RAINER MARIA RILKE
Ich fürchte mich so vor des Menschen Wort
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
Sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
1898
Was moderne Literaturtheoretiker „die Knechtschaft der Zeichen“ nennen, hat der Dichter Rainer Maria Rilke (1875–1926) schon früh als unauflösbaren Sprachzweifel erfahren. Sein früher Gedichtband Mir zur Feier (1899) markiert den Wandel vom lyrischen Enthusiasmus zur Sprachskepsis. Programmatisch führt dies ein Gedicht vor, das Rilke als 22jähriger Student in Berlin-Wilmersdorf schrieb.
Hier artikuliert sich nicht nur die Furcht vor dem begrifflichen Festzurren der Wörter, ihrer Instrumentalisierung in starren Definitionen, es geht auch um die Erkenntnisarroganz der Wissenschaft, die für alle Probleme eine Erklärung parat hält. Rilkes Gedicht beklagt die verbale Entzauberung der Welt und predigt dagegen eine ans Mystische grenzende Ding-Frömmigkeit. „Die Dinge singen“: Der Glaube an die Musik der Dinge wird zum zentralen Motiv seiner späteren Dichtungen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Schreibe einen Kommentar