THOMAS BRASCH
Lied von Pest und Wissenschaft
O, das ist das Ende jeder Medizin
von Florenz bis in das ferne Wien,
lehrt der Herr, der uns auf Erden schuf:
Arztsein das ist kein Beruf.
Was ich auch verschreibe, hilft es nicht.
Kaltes Fleisch und Wein: Linsengericht.
Ach, was nutzt dem Arzt sein hoher Schwur,
wenn der Herrgott sagt: Ich bleibe stur.
Denn er zeigt uns ja mit dieser Pest,
daß er uns die Erde überläßt.
Seht doch, wie er uns noch einmal winkt
Und das Mensch krepiert und stinkt.
nach 1980
aus: Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer. Gedichte aus dem Nachlaß. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2002
Der Dichter Thomas Brasch (1945–2001) war in den achtziger Jahren der Star der dissidenten Bohème aus der DDR, ein Nachkömmling jüdischer deutscher Kommunisten, dessen sozialistische Utopie mit der Realität des SED-Staats schmerzhaft kollidiert war. Nach der Wende war es still geworden um den Dichter, der 1976 die DDR verlassen hatte. In Braschs späten Gedichten, die erst posthum veröffentlicht wurden, besingt ein desillusioniertes Ich den Rest seiner künstlerischen Existenz.
Das Resultat von Braschs poetischen Selbsterkundungen, so unfertig sie in einzelnen Fällen wirken mögen, sind bewegende, tief anrührende Gedichte eines Mannes, dem die Welt zerbrochen war. In seinem „Lied von Pest und Wissenschaft“, einem Rollen-Gedicht, spricht ein angesichts der Pest-Epidemie in Mitteleuropa ratloses Ich von der Vergeblichkeit ärztlichen Handelns. Die Bilanz ist trostlos: Gott hat die Welt sich selbst überlassen, der Mensch ist konfrontiert mit der Erbärmlichkeit des eigenen Untergangs
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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