Ulrike Almut Sandigs Gedicht „im märzwald“

ULRIKE ALMUT SANDIG

im märzwald

im märzwald
stehen wir. du und ich. bis hierhin
sind wir gekommen, die anderen
sind uns voraus. unter den kronen
dieser bäume sind sommer und winter
zugleich. im gewicht der eigenen leiber
ähneln wir uns. du und ich. um diesen baum,
dessen namen keiner mehr weiß, dreht sich die erde

und du gibst mir dein wort: dazubleiben, wenn ich geh.

an diesem ort drückt nichts uns zu boden,
ins horizontale, zu schnee.

aus: Ulrike Almut Sandig: streumen Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2007

 

Konnotation

Es ist eine Atempause, ein Augenblick des Verweilens und zugleich ein Moment der Entscheidung. Zwei Menschen, zwei Liebende vielleicht, tasten sich vor ins Ungewisse, prüfend noch und unsicher, wohin der Weg sie führen wird. An einem Ort, an dem die deutsche Romantik ihre Topoi des glückhaften Einklangs zwischen Mensch und Natur situiert hat: im „Märzwald“. Das Auseinandergehen von „Ich“ und „Du“ scheint schon beschlossene Sache zu sein. Aber das Gedicht Ulrike Almut Sandigs (geb. 1979) suggeriert auch Leichtigkeit: „an diesem ort drückt uns nichts zu boden“.
Die vagabundierende Bewegung ihrer Poesie bezeichnet die in Leipzig lebende Autorin mit dem Kunstwort „streumen“, das zum einen ein Dorf im ostelbischen Sachsen ist, zum andern eine nicht zielgerichtete Bewegung meint, die Aufbruchsbewegung des lyrischen Subjekts. Ein Ich beginnt: zu „streumen“ – und – im günstigsten Fall – lösen sich alle festen Bedeutungen aus ihren Verankerungen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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