Peter Hacks’ Gedicht „Der Eilbrief“

PETER HACKS

Der Eilbrief

Die Post geht langsam und das Leben schnell.
Ich schreib dir einen Eilbrief, und ich sag,
Wie sehr ich dich erwäg, und an dem Tag,
Wo du ihn kriegst, wird mir der Morgen hell

In deinem süßen Bett. Der alte Mann,
Der ihn besorgt, ist atemlos, denn du
Wohnst hoch, und er verdient sich was dazu.
Der Brief, der stak im Postamt nebenan.

Nun zur Verallgemeinerung. Erfahrung
Ist solch ein Hinkfuß, der den Sachverhalt,
Nach unvertretbar langer Aufbewahrung,
Vor Eifer keuchend, in den Briefschlitz knallt.
Der Text der Welt wird stets zu spät gelesen.
Und nur im Vorgriff packt der Geist das Wesen

1960er Jahre

aus: Peter Hacks: Hacks Werke in fünfzehn Bänden. Bd. 1: Die Gedichte. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2003

 

Konnotation

Als Stalin-Apologet und Goethe-Verehrer hat der 1926 in Breslau geborene und 2003 in Groß Machnow gestorbene Peter Hacks sich wenig Freunde gemacht. Den Vorwurf der Epigonalität wird man aber zumindest zurücknehmen müssen, wenn man einen näheren Blick auf seine Gedichte wirft. Der Rekurs auf die Klassik mag stattfinden, Hacks spielt aber gekonnt ironisch mit seinen Vorbildern.
„Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, der rechte Augenblick geht schnell vorüber“. – So wird vom Philosophen Seneca in seinem Traktat „Über die Kürze des Lebens“ ein Ausspruch des Arztes Hippokrates überliefert. Hacks’ Sonett variiert dieses Diktum, als müsste man es den neuen, durch mediale Beschleunigung rasant gemachten Umständen anpassen. Während der Eilbrief im gewohnten Zeitmaß auf den Weg geht, ist der Anlass für den Brief, die Anbandelung eines Liebesabenteuers, längst vollzogen. Mit der Ankunft des keuchenden Boten wird klar: der übrige Rest der Welt läuft in schnellerem Takt als der Schriftverkehr.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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