Sybil Volks’ Gedicht „Serpentinen-Terzinen“

SYBIL VOLKS

Serpentinen-Terzinen

Wir sind die kurvenreichen, weichen Weiber,
und deshalb geht es bei uns immer rund
ums Lieben, Laben, Loben unsrer Leiber.

Zwölf Lippen haben wir, nicht nur im Mund,
zwei Busen, macht vier Brüste, Backen acht.
Die Symmetrie steigt uns zu Kopfe und

aus Haaren regnen Nadeln in die Nacht.
Wenn wir so rundungsreich beinander liegen,
nehmen wir scharfe Kurven nicht zu sacht.

Kann sich die eine um die andre biegen,
was soll uns da der Ruf nach scharfen Kanten und Ecken.
Aus den Kurven woll’n wir fliegen!

nach 2000

aus: Lyrik von Jetzt. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003

 

Konnotation

Die Faszination für die Gebräuche und Moden des Orients speiste von Anfang an nicht nur das wissenschaftliche Interesse der Europäer. Seit die Länder des Orients mit vergleichsweise geringer Gefahr bereist werden konnten, wurde die Region zu einer Projektionsfläche vor allem auch erotischer Männerfantasien, die sich mit Hilfe der in die Ferne rückenden Exotik unverblümt ausmalen ließen. Ein Objekt dieser Orientalik ist die Serpentinen-Tänzerin, deren Gestalt in der bildnerischen Kunst um 1900, aber auch in den Varietes der Zeit zum festen Repertoire gehört.
Gleich zwei Männerdomänen gehen die Terzinen von Sybil Volks (geb. 1965) an. Die Objekte erotischer Begierde kommen hier zu Wort und erweisen sich dabei als gänzlich vom Mann unabhängig. Die Projektionsfläche wird sich ihrer selbst gewissermaßen bewusst und wendet ironischerweise die Klischees eines triebgesteuerten Blicks um: Indem die Tänzerinnen von sich sprechen, schließen sie die anderen von der Teilnahme an ihren Reizen aus. Hier wird die hohe Form der Terzine als männliche Intelligenzgeste entlarvt und durch die Figurenrede der Tänzerinnen hintertrieben.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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