WOLF BIERMANN
Himmelfahrt in Berlin
Die Kinder spielen im Hof so schön
Prinzessin, Mörder und Volkspolizist.
Sie müssen nicht zur Schule gehen,
weil heute Himmelfahrt ist.
Die Kinder spielen im Hof so laut,
behängt mit alten Lappen.
Sie spielen Braut und Kosmonaut
im Himmelsschiff aus Pappen.
Die Kinder spielen so laut und schön,
der Hof wird ein ganzes Theater.
Die dicken Frau’n aus den Fenstern sehn
und warten auf den Vater.
1965
aus: Wolf Biermann: Alle Lieder. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991
Eine ganze Generation deutscher Intellektueller erlebte die ersten Bücher des 1936 geborenen Dichters und Liedermachers Wolf Biermann als politisch-ästhetische Offenbarung. In der Nachfolge der wilden Vaganten-Dichter François Villon, Heinrich Heine und Bertolt Brecht erfand Biermann herzzerreißende Liebes-Balladen und renitente politische Chansons, die ihn zur Ikone des linken Dissidententums aufsteigen ließen.
Der Sohn eines von den Nazis ermordeten kommunistischen Werftarbeiters aus Hamburg war 1953 in die DDR übergesiedelt und hatte 1961/62 mit seinen ersten Poemen die SED-Oberen in große Unruhe versetzt. Bevor man den „antikommunistischen Krakeeler“ 1976 ausbürgerte, bedichtete Biermann in ketzerischen Gedichten seine linken Utopien. Es bleibt offen, um welche „Himmelfahrt“ die im Band Die Drahtharfe (1965) veröffentlichte Hinterhofszene kreist: um den traditionellen christlichen Feiertag (der 1966 abgeschafft wurde) oder um den ersten Weltraumflug (im April 1961) des als Helden verehrten Kosmonauten Juri Gagarin.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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