Joseph von Eichendorffs Gedicht „Der verspätete Wanderer“

JOSEPH VON EICHENDORFF

Der verspätete Wanderer

Wo werd’ ich sein im künft’gen Lenze?
So frug ich sonst wohl, wenn beim Hüteschwingen
In’s Tal wir ließen unser Lied erklingen,
Denn jeder Wipfel bot mir frische Kränze.

Ich wußte nur, daß rings der Frühling glänze,
Daß nach dem Meer die Ströme funkelnd gingen,
Von fernem Wunderland die Vögel singen,
Da hatt’ das Morgenrot noch keine Grenze.

Jetzt aber wird’s schon Abend, alle Lieben
Sind wandermüde längst zurückgeblieben,
Die Nachtluft rauscht durch meine welken Kränze,

Und heimwärts rufen mich die Abendglocken
Und in der Einsamkeit frag’ ich erschrocken:
Wo werd’ ich sein im künft’gen Lenze?

1854

 

Konnotation

Joseph von Eichendorff (1788–1857) hat sehr viele romantische Wanderlieder geschrieben – aber nur wenige, in die sich so markant das Bewusstsein der Vergänglichkeit eingeschrieben hat wie in das Poem vom „verspäteten Wanderer“. Es ist vermutlich 1854 entstanden und erzählt vom Abschied von der verheißungsvollen Welt des Frühlings und dem Heraufdämmern des Lebensabends. Der Kreislauf der Jahreszeiten scheint an ein Ende gekommen zu sein: bald werden zukünftige „Lenze“ nur noch im Jenseits zu haben sein.
Die Ausgelassenheit des Wanderns im lebensgewissen Frühling ist in diesem Sonett nur noch Erinnerung; die „Kränze“ der Wanderer sind welk geworden. Auch haben sich die Weggefährten des Ich verflüchtigt, sind „wandermüde“ zurückgeblieben. Was bleibt, ist die bange Frage des Einsamen an den eigenen Seinszustand in „künftigen Lenzen“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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