RALF ROTHMANN
Rundbrief
Meine Liebe, dies war erst die Jugend,
Frühjahr tiefer Bitternis.
Herr Minister für Arbeit, Soziales und Sonne,
mir haben die Götter das Feuer gestohlen,
während Kosten mit mir spielten und
Blumen mich bissen, Rosen, abendrot.
Nun wächst Unkraut im Bett.
Es lachen die atombetriebenen Hühner,
und wenn ich mich umbringe,
wird es wegen einer Lappalie sein.
Verehrte Akademie für Dichtung und Maschinenbau,
das Leben ist schon so lange zu kurz.
Meine Tage sind vergangen wie Rauch,
die Hoffnung wurde zu Wasser.
möchte Mitglied werden.
1990er Jahre
aus: Ralf Rothmann: Gebet in Ruinen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000
Ein berühmtes geistliches Lied, der Psalm 102, formuliert das „Gebet eines Elenden“, der die ganze Bitterkeit seines Daseins beklagt. In seinem „Heulen und Seufzen“ spricht er auch von der Vergänglichkeit des Lebens: „Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch“. Diese religiöse Unterströmung seines Gedichts hat der Erzähler und Dichter Ralf Rothmann (geb. 1953) hinter lapidaren und schnoddrigen Mitteilungen verborgen. Alte mythische Motive treffen hier auf den lächerlich erscheinenden Erfahrungshorizont unserer Gegenwart.
Das wuchtige Pathos antiker Erzählungen kollidiert mit den Alltagsproblemen einer zwischen Atom-Angst, „Kosten“-Kalkulationen und Vereinsmeierei schwankenden Gesellschaft. Am Ende steht die ebenso moderne wie jämmerliche Bekundung eines Bedürfnisses nach Gemeinschaftlichkeit – die „Mitgliedschaft“, wo auch immer, ist das Daseinsprinzip. Aber die Sehnsucht nach Transzendenz lässt sich auch von modernen Ernüchterungserfahrungen nicht stillstellen – davon handeln Ralf Rothmanns Gedichte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar