HUGO BALL
Der Schizophrene
Ein Opfer der Zerstückung, ganz besessen,
Bin ich – wie nennt ihrs doch? – ein Schizophrene.
Ihr wollt, dass ich verschwinde von der Szene,
Um euren eignen Anblick zu vergessen.
Ich aber werde eure Worte pressen
In des Sonettes dunkle Kantilene.
Es haben meine ätzenden Arsene
Das Blut euch bis zum Herzen schon durchmessen.
Des Tages Licht und der Gewohnheit Dauer
Behüten euch mit einer sichern Mauer
Vor meinem Aberwitz und grellen Wahne.
Doch plötzlich überfällt auch euch die Trauer.
Es rüttelt euch ein unterirdischer Schauer
Und ihr zergeht im Schwunge meiner Fahne.
1924
Nachdem er sich demonstrativ von dem von ihm mitbegründeten Spektakulum des Dadaismus distanziert hatte, ließ der eigensinnige Freigeist und Mystiker Hugo Ball (1886–1927) ein paar Jahre seine Gedichtproduktion ruhen. Um den Jahreswechsel 1923/24 besann er sich wieder seiner poetischen Leidenschaft und verfasste einen Zyklus „schizophrener Sonette“, den er seinem Freund Hermann Hesse (1877–1962) zum 47. Geburtstag zueignete.
Ball hatte sich zuvor mit der „Bildnerei der Geisteskranken“ befasst, die der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn 1922 erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte. Der Dichter spricht hier in der Maske des schizophrenen Künstlers, der sich gegen die rationalen Limitierungen der Wahrnehmung auflehnt. Balls Ehefrau Emmy Hennings formulierte gegen das Gedicht einen berechtigten Einwand: „Der Schizophrene“ könne nicht aus seiner Verzauberung heraustreten, Balls Gedicht dagegen nehme eine distanzierte Perspektive auf die Krankheit ein.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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