Günter Eichs Gedicht „Zuversicht“

GÜNTER EICH

Zuversicht

In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.

1965

aus: Günter Eich: Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Jörg Drews. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

1965 veröffentliche Walter Höllerer (1922–2003) in der Zeitschrift Akzente seine „Thesen zum langen Gedicht“: „Wer ein langes Gedicht schreibt“, so Höllerer, „schafft sich die Perspektive, die Welt freizügiger zu sehen.“ Der Lakoniker Günter Eich (1907–1972) nahm sich das sehr zu Herzen und schrieb nun auf seine Weise eine Folge von „langen Gedichten“ – das längste davon umfasste fünf Zeilen. In einer seiner berühmtesten Miniaturen, nachzulesen im Band Anlässe und Steingärten (1966), thematisiert Eich ironisch die Reichweite seiner Gedichte bei den Lesern.
Auch so kann Weltpoesie aussehen: Auf der Landkarte Europas verzeichnet der Autor gerade mal zwei Leser seiner Gedichte. Und erzielt zudem noch einen Heiterkeits-Effekt, indem er neben dem fernen Saloniki, einem Ortsnamen, an den sich noch Mythen und Hoffnungen anlagern könnten, ausgerechnet das profane Kurstädtchen Bad Nauheim anführt. Die von vielen Kollegen Eichs gehegten Hoffnungen auf die Massenwirksamkeit der Poesie werden hier blamiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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