GEORG HEYM
Die Blinden
Wo die Blinden kommen,
Rauschen die Bäume vor Schrecken
Und die Vögel schreien in ihren Verstecken.
Aber sie schämten sich nicht,
In ihren härenen Röcken,
Und schlagen den Weg mit den riesigen Stöcken.
Sie haben nicht Zeit
Und sie sprechen nicht
Und immer schnuppert ihr Leichengesicht
Im Winde herum
Nach Sonne und Licht.
1911
Die Blinden sind im Werk des düsteren Frühexpressionisten Georg Heym (1887–1912) die Bedeutungsträger des Unheimlichen, Unheil ankündigende Wesen an der Grenze zwischen Leben und Tod. In einem Gedicht aus dem März 1911 hatte Heym die „blinden Frauen“ als symbolisch Gezeichnete beschrieben, die auf ihrer Stirn das Pentagramm „eines dunklen Gottes“ tragen. Auch in dem wenige Monate später, im Oktober 1911 entstandenen Gedicht begegnen uns „die Blinden“ als Schrecken erregende Gestalten.
Viele Protagonisten in Heyms Gedichten – seien es nun versehrte Menschen oder Himmelserscheinungen oder Wetterphänomene – erweisen sich als unheilvolle Wesen, die eine finale Katastrophe ankündigen. „Die Blinden“ erscheinen hier als dämonische Erscheinungen, die das Totenreich gerade verlassen haben und nun mit ihrem „Leichengesicht“ in einer von Entsetzen erfüllten Welt nach Orientierung suchen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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