Johannes Bobrowskis Gedicht „Das Wort Mensch“

JOHANNES BOBROWSKI

Das Wort Mensch

DAS WORT MENSCH, ALS VOKABEL
eingeordnet, wohin sie gehört,
im Duden:
zwischen Mensa und Menschengedenken.

Die Stadt
alt und neu,
schön belebt, mit Bäumen
auch
und Fahrzeugen, hier

hör ich das Wort, die Vokabel
hör ich hier häufig, ich kann
aufzählen von wem, ich kann
anfangen damit.

Wo Liebe nicht ist,
sprich das Wort nicht aus.

1965

aus: Johannes Bobrowski: Die Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1998

 

Konnotation

Johannes Bobrowski (1917–1965), der aus Tilsit stammende Dichter des „Sarmatischen Diwans“, hatte nach seinem plötzlichen Ruhm 1962 im Scherz erklärt, er wolle einhundertfünfundzwanzig Gedichte schreiben, ordentlich verteilt auf drei Bücher, und dann lege er sich ins Grab. Diese Vision sollte auf fast unheimliche Weise in Erfüllung gehen. In einem seiner letzten Gedichte, entstanden im Juni 1965, hat sich Bobrowski in einer lakonischen Ernüchterung anthropologischer und ideologischer Idealismen versucht.
Jedes Pathos wird gleich im Eingangsvers aus der „Vokabel Mensch“ herausgenommen, sie wird fast buchhalterisch in das Wörter-Archiv des „Duden“ eingeordnet. In den beiden folgenden Strophen verweist das lyrische Ich auf die Überstrapazierung der Kategorie „Mensch“ in der in ihrer blinden Geschäftigkeit „belebten“ Gesellschaft. Am Ende wird das Gedicht selbst pathetisch – durch die apodiktische Verbindung menschlicher Existenz mit einem Liebesethos.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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