MARCEL BEYER
Ich sah die Schatten kommen
Nach einem Jahr kann ich nicht sagen, ob ich
das Bild tatsächlich so gesehen habe, die beiden
morgens in der Wellnesszone. Ich sehe ihren
Hinterkopf, dazu sein Knie, ich weiß nicht, ob
er Lippen hat, er sitzt am Beckenrand, sie trägt
den Anzug. Die Scheibe, der Hauch, von oben
das Licht. Nach einem Jahr weiß ich nicht, ob sie
schaut, er aber hat die Lider fast geschlossen, kein
Schlips, kein Nylonhemd, kein Cocktailsessel. Das
Wasser funkelt wie gewöhnlich, im Kiefernwald auf
halber Strecke eine Lichtung, ich schwimme nicht.
nach 2000
aus: Marcel Beyer: Erdkunde. DuMont Buchverlag, Köln 2002
Liest man die Gedichte des 1965 in Taiflingen geborenen Marcel Beyer kann man auf den Gedanken kommen, in ihnen wäre eine Liste der sichtbaren Welt eingeschrieben. Als bestünde der Inhalt allein im Sichtbaren, in Objekten und Personen die Geschichte speichern. Geschichte ist das große Thema Beyers, doch der Dichter und Romanschriftsteller weiß mit dem Sichtbaren ein phänomenologisches Spiel zu treiben, das in den Szenen und Weltausschnitten seiner Texte auch um die Unzulänglichkeit sinnlicher Wahrnehmung kreist.
Die vom heimlichen Voyeur in Beyers Gedicht eingenommene Perspektive lässt nur erahnen was geschieht: Eine Frau und ein Mann in erotischer Zweisamkeit. Doch die Wahrnehmung wird sogar noch durch den Gestus des Erinnerns in die Ferne gerückt. Je weiter die Distanz des Blicks auf das Geschehen fortrückt, desto elliptischer wird das Gedicht, um schließlich über die Erinnerung die Situation wieder zu vergegenwärtigen und mit einer befremdenden Geste abzubrechen.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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