steigt nicht wieder auf.
Ein wilder Schrei: „Der Bruder sank!“
Von Booten wimmelt’s schon. Man fischt.
Den einen rudern sie ans Land,
Der fahl wie ein Verbrecher sitzt.
Der andre Knabe sinkt und sinkt
Gemach hinab, ein Schlummernder,
Geschmiegt das sanfte Lockenhaupt
An einer Nymphe weiße Brust.
1887
Was für ein provokativer Gedicht-Titel: Hier wird immerhin der Tag eines tödlichen Badeunfalls als „schöner Tag“ deklariert! Der distanzierte Blick auf das Geschehen, den der Dichter Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) hier einnimmt, die Abwesenheit eines lyrischen Subjekts, scheinen auf die Verweigerung emotionaler Anteilnahme hinzudeuten. Über dem schrecklichen Ereignis liegt eine seltsame Starre, gespiegelt im unbeweglichen Wasserspiegel des Sees.
Kann der Dichter deshalb von einem „schönen Tag“ sprechen, weil die Rollen des Geretteten und des Verlorenen hier vertauscht werden? Denn der Überlebende des Unfalls sitzt „fahl wie ein Verbrecher“ an Land, während der Verlorene in eine verheißungsvolle Unterwelt absinkt, wo die erotische Verlockung in Gestalt einer Nymphe auf ihn wartet. Der Schlaf des Todes ist hier ein paradiesischer Zustand, der die „Fahlheit“ der Tagwelt überwindet. In Meyers Gedicht, das hier in der Fassung von 1887 vorliegt, ist der Raum des Todes zugleich der Raum der Kunst.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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