Karin Kiwus’ Gedicht „Kleine Erinnerung an den Fortschritt“

KARIN KIWUS

Kleine Erinnerung an den Fortschritt

Ja, damals, als wir Kinder waren,
nach der Revolution, haben wir
in Baschkirien noch
den Großvater gesehen, wie er
mit hellen lachenden Augen
die erste Glühbirne verfolgt hat,
die blitzend nackt durch unser
Dorfschulzimmer gependelt ist,
hin und her und hin und her.

Aber nun?

1980er Jahre

aus: Karin Kiwus: Das Chinesische Examen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1992

 

Konnotation

Von Lenin, dem Vordenker und Vollstrecker der bolschewistischen Revolution in Russland, ist die berühmte Sentenz überliefert: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Nur von dieser Maxime des kommunistischen Fortschrittsglaubens her ist zu verstehen, warum im Gedicht von Karin Kiwus (geb. 1942) das Vorführen einer leuchtenden Glühbirne in einem Schulhaus im südlichen Ural zur triumphalen Inszenierung wird. In diesem kleinen Rollengedicht verweist Kiwus auf einen historischen Augenblick der Hoffnung – der dann durch die knappe Frage im Schlussvers ernüchtert wird.
Das in den 1980er Jahren entstandene Gedicht ist ein Exempel für die linke Melancholie, die weite Teile der kulturrevolutionär inspirierten 68er Generation nach dem Zerfall der sozialistischen Utopien erfasst hatte. Der kurze revolutionäre Moment des Fortschritts ist nur noch Erinnerung. Eine einzige lakonische Frage genügt Karin Kiwus, um das geschichtlich Heillose der kommunistischen Fortschritts-Politik heraufzubeschwören.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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