Robert Schindels Gedicht „Sehnliedchen“

ROBERT SCHINDEL

Sehnliedchen

Nie gesehne blonde Frau
Im Speisewagen, im Speisewagen
Ich mache inneren Kotau
Im Speisewagen, im Speisewagen

Setz mich schließlich in mich rein
In mein Behagen, in mein Behagen
Zieh die blonde Frau hinein
In mein Behagen, in mein Behagen

Bleibt sie bisschen in mir drin
Eine Kusskajüte, eine Kusskajüte
Und ich träume vor mich hin
Von der Kusskajüte, von der Kusskajüte

Klingt durch dieses Kusskajüt
Wunderbar
Die Sinnesuite
Wunderbar

um 2000

aus: Robert Schindel: Wundwurzel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2005

 

Konnotation

Die verqueren Reime und originellen Bildfindungen des 1944 geborenen Dichters Robert Schindel sind inspiriert von den plebejischen und exzentrisch-jiddischen Traditionen der kosmopolitischen Metropole Wien. Den Tod seines Vaters im KZ Dachau und seine jüdische Herkunftsgeschichte hat Schindel in seiner geschichtsversessenen wie sinnlichen Poesie immer wieder vergegenwärtigt. Daneben drängt es ihn in seiner Liebesdichtung zu quergängerischen Metaphern und eigensinnigen Neologismen.
In seinen zahlreichen „Sehnliedchen“, wie in diesem nach 2000 entstandenen Gesang auf eine „nie gesehene blonde Frau“, findet Schindel zu einer eigentümlichen Melange aus Humor, Melancholie und Liebesemphase. Der Dichter erscheint als Trobadour, dem schon der Traum einer erotischen Eroberung inneres „Behagen“ verschafft. In anderen Gedichten schaut sich der Dichter der Liebe als trauriger Harlekin bei seinem Scheitern zu. Hier aber konzediert er sich den Selbstgenuss in der „Kusskajüte“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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