Emmy Hennings’ Gedicht „Mädchen am Kai“

EMMY HENNINGS

Mädchen am Kai

Hab keinen Charakter, hab nur Hunger,
Ich, Passagier im Zwischendeck des Lebens.
Geliebt und gehasst hab ich vergebens,
Und jeden Abend auf der Lunger.
Und diese Kunst, die geht nach Brot…
Und kann man sterben, wohl vor Scham?
Ich bin so müde, lendenlahm,
Und dennoch: Zähne gesund, mein Mund ist rot.
Madonna, laß mich fallen in tiefen Schacht.
Nur einmal noch: behütet sein…
Lieb mich von allen Sünden rein.
Sieh, ich hab manche Nacht gewacht.

1917

aus: Emmy Hennings: … Ich bin so vielfach… Texte, Bilder, Dokumente. Hrsg. von Bernhard Echte. Stroemfeld Verlag, Basel/Frankfurt a.M. 1999

 

Konnotation

In der Münchner und der Berliner Bohème begann Emmy Hennings (1885–1948) eine kräftezehrende Karriere als Tingel-Tangel-Girl, Tänzerin, Kabarettistin und als Geliebte und Muse expressionistischer Dichter. Durch exzessiven Konsum von Morphium und Kokain geriet sie dabei immer mehr in eine Spirale der Selbstzerstörung. Erst durch ihr katholisches Erweckungserlebnis im Jahr 1911 und durch die Begegnung mit dem asketisch gestimmten Dadaisten Hugo Ball (1886–1927) fand sie wieder Halt. Nach dem Tod Balls geriet sie in materielle Note und musste sich als Arbeiterin in einer Tabakfabrik und als Besenbinderin verdingen.
In der Rolle des instabilen „Mädchens am Kai“, das von Vergeblichkeitsgefühlen, aber auch von neuem Lebenshunger gepackt wird, hat sich Emmy Hennings um 1916/17 ein treffliches Selbstporträt geschrieben. Als „Passagier im Zwischendeck des Lebens“ taumelte sie durch ihre freie Künstlerexistenz und selbst ihre religiöse Einkehr konnte sie nicht immer vor dem Weltgefühl des Ausgesetztseins bewahren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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