Michael Krügers Gedicht „Aktennotiz“

MICHAEL KRÜGER

Aktennotiz

Nachts hörte ich wieder
die Schreie der Vögel,
und das Gras hörte mit.
Waffenstillstand, scharf
geladen mit einem Wort,
das bleibt. Fünfzig Jahre
hat uns Hitler ernährt,
jetzt sollen die anderen
essen, wir schauen zu,
wie sie verrecken,
die Gabel im Hals.
Nachts hörte ich wieder
die Schreie der Vögel,
das geflügelte Epos
der Angst.

um 1995

aus: Michael Krüger: Archive des Zweifels. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001

 

Konnotation

In einer „Aktennotiz“ sind historische Traumata wohl kaum unterzubringen. Nur Gedichte können von der mörderischen deutschen Vergangenheit sprechen, ohne in floskelhaftes Pathos oder Besserwisserei zu verfallen. Michael Krüger (geb. 1943), ein hellwacher Melancholiker, dessen Gedichte bei aller Schwermut heiter und gelassen wirken, gelingt es, wie beiläufig von den intellektuellen Folgen der deutschen Geschichtspolitik zu erzählen.
Selbst fünfzig Jahre nach dem Ende der deutschen Barbarei drängt sich Hitlers Schreckensherrschaft in die Träume der Nachgeborenen. Das lyrische Subjekt versucht die Ereignisse und ihre kulturelle Reflexion auf Distanz zu halten – aber die Bilder des Grauens kehren zurück. Es ist in diesem verstörenden Text kaum auszumachen, wer hier spricht: ein Ich, das sich den immerwährenden Diskurs über die Nazi-Zeit vom Leibe halten will und die Aggression nach außen richtet? Oder eine Person, die tagaus tagein von den Alpträumen der Verfolgung und der Angst eingeholt wird?

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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