Harald Hartungs Gedicht „Blick in den Hof“

HARALD HARTUNG

Blick in den Hof

Während es anfängt zu schneien
schaukelt das Mädchen im Hof
schaukelt sich tief
ins wachsende weiße Dunkel
Glück ist ein Sekundenschlaf
Ich schaue auf, die leere Schaukel
schwingt noch ein wenig nach

2002

aus: Harald Hartung: Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957–2004. Wallstein Verlag, Göttingen 2005

 

Konnotation

Eine Doppel-Existenz als Lyriker und als LyrikKritiker zu führen, ist ein schwieriger Balanceakt. Der 1932 geborene Harald Hartung, seit den 1960er Jahren eine feste Größe in der deutschen Lyrikkritik, hat aufs Schönste bewiesen, dass die kritische Beschäftigung mit Gedichten auch der Verfeinerung des poetischen Sensoriums dienlich ist. Hartung bevorzugt als Lyriker einen unsentimentalen Realismus, der an angelsächsischen Lyrikern (z.B. Philip Larkin) geschult ist und eine entpathetisierende Haltung mit ironischem Understatement verbindet.
Der heitere Melancholiker, als der sich Hartung in vielen Gedichten präsentiert, verwandelt sich im Schlusskapitel seines Opus magnum Aktennotiz meines Engels (2005) in einen diskret die eigenen Erschütterungen verbergenden Chronisten des Unglücks. Zu den ergreifenden Gedichten dieses Kapitels gehört auch die zarte Miniatur vom schaukelnden Mädchen, das buchstäblich nur einen Augen-Blick lang in das „weiße Dunkel“ des Schnees und zugleich des Vergessens schwingt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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