Richard Leisings Gedicht „Homo sapiens“

RICHARD LEISING

Homo sapiens

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Er will auch sein Rettich und Eisbein.

Unsertäglichbrot genügt ihm nich
Er will auch einen Brotaufstrich.

Von der Wiege bis zum Sarg
Einmal in der Woche Quark.

Mein Herr, wie wünschen Sie Ihr Ei?
Mein Herr, ich will zwei.

Der Mensch braucht seine Freunde schier
Da schuf der Mensch Bier.

Käse muss auch sein
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Er braucht fürs Leben ein Ideal
Etwa drei- bis viermal.

Zu einem richtigen Arbeiterstaat
Gehört ein richtiger Kartoffelsalat.

Vom niedrigen Materialismus weg!
Man würzt seinen Senf mit Speck.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Aber es muss da sein.

nach 1960

aus: Richard Leising: Gebrochen deutsch. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 1990

 

Konnotation

Die zwei Veränderungen, die der sächsische Lyriker Richard Leising (1934–1997) im Verlauf eines Vierteljahrhunderts an diesem Gedicht vorgenommen hat, spiegeln auf hintersinnige Weise die Verfallsgeschichte des real existierenden Sozialismus in der DDR. Mit der leichten Abwandlung des letzten Verses demonstrierte Leising auch den grassierenden Utopieverlust der DDR-Dichter. In der Urfassung des Gedichts, das in den 1960er Jahren entstand, lauteten die letzten beiden Zeilen: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein / Also führt er den Kommunismus ein.“
Als 1975 das lyrische Debüt Leisings in der DDR erschien (Poesiealbum 97), verwies er in seinem programmatischen „Homo sapiens“-Gedicht auf die noch unerfüllten Heilsversprechen des Sozialismus und dichtete: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein / Es müßte ganz schnell Kommunismus sein.“ Die politische Desillusionierung trieb den Dichter immer mehr in die Einsamkeit. Als dann schließlich 1990 die karge Bilanz von Leisings Dichterleben erschien, ein Band mit gerade mal 35 Gedichten (Gebrochen deutsch), war der Kommunismus als poetische Schlusspointe verschwunden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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