ERNST JANDL
sommerlied
wir sind die menschen auf den wiesen
bald sind wir menschen unter den wiesen
und werden wiesen, und werden wald
das wird ein heiterer landaufenthalt
1954
aus: Ernst Jandl: Poetische Werke. Bd. 5. Hrsg. v. Klaus Siblewski. Luchterhand Verlag. München 1997
Autoren und Leser von lyrischen Texten sind darauf konditioniert, den Frühling und das mit ihm verbundene Erwachen der Natur ebenso wie eine sommerliche Landschaft mit dem Leben zu verbinden. Auch das Gedicht Ernst Jandls (1925–2000), das im Erstdruck das Datum 14.6.1954 trägt, weckt in seinem Titel die Erwartung einer großen Lebensbejahung. Aber der Dichter kontert die Überschrift mit einem heiter-lakonischen Dementi und dem Schreckbild des unausweichlichen Todes.
In Jandls Werk überlagert von Beginn an eine Todes-Obsession alle positiven Sinngebungen und alle Zeichen der Lebendigkeit. Im „sommerlied“ wird nun das Bild der sommerlichen Wiesen ab der zweiten Strophe in den Bereich des Vergänglichen und allmählichen Verfaulens geschoben. Der letzte Vers liefert mit der zart-biedermeierlichen Fügung vom „heiteren landaufenthalt“ noch einmal einen schönen Sarkasmus. Der poetische Topos von der ländlichen Idyllik wird herbeizitiert – und im gleichen Atemzug aufgelöst.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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