Jürgen Theobaldys Gedicht „Alarm“

JÜRGEN THEOBALDY

Alarm

Amsel, die entlaubten Zweige klagen,
die Stürme sprengen das Gehölz.
Regen schwemmt die Erde zu Tal,
am Rand der Autobahn verrosten Wälder.

Amsel, schalte den Fernseher ab!
Die Zweige klagen zu sehr.
Die Knospen fallen aus.
Die Haarwuchsmittel versagen.

Amsel, fliege mit einem Lied davon!
Die Blätter rascheln nicht mehr.
Dein schwarzes Auge sieht dich,
schwarz umrahmt im Bild.

1990er Jahre

aus: Jürgen Theobaldy: 24 Stunden offen. Verlag Peter Engstler, Ostheim 2007

 

Konnotation

Die Alltagslyrik, durch die der 1944 geborene Jürgen Theobaldy bekannt wurde, gehört in die Zeit der neuen Subjektivität der 1970er Jahre. Theobaldy setzte dem hermetischen und symbolbeladenen Gedicht seine kalkuliert schlichten, durch die amerikanische Pop-Lyrik beeinflussten Texte gegenüber. Der Autor experimentierte dann aber bald auch mit klassischen Formen. Sein breit angelegtes Themenspektrum enthält immer noch Gedichte mit gesellschaftskritischen Impulsen.
„Alarm“ – dem lauten Titel folgt ein verhaltenes, stilles Gedicht. Dabei nennt es verschiedene Umweltzerstörungen, geräuschvolle und lautlose. Die Amsel wird angesprochen wie ein großer Freund. Es geht dem Sprecher hier nicht ums Eingreifen in die Verhältnisse, er kann schließlich nur noch zur Flucht raten. Die melancholische Prognose des Gedichts legt nahe, dass der Alarm zu spät gekommen ist: Im düsteren, rätselhaften letzten Satz scheint der schwarze Vogel nur noch als lebloses, schwarz umrahmtes Bild zu existieren.

Sabine Peters (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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