Elke Erbs Gedicht „Bettlerhochzeit“

ELKE ERB

Bettlerhochzeit

Regen hin zur Kastanienallee,
Ich Blinder singe, ich Gehörloser tanze
im Kronenlaub, Unruhe, nächtlich.
Alle meine Häupter verschenke ich gern,
verschreibe, verhökere, verliere den
Bettel. Komm deiner Lust nach,
Regen, hin zur Kastanienallee:
Wedele, wedele, hinter, Städtele.

1976

aus: Elke Erb: Nachts, halb zwei, zu Hause. Texte aus drei Jahrzehnten. Reclam Verlag, Leipzig 1991

 

Konnotation

Ein Volkslied aus dem 18. Jahrhundert, das in seiner ursprünglichen Gestalt in der romantischen Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) zu finden ist, dürfte wohl Pate gestanden haben für Elke Erbs (geb. 1938) Szene einer „Bettlerhochzeit“. „Widele, wedele, / Hinterm Städele / hat der Bettelmann Hochzeit“: So tönt es als lyrischer Lockruf aus dem alten Lied herüber. Elke Erb hat dieses Motiv im Februar 1976 als kleine Genreszene im DDR-Alltag imaginiert.
In der Kastanienallee in Ostberlin beginnen die Blinden und Gehörlosen zu tanzen und sorgen für „nächtliche Unruhe“. Und auch das lyrische Ich denkt nicht an Vernunft, sondern an hedonistischen Selbstverlust. Mit den ästhetischen Imperativen des realsozialistischen Staates war diese Art von spielerisch-experimenteller Dichtung nicht in Übereinstimmung zu bringen.
1949 aus der Eifel in die DDR gekommen, hat Elke Erb immer wieder mit ihrer offenen Poetik und dem von ihr geliebten „Naturwunder Wortspiel“ für produktive Irritationen im alten und neuen Deutschland gesorgt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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