OSKAR PASTIOR
rechnung von heute
mit zehn war ich zehn
mit zwanzig rund dreißig
mit dreißig kaum zwanzig
vierzig waren vierzig aber nicht jahre
fünfzig waren sechzig minus zehn
sechzig waren fünfzig plus zehn
als meine mutter geboren wurde war mein vater neun
als meine mutter vierzig war war ich die hälfte
als ich starb war ich über sechzig
als ich über sechzig war war mein vater über dreißig
und meine mutter über drei
als ich rechnen konnte war ich unter zehn
als ich unter zehn war wurde ich geboren
1990er Jahre
aus: Oskar Pastior: Das Hören des Genitivs. Gedichte. Carl Hanser Verlag, München 1997
Obwohl sich der Sprachartist und poetische Wortschöpfer Oskar Pastior (1927–2006) den mathematischen Literaturprinzipien der internationalen Literaturgruppe „Oulipo“ (= „L’Ouvroir de Littérature Potentielle“) verschrieben hatte, hat er innerhalb seines poetischen Werks die mathematische Logik stets systematisch ausgehebelt. Besonders in einem anrührenden Lebenslauf-Poem, das aus den neunziger Jahren stammt, hat er eine verwirrende „Rechnung“ aufgemacht.
Die hübsche Parodie auf die berühmten Lebenslauf-Gedichte der deutschen Literaturgeschichte (z.B. auf H.C. Artmanns „mit einem jahr ein kind“; vgl. Lyrikkalender vom 17.1.2007) bedient sich kauziger Tautologien und heiterer Abweichungen von einer numerischen Logik. Sein Leben bat Oskar Pastior hier nicht als ein einziges Kontinuum mit stetigem Erfahrungszuwachs oder fortlaufender Vervollkommnung beschrieben, sondern als Kunst der (auch numerischen) Überraschung.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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