Werner Söllners Gedicht „Was bleibt“

WERNER SÖLLNER

Was bleibt

Das Haus der Welt ist schlecht gebaut,
ich sitze krumm und schief darin.
Ach Sprache, meine stumme Braut,
sag mir, wo ich zuhause bin.

Hier steht ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch,
da ist noch Brot und dort ist Wein.
Was bleibt? Versteinertes Gemisch
aus Sätzen vom Lebendigsein.

Der Sinn der Wörter ist die Haut,
die langsam auseinanderfällt.
Ach Sprache, meine stumme Braut –
das Aug weint, was die Silbe hält.

1992

aus: Werner Söllner: Der Schlaf des Trommlers. Gedichte. Ammann Verlag, Zürich 1992

 

Konnotation

War dieser Dichter nur ein besonders raffinierter Informant des rumänischen Geheimdienstes, um in dessen Auftrag seine rumäniendeutschen Dichterkollegen von der Aktionsgruppe Banat auszuspähen? Als die Informantentätigkeit des Lyrikers Werner Söllner (geb. 1951) 27 Jahre nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik ruchbar wurde, erhoben sich kritische Stimmen, die Söllner „Bespitzelung bis in den letzten Vers“ vorhielten. Was sagt das aus über die eigenen Gedichte Werner Söllners?
Bei den poetischen Texten eines politisch zwielichtigen Autors sollte das Urteil nicht von seiner Gesinnung oder seinem politischen Habitus abgeleitet werden, sondern einzig vom ästhetischen Erregungspotential des jeweiligen Textes. Im lyrischen Dialog mit der Sprache rekurriert Söllner auf die Volksliedstrophen Heinrich Heines (1797–1856), wobei der Autor einen Grundton der Verzweiflung anschlägt. Denn die Sprache, die hier als „stumme Braut“ des Dichters aufgerufen wird, bewahrt nicht vor Situationen der Entfremdung, sondern vertieft sie.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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