Rainer Brambachs Gedicht „Niemand wird kommen“

RAINER BRAMBACH

Niemand wird kommen

Niemand kam über das Feld.
Nur Regengewölk, Wind.
Niemand wird kommen, der sagt:

Lehmgestalt, steig aus dem Graben,
ich habe deine Gedanken gehört.
Gehe! Die schöne Welt erwartet dich.

Niemand ruft: He, noch nicht unterwegs?
Dein Freibrief ist gültig,
leicht lesbar die Schrift der Redlichkeit.

Ich sah als Kind auf dem Jahrmarkt
den Tanzbären sich drehen,
hielt mich später am Tage versteckt,
kenne einige Gefängnisse inwendig
und auswendig die Sprache der Henker.

Niemand. Regengewölk, Wind.

1983

aus: Rainer Brambach: Gesammelte Gedichte. Diogenes Verlag, Zürich 2003

 

Konnotation

Als junger Schauspielschüler hatte der Dichter Rainer Brambach (1917–1983) bereits die unliebsame Bekanntschaft mit den Grenzbehörden und patriotischen Institutionen seiner Heimatländer gemacht. In der Schweiz wies man ihn wegen „Arbeitsscheu und Herumtreiberei“ außer Landes, in Frühjahr 1939 verfolgte ihn die Wehrmacht mit einem Gestellungsbefehl – der als Deserteur deklarierte Brambach floh nach Frankreich und wieder zurück in die Schweiz, wo man ihn einige Monate internierte. Von diesem Lebensabschnitt erzählt auch das Gedicht, das 1983, im letzten Gedichtband Brambachs, erstmals publiziert wurde.
Ein nomadisierender Einzelgänger, der ganz auf sich allein gestellt ist und auf göttlichen Beistand (der die „Lehmgestalt“ wiederbelebt) nicht mehr hoffen will, stellt sich hier einen „Freibrief“ aus. Verbündete dieses Freundes der Jahrmärkte sind nur die launischen Wetterphänomene. Einzig die Suchbewegung vermag dieses einzelgängerische Ich am Leben zu halten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00