Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Rätsel“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Rätsel

Ein Meer größer als das Meer,
und du siehst es nicht.

Ein Meer, in dem du schwimmst,
und du spürst es nicht.

Ein Meer, das in deiner Brust rauscht,
und du hörst es nicht.

Ein Meer, in dem du badest,
und du wirst nicht naß.

Ein Meer, aus dem du trinkst,
und du merkst es nicht.

Ein Meer, in dem du lebst,
bis du begraben wirst.

2005

aus: Hans Magnus Enzensberger: Rebus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009

 

Konnotation

In den biblischen Apokryphen gibt es eine Stelle, da die mythische Gestalt Henoch von einem Meer berichtet, das „größer ist als das (irdische) Meer“. Gemeint ist dort das sagenhafte „Himmelsmeer“, als weit umspannendes, alle herkömmlichen materiellen Formationen auflösendes Himmelsfirmament. Bei dem Dichter Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), seit vielen Jahren der intelligenteste poetische Skeptiker der Bundesrepublik, darf man zwar biblische Anspielungen in Betracht ziehen, aber sein „Rätsel“ scheint sich nicht in der Benennung himmlischer Sphären zu erschöpfen.
Es ist von einer universellen Präsenz des rätselhaften Meeres die Rede, das alle Lebensaktivitäten und Erscheinungsformen menschlichen Daseins umfasst. Ein existenzielles Außerhalb, eine Selbstbehauptung jenseits dieses Meeres gibt es für die menschliche Spezies nicht: Alles hat in diesem poetisch evozierten Meer seinen Ursprung, alles mündet in dieses Meer und endet auch darin.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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