Kathrin Schmidts Gedicht „Frühlings Verkennen“

KATHRIN SCHMIDT

Frühlings Verkennen

der frühling bittert, das grün wirft gallene blasen
auf wundem holz und auf der eignen haut
und hätte doch süß sein könn’ wie manchmal die jahre
davor, und wie dein lachen auch so laut

die rippen geweitet, so wolln wir schon zerspringen
vor kält, fragst du, es ist ein frierendes blut
uns auf die lippen getreten, wir könnten noch reden
dabei, mit heißen händen, unbeschuht

die schuh zog ich aus: die soll ein eiliger nehmen
der fortsein will und barfuß nicht weit käm
komm, liebster, geh, und bleib, und dreh dich weg
dazu, weil ich dich sonst noch zu mir nähm

1987

aus: Kathrin Schmidt: Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik. Verlag Neues Leben, Berlin 1987

 

Konnotation

Ein Frühlings-Gedicht, das alle Hoffnungen auf einen Neuanfang in dieser Jahreszeit schon in den ersten Zeilen einkassiert. Denn das überall aufbrechende Grün des Frühlings wirft „gallene Blasen“. Offenbar ist das große Projekt der Liebe, von dem das Mitte der 1980er Jahre entstandene Gedicht spricht, sehr gefährdet. Der „Liebste“ will sich nicht mehr auf „das Bleiben“ verpflichten, das Ende der Liebe ist unwiderruflich – und gegen diesen Verlust wappnet sich das lyrische Ich mit Paradoxa und Ironie.
Kathrin Schmidt (geb. 1958), im thüringischen Gotha geboren, hat viele Stationen einer veränderungsbereiten DDR-Sozialisation durchlaufen: Nach einem Psychologie-Studium in Jena arbeitete sie zunächst als Kinderpsychologin und belegte dann einen Sonderkurs am Literaturinstitut in Leipzig. In dieser Zeit entstand das Gedicht, eins der besonders traditionsbewussten Formkunststücke, die Schmidt seit ihrem Debüt Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik (1987) vorgelegt hat. Eine vorbehaltlose Liebe, die sich ohne Einschränkung zum Partner bekennt, wird hier als aussichtsloses Unternehmen benannt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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