YVAN GOLL
Die Produkte der Nacht
Die Nacht ist ein Rohstoff
sie ähnelt etwas der Baumwolle
Man fabriziert daraus Schlaf
Zuweilen auch Traum
Der Schlaf ist aus schwarzer Watte
Der Traum aus goldener
Dann gibt es Unterprodukte der Nacht:
Teer und Gram
Mit Teer werden die Straßen des Lebens gesprengt
Mit Gram stellt man den billigsten Tod her
1928
aus: Yvan Goll: Die Lyrik. 4 Bände. Hrsg. v. Barbara Glauert-Hesse. Wallstein Verlag, Göttingen 1996
Diese lyrische Confessio des deutsch-französischen Dichters Yvan Goll (1891–1950) verrät viel über die Vorlieben des literarischen Surrealismus. Das Gedicht spricht von Traum und Schlaf als elementaren Energiezentren und dokumentiert zugleich die Kühnheit surrealistischer Bildfindungen. Die poetische Imagination begnügt sich hier nicht mit der Summierung eingängiger Bildelemente zum „Nacht“-Motiv, sondern gestattet sich eine große Freiheit der Assoziation.
Das 1928 erstmals publizierte Gedicht bahnt sich einen Weg hin zu Materien, die nur sehr vermittelt mit der „Nacht“ in Verbindung zu bringen sind. Der schwarze Teer, der aus der thermischen Behandlung von Naturstoffen gewonnen wird, ist nur als Farbwert mit der „Nacht“ assoziierbar. Als rein metaphorisches Element fungiert die „Nacht“ auch beim Seelenzustand „Gram“, also bei der grüblerischen Sorge und melancholischen Versunkenheit. Aber just aus solchen Verknüpfungstechniken gewinnt der Surrealismus seine Energien.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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