Georg Heyms Gedicht „Eifersucht“

GEORG HEYM

Eifersucht

Die Straße wird zu einem breiten Strich.
Die Häuser werden weiß wie eine Wand.
Die Sonne wird ein Mond. Und unbekannt,
Gleichgültig, fremd ein jedes Angesicht.

Sie sehen aus wie Blätter von Papier,
Weiß, unbeschrieben. Aber hinten winkt
Ein schlankes blaues Kleid, das fern versinkt
Und wieder auftaucht und sich fern verliert.

Auf seinem Nacken sitzt die Eifersucht.
Ein altes Weib, gestiefelt. Einen Dorn
Bohrt in das Hirn sie ihm und haut den Sporn
In ihres Reittiers weicher Flanken Bucht.

1910

 

Konnotation

„Ich habe jetzt für Farben einen geradezu wahnsinnigen Sinn“, notiert der Expressionist Georg Heym (1887–1912) in einer Tagebuchaufzeichnunq vom September 1910 – und deklariert im gleichen Atemzug Weiß und Violett zur „Farbe der Krankheiten“. Tatsächlich sind die poetischen Befunde, die der verzweifelt-lebenshungrige Poet und Jurist der Gesellschaft seiner Zeit stellt, immer von Signalfarben markiert. Im Oktober 1910 kündigt das Weiß in einem Gedicht die Ankunft der „Eifersucht“ an.
Als er dieses Gedicht schrieb, hatte Heym gerade seine ersten Gedichte in einer Wochenschrift veröffentlicht und mit seinen Auftritten im Neopathetischen Cabaret Berlins den Verleger Ernst Rowohlt neugierig gemacht. Neben die weiße Physiognomie der Eifersucht traten in den Gedichten alsbald die düstersten Farbenspiele, die das Todesgrauen und die Dämonie der Großstadt heraufbeschwörten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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