Urusla Krechels Gedicht „Mundtot“

URSULA KRECHEL

Mundtot

Jetzt wieder Angst vor Bekenntnissen
Wallfahrten, Kinderkreuzzügen
verschwisterten Opfermählern:
Daß alles Bekannte schon bekannt sei.
Daß Ruhe herrscht
Wo sich das bloßgelegte Herz beruhigt
also nirgends.
Auf Vernünftigkeit folgt Dunkel
Auf Dunkel wölfische Heiligkeit.
Nachts höre ich die Schreie der Stummen
oder schreie ich schon selbst, halbwach.

1985

aus: Ursula Krechel: Ungezürnt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1997

 

Konnotation

Jemand wird zum Verstummen gebracht, ins Schweigen gezwungen, zieht sich zurück, ist „mundtot“. Aber das Sprechen geht in der Außenwelt weiter. Das stumme Ich verweigert sich diesen Agenten des Sozialen, die das Bekannte einfordern: „Bekenntnisse“. Ursula Krechel (geb. 1947) zeigt das Innere eines unglücklichen, von Ängsten zerfurchten Bewusstseins, das von der Gewalt der herrschenden Sprachregelungen bedroht wird. Am Ende sind die Innen- und Außen-Stimmen nicht mehr zu unterscheiden.
Mit erzählenden Gedichten, in deren Zentrum ein rebellisches, von den Erfahrungen der linken Studentenrevolte geprägtes weibliches Ich stand, hatte Ursula Krechel 1977 die Bühne der Literatur betreten. In den 1980er Jahren, in denen auch „Mundtot“ entstand, entwickelte sie immer mehr eine Sprachskepsis, die sie rigoros bis in den Kern ihrer Gedichte trieb.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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