FRIEDERIKE MAYRÖCKER
auf 1 sterbendes Azaleenbäumchen in der Küche
im pot im pot es füllt den küchenraum mit blauer
Farbe es ist zerrauft zerfranst es kann nicht mehr
nicht mehr das Wasser trinken das ich ihm gereicht
wie damals Mutter, konnte keinen Schluck mehr tun
sie konnte nicht mehr trinken / aus dem Eierbecher
ich muszte sehen wie das Bäumchen starb so viele Tage starb
die Füsze: Wurzeln in der Theorie von Regen… wollte
es Mitleid? – es war mir lieb. Die Biegsamkeit
der Nachtigall, das träumte mir am Morgen
2001
aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004
Die blaue Blume im Poesieuniversum Friederike Mayröckers (geb. 1924) ist verwelkt. Wenn die Dichterin hier den poetischen Blick auf ein vegetabilisches Detail richtet, dann wird zugleich das große Abschieds-Motiv des Jahres 2000 mit aufgerufen – der Tod ihres Lebensgefährten und „Ohrenbeichtvaters“ Ernst Jandl. Auch der Tod der Mutter einige Jahre zuvor wird in die Beobachtung des sterbenden Azaleenbäumchens eingeschrieben. Der Text entstand im Januar 2001.
Das „euphorische Auge“ der Dichterin verwandelt sich in Mayröckers Gedichten im neuen Jahrtausend in einen von Trauer verschatteten Blick. Und doch findet die Autorin immer wieder kleine ästhetische Offenbarungen, Blumen auf einer Wiese oder Schnee vor dem Fenster, die den poetischen Prozess wieder in Gang setzen und die Selbsterrettung ermöglichen: „beim Gedichteschreiben ganz eingesponnen in das Heilige in das Wohlwollende, Sprengfreude in mir“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar