6 DRIFT
wir haben keine zeit, diese kryptischen symptome zu
entschlüsseln.
auszuruhen ist auch keine lösung.
glühen wir möglichst flott dem ende entgegen.
jetzt erst recht kein ,wir‘ voraussetzungslos
durchgehen lassen.
nie die rüstung verlieren.
wichtig ist die erinnerung an die richtige reihenfolge der
buchstaben und pfähle,
richtig einzupflocken ist von großer wichtigkeit.
auch: die wartung der selbstschussanlagen,
die gute ölung von zeit zu zeit ist auch noch rückwirkend
genug zu betrachten die sammlung aller weggeschlafenen
minuten, bis zum abschuss.
Maren Kames liest aus Luna Luna
Maren Kames und Marina Agathangelidou lesen aus Luna Luna
Ali Abdollahi, Marko Pogačar, LUNA LUNA im JUNIVERS
Rasant, rasend und atemlos spricht er von innen aus dem weit offenen Gaumenraum heraus. Es geht um die dünne Wand zwischen Traum und Trauma, um dünne Haut, um eine Gans aus Pappmaché und den Bären, den sich eine aufbindet, um sich gegen den Wind zu schützen. Ums Verlieren und Verletzen geht es. Um einen Krieg, der vielleicht nie stattgefunden hat und doch in jeder Pore präsent ist.
Motive, Figuren und Sätze schubsen sich wie Autoscooter durch die Textgalaxie, beschleunigen, karambolieren, knallen gegen unsichtbare Banden, werden in schwarzen Löchern verschluckt.
Und über allem hängt die Luna, ein Fixpunkt für die Höhe der Sehnsucht, leuchtend, wahnsinnig und selber rastlos. Eine Luna, die am Ende in einem Sturz aus ihrer Umlaufbahn heraus aufs Wasser fällt wie ein glühender Ofen.
Secession Verlag für Literatur, Klappentext, 2019
– Mit ihrem Langgedicht ist die in Berlin lebende Dichterin für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Wir sprachen mit Maren Kames über ihr pop-poetisches Gesamtkunstwerk. –
Es war eine kleine Sensation, als Jan Wagner 2015 für seinen Gedichtband Regentonnenvariationen den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhielt. Die Leipziger Jurys seien eben mutig und nominierten auch Lyrik – Titel also, die mit ihrer Auflage meist unter 5.000 liegen, freut sich Maren Kames. Ihr eigener, 2020 nominierter Band Luna Luna dürfte ein solcher sein, zumindest in der mittlerweile überholten ersten Auflage. Gedichte werden selten vieltausendfach gedruckt, selbst wenn der Publikation wie bei Kames schon ein beachtenswertes und mehrfach ausgezeichnetes Debüt vorausging. Halb Taube halb Pfau heißt der 2016 erschienene erste Erfolgstitel der inzwischen 35-jährigen Autorin.
Jetzt steht ihr neuer, auf schwarzem Papier gedruckter Gedichtband Luna Luna auf der Nominiertenliste für den diesjährigen Leipziger Preis. Gleich nach seiner Veröffentlichung im August 2019 schlug er einige Wellen im deutschsprachigen Feuilleton. Kritiker rühmten die rasante, von einem pop-poetischen Soundtrack getragene Sprache ihres Mondgesangs.
Sabine Peschel: Luna Luna wird als Langgedicht deklariert. Sind Sie mit dieser Kategorisierung überhaupt einverstanden?
Maren Kames: Ich finde die Bezeichnung okay, besser als das sehr uneindeutige „Lyrik“, eine sehr grobe Einordnung. Die’s auch nicht trifft.
Peschel: Welche Geschichten erzählen Sie uns in den drei, mit der abschließenden „aber!“-Strophe vier Teilen Ihres Prosagedichts?
Kames: Daran, wie schwer es ist, diese Frage zu beantworten, merkt man schon, dass es eben kein Erzähltext ist. Das ist ein Abarbeiten an einer Geschichte, die permanent zwischen Verlust und Selbstbehauptung hin und her changiert. Ich glaube schon, dass es im Epilog mit der Selbstbehauptung endet. Doch gleichzeitig ist es so, dass im Verlauf dieser 100 Seiten so viel Offenporigkeit und auch Offenheit für Verletzungen bloßgelegt wird, dass man sich sicher sein kann, dass es kein finales Endergebnis gibt.
Peschel: Ich hatte beim Lesen das Gefühl, etwas total aufregend erzählt zu bekommen, in einer hochpoetischen und schnellen Sprache: zuerst den Absturz Marens, im zweiten Teil öffnet sich die Perspektive hin zum Krieg, im dritten Teil geht es um Liebe, die dann durch die beharrliche Einwendung „aber!“ wieder zersetzt wird…
Kames: Genau. Aber ich finde eben, alles, was man über den Text sagen kann, wird gleichzeitig auf eine spielerische Art auch wieder unterlaufen. Es steht die ganze Zeit eine Art brisante Entwicklung im Raum, und gleichzeitig tritt der Text auf andere Art permanent auf der Stelle. Das stimmt aber beides.
Peschel: Wie schaffen Sie es, Ihr Gedicht, das ja eigentlich nur auf Papier existiert, als poetisch-musikalisches Crossover-Kunstwerk wirken zu lassen, quasi multimedial, denn es entstehen beim Lesen auch unweigerlich Bilder im Kopf?
Kames: Vielleicht hat das mit meiner Überzeugung zu tun, dass literarische Texte grundlegend schon ganz viel Interdisziplinäres in sich haben. Es wird in den allermeisten Fällen mit Bildern gearbeitet, aber auch mit Sprachrhythmus, es werden Schnitte gesetzt, Ausschnitte gewählt, eine Perspektive. Das alles neben der Materialität der Sprache selber, also Klang und Rhythmus, die dann eher in den Bereich Musik abdriften. Ich habe beim Schreiben immer den Eindruck, ich habe ein ganz großes Instrumentarium vor mir, aus dem ich mich bedienen kann. Dann arbeite ich teilweise filmisch oder musikalisch. Ich glaube schon, dass das Musikalische der größte Unterboden ist, das macht im Endeffekt eben die Sprache auch so lyrisch. Das Gesamtgebilde ist eine Komposition.
In manchen Fällen bilde ich den Raum, über den ich schreibe, visuell im Satzbild ab. Bei Luna Luna schon einfach dadurch, dass ich auf schwarzem Untergrund schreibe, und es war tatsächlich so, dass ich meinen Text auch im Entwurf auf Schwarz geschrieben habe. Und wenn dann 27 Popsong-Texte drinstecken, auf eine Art und Weise, dass die Stimmen dieser Songs beziehungsweise der Sängerinnen und Sänger zu Stimmen im Text werden und die sich wieder mit den Stimmen in meinem Text vermischen, dann wird’s automatisch intermedial.
Peschel: Zitate aus den Popsongs fließen in Ihren Text ein und werden in Anmerkungen nochmal aufgegriffen, die Playlist des Soundtracks ist dem Text nachgestellt. Wie ernst ist es Ihnen damit? Sind sie Kommentar oder eher Begleitrauschen?
Kames: Sie sind in den Text eingewoben, tauchen immer wieder auf. Der Bär, Sheitan, das „Mödchen“, das sind alles Figuren, die ich aus den Songtexten entnommen habe und die dann in meinem Text ein Eigenleben bekommen. Bis hin zu dem Punkt, dass Annie Lennox am Ende quasi das Finale bestreitet. Das ist so ernst wie unernst.
Und dann gibt’s natürlich auch ultraironische Übergriffe, wie wenn ich zum Beispiel in einer relativ plumpen Art und Weise „Forever Young“ übersetze und das einem Soldaten in den Mund lege. Und dann kommt im nächsten Schritt Helene Fischer um die Ecke und wird von einem Tyrannen gesungen.
Peschel: Welches Feedback bekommen Sie auf Ihren Soundtrack?
Kames: Ein bisher durchgehend positives. Ich höre von ganz vielen, das sei eine super tolle Auswahl, und zwar sowohl von Pop Aficionados, aber eben auch von Leuten, die von sich behaupten, dass sie mit Popmusik eigentlich gar nichts am Hut haben. Manche sagen, „das war für mich ein Türöffner, ich habe festgestellt, es gibt ja wirklich richtig gute Popmusik“. Das haben sogar Kritiker gesagt, die sich eher in der Germanistik oder in der Literatur bewegen.
Peschel: Freut es Sie, wenn man von Ihrem Kunstwerk als Pop spricht?
Kames: Ja. Ich hatte während des Schreibens diebischen Spaß, als ich irgendwann gedacht habe, du machst gerade Popliteratur, aber im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist ja, was die Sprache und die Texte selber angeht, denkbar weit weg von dem, was seit den Neunzigern als Popliteratur bezeichnet wird. Doch es ist einfach Popliteratur, weil die Referenz Popsongs sind. Und darüber hinaus ist auch vieles andere drin, was man dem Pop zuschreiben könnte. Zum Beispiel stellenweise so eine Art Comic-Sprache oder auch Comic-Ästhetik. Das hat auch was von einer Graphic Novel.
Peschel: Ihre Sprache ist sehr spielerisch, verzweifelt, witzig, kindlich, dialektal, zerhackt, lautmalerisch – und bei dieser ganzen Inszenierung absolut alltäglich und verständlich. Wie finden Sie diese Sprache?
Kames: Das kann ich eigentlich nicht beantworten. Wahrscheinlich ist es im Endeffekt eine Art von Lust am Mix. Ich würde einen Text von 100 Seiten, der sich ständig auf derselben Tonhöhe bewegt, nicht durchhalten.
Peschel: Das Buch Luna Luna trägt ja die römische Mondgöttin im Titel. Beschwören Sie eine Göttin, oder wollen sie den Mond anheulen?
Kames: Das ist eine eingebildete oder eben herbeigesehnte emotionale Schwester, eine Art Auffangbecken, von dem man weiß, dass es sehr weit weg und eigentlich unerreichbar ist. Insofern hat das was von dem konkreten Mond, der einfach so weit weg vom Alltäglichen und im wahrsten Sinne des Wortes so weltfremd wie möglich ist. Auch das Weiblich Schillernde und der Wahnsinn gehören in diesen Hallraum.
Peschel: Sprechen wir zum Schluss vom Äußerlichen, der grellen und außerordentlich schönen Gestaltung Ihres Bandes durch den bekannten Grafiker Erik Spiekermann. Diese Gestaltung wirkt kongenial zum Text. Hatten Sie einiges mitzureden?
Kames: Das Satzbild des Textes kommt von mir. Das Schwarz, die Anordnung der Songtexte in den Fußnoten, das mondförmige Fußnotenzeichen, Textmenge und -verteilung auf den Seiten, also Umbrüche und Abständen – das war alles so von mir angelegt und wurde dann auf das finale Buchformat und in die Typo von Erik Spiekermann übertragen. Aber es ist eine große Besonderheit, dass sowohl der Verlag als auch die Gestaltung eine Autorin und ihre gestalterischen Ideen so ernst nehmen und mir so viel freie Hand dabei zugestehen. Dementsprechend schön und einvernehmlich war es auch, wie wir uns über die Ausstattung des Buches, die Auswahl und Farblichkeit des Papiers, den Einband, die Coverschrift usw. abgestimmt haben. Letztlich hatten wir alle einfach eine sehr deckungsgleiche Vision davon, wie Luna Luna als Objekt auszusehen hat, damit es möglichst so schimmert und leuchtet, wie der Text selbst.
– Der tollste Lyrikband des Jahres stammt aus einem Luna-Park: Die junge Dichterin Maren Kames heult verzweifelt den Mond an, übersetzt „Forever Young“ und verbindet Literatur und Popkultur auf zeitgemäße Weise. –
Bei Smartphones kann man die Bildschirmanzeige auf den Dunkelmodus einstellen. Dann kehrt sich das Verhältnis von Schrift und Hintergrund um; jeder Text wird weiß auf schwarz geschrieben. Der dunkle Nachthimmel, von dem Mond und Sterne herabscheinen, ist ein uralter lyrischer Topos, bei dem auf die Gesetze der Logik mit Leichtigkeit auf den Kopf gestellt werden.
„Dunkel war’s, der Mond schien helle“, so beginnt das bekannte Kindergedicht voller Paradoxien. Wo sich Hell und Dunkel verkehren, ist auch das Verhältnis zwischen Ratio und Gefühl beziehungsweise Trieb betroffen. Im Vollmondlicht werden zerstörerische Leidenschaften und finstere Begierden entbunden, wovon alle Vampir- und Werwolfmythen erzählen.
Der neue Band der 1984 geborenen Dichterin Maren Kames, Luna Luna, ist durchgängig mit weißer Schrift auf schwarzem Papier gedruckt. Er ist ein optisches und haptisches Gesamtkunstwerk, eingebunden in schwarz schimmerndes Comtesse-Leinen, ein buchgestalterisches Meisterstück aus dem Zürcher Secession-Verlag. Das ist mehr als eine Äußerlichkeit: Denn Kames’ Verse stammen aus jener der Sonne abgewandten Seite der Existenz, aus dem „Mondgebiet“, in dem die Sprache zu träumen beginnt und das seit jeher das genuine Reich der Dichtung ist. Zumal jener, in der von der Liebe die Rede ist.
Der gut hundertseitige Band ist ein einziges Langgedicht in vier Teilen mit Unterkapiteln; es ist also eine zusammenhängende Erzählung, man könnte es auch ein Versepos nennen, freilich eines, das sich formal alle erdenklichen Freiheiten nimmt, wie es dem Dunkelmodus der Vernunft entspricht. Die Nacht beginnt mit einer denkbar finsteren Anamnese:
ich bin circa in der mitte entzweigebrochen
und nicht wieder heil geworden
Ein totaler Zusammenbruch, eine maximale (Selbst-)Verlusterfahrung:
ein unheil,
ich weiß,
aber mehr
hab ich nicht im tank,
es tut mir leid,
es klafft.
Ohne dass ein konkreter Grund genannt würde, werden scheinbar beliebige Dinge in das schwarze Loch dieses lyrischen Ich gezogen.
Die vollends überschätzte präsenz meines silbern
schimmernden raumanzugs schlagartig begreifend,
stehe ich, somehow verloren,
an der monstergroßen fensterfront vor dem rollfeld
in london, die vereinzelt blinkenden lichter
bestätigen das, im dunkel hinter mir schnarcht
ein scheich.
Die Nacht am Londoner Flughafen ist eine der Urszenen, in der plötzlich, „schlagartig“, wie in einem Horrorfilm oder in einem dunklen Technoklub einzelne Gegenstände und Personen grell aufblitzen. Eine zweites wiederkehrendes Setting ist die windige Mole, ein weiterer, leerer Ort der Passage und des Übergangs.
Die Disco-Assoziation ist nicht zufällig; in Fußnoten zitiert Maren Kames aus Popsongs, mit denen sie in Dialog tritt. Schon die zentrale Metapher des Mondes ist eigentlich eine bewusst schiefe Übersetzung des englischen „lunatic“, also „verrückt“, „närrisch“: „i used to be a lunatic from the gracious days“, singt Annie Lennox in „No More I Love You’s“. Dies ist zugleich der deutlichste Hinweis auf die Ursache des dichterischen Seelenzustands: „(toll toll toll, meine ich, also wahnsinn!)“ heißt es, und zugleich, einem verlorenen Hochgefühl nachtrauernd:
wie hoch ich war,
wie luna luna r
Die Ekstase, die – mutmaßlich – erotische Entrückung, bedingt die Tiefe der Verzweiflung, die in eine litaneihafte Beschwörung der Abwesenheit münden:
sowieso will ich meine arme nur um die herum brechen
die wirklich richtig h h griffig sind u nicht verschwinden,
so mir nichts,
dir nichts
du nicht.
und du auch nicht.
und den auch nicht.
und der auch nicht.
der wird gehen.
Für diese irrsinnige Angst vor erneuter Verwundung findet Kames starke Formeln, die durch Wiederholung und Variation immer eindringlicher werden. Von ferne fühlt man sich an eine andere große Schmerzdichtung erinnert, die Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes.
Mit dem Auftreten eines Gegenübers spitzen sich die Verse zu, sie werden zum poetischen Abwehrzauber, wie man sie einst gegen Schwarze Magie einsetzte. „Der sheitan“ ist im Luna-Land der Antichrist, ein Verderber und Vernichter. Seine (und damit jede) Liebe erscheint als teuflisches Projekt, gegen das sich die Frau im Mond abgrenzen muss:
wir lassen die liebe nicht rein hier, bevor sie nicht reif ist,
hier ist mondgebiet, hier ist safe, wir sind weich hier, haut
ab. geht anderen die arme brechen, ihr spinnt wohl, wir
nicht. das ist der unterschied.
Oder wie Kames es mit einem Song von Bon Iver beschreibt: Es wird „mich verletzen wie ein lamm“.
Vor allem bei der Literaturnobelpreisverleihung an Bob Dylan wurde die uralte Debatte um den literarischen Rang von lyrics, von Songtexten, wieder aufgewärmt. Maren Kames führt, nicht als Erste natürlich, vor, wie selbstverständlich und produktiv Dichtung in den Dialog mit Liedzeilen treten kann. Am Ende des Bandes gibt es einen Soundtrack mit Dutzenden Songs von Fleetwood Mac und Tom Waits bis zu Radiohead und The National.
Nun wird zwar dadurch, dass ein Prosaautor einen Film zitiert, der Film nicht selbst zum Roman – dass sich aber gegenwärtige Dichtung in einem sprachlichen Feld bewegt, das von Popsongs, und damit meist vom Englischen geprägt ist, ist nicht zu bestreiten. Lyrik ist das Gegenteil von Sprachpurismus. Kames baut Popsongs auf verschiedene Weise ein, mal greift sie nur ein einzelnes Bild auf, wie das „Lamm“, mal übersetzt oder paraphrasiert sie ganze Strophen. Dabei spielt sie bewusst mit Fehlübersetzungen und Missverständnissen; manches klingt absichtlich nach automatisierter Übersetzung.
Aus „i don’t wanna get over you“ (aus „Sorrow“ von The National) wird erst das unbeholfene „ich will nicht über dich gehen“ und dann ein Flehen:
ich will nicht über dich kommen,
ich will dich nicht übergehen,
überkommen, nicht rennen,
ich will nicht über dich hinweg.
ich nehme das boot.
Im Abschnitt „krieg (wieso)“ liefert Kames gar unerwartet ausgelassen eine geniale deutsche Version von Alphavilles „Forever Young“:
ich würd so gern mit dir tanzen, nur für kurze zeit,
der himmel kann warten, ich bin noch nicht bereit.
hoffe aufs beste und erwarte viel dreck,
wird die bombe kommen oder bleibt sie weg?
Der „alphawald“ wird dann später zur Gegenwelt des „fakelands“, aus der der Sheitan kommt, zum Fluchtort vor dem Beziehungskrieg und dem Kampf gegen die Verzweiflung.
Man kann den Band als Chronologie eines angekündigten Scheiterns lesen, als Stadien einer hochdramatischen Beziehungsabwicklung. An deren vorläufigem Schluss steht ein trotziges „Aber“: Der Mond stürzt aus seiner Bahn und kracht in den Ozean – ein apokalyptisches Bild, das aber zugleich etwas Tröstliches hat. Die lunare Phase ist zu Ende, und vielleicht wird erst jetzt die literarische (und psychische) Verarbeitung möglich.
Suggeriert wird freilich, dass Dichten die alchemistische Umwandlung von Schmerz in Worte ist, ein unmittelbarer Ausdruck des Wahns:
das fehlen von haut an allen stellen.
das verfehlen von haut an jedem abend.
das abschreiben der haut, letztlich.
Maren Kames erneuert auf phänomenale, zeitgemäße Weise das alte Versprechen der Dichtung, eine direkte Herzensmitschrift zu sein, ein Kardiogramm aus Worten und Bildern. Mehr kann ein Gedichtband nicht sein.
– Die junge Lyrikerin Maren Kames inszeniert in Luna Luna eine großartige Sound-, Bild- und Gedankenfantasie. –
Luna Luna, das zweite Buch der 1984 in Überlingen geborenen Lyrikerin Maren Kames, ist ein dunkler Text, und das kann man, wie so ziemlich alles in ihm, sehr, sehr wörtlich und sehr, sehr metaphorisch zugleich verstehen. Schlägt man das Buch auf, blickt man vor allem auf Finsternis – die Buchstaben weiße Leuchtpunkte auf einer ansonsten rabenschwarzen Seite. Auch was das Textverständnis angeht, sieht es oft nicht viel klarer aus. „in meinen gloriöseren tagen bin ich ziemlich / lunar gewesen“, heißt es an einem der zahlreichen Anfänge, die dieses wild ausufernde Langgedicht anbietet, und bald ahnt man, dass es mit dieser Mondsucht noch lange nicht vorbei sein kann. Denn der Mond ist der Fixstern in dieser wagemutigen Sound-, Bild- und Gedankenfantasie, die zwar keine große Geschichte erzählt, aber dafür ihre eigene, herrlich verspulte Miniaturwelt entwirft.
„Da ist jemand in meinem Kopf, aber das bin nicht ich“, scheint sich das lyrische Ich im fortlaufenden Selbstgespräch zuzuraunen. Und so formieren sich mit der Zeit die fremden Stimmen und Stimmchen zu Figuren, deren liebenswürdige Wiederkehr ein wenig Ordnung ins Chaos bringt: eine kurzlebige Gans aus Pappmaché, das dichtende „mödchen“ mit den zerzausten Haaren, die Großmutter, die sich nur noch ans Dunkel erinnert, oder die Geisha, die auf besonders leisen Sohlen durch Kames’ Textuniversum trippelt.
Aber was heißt hier schon Figuren? Am ehesten erinnern diese Gestalten an Julio Cortázars Cronopien, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zum Schreiben nie liniertes Papier benutzen und die Zahnpastatube nicht fein säuberlich von hinten nach vorne ausdrücken. Mitten unter diese formlosen Wesen mischt sich dann auch der geheime Hauptdarsteller dieses Textes, einer, der in keinem vernünftigen Weltentwurf, ob Kosmos oder Chaos, fehlen darf – der Teufel.
In Luna Luna hört er auf seinen semitisch-osmanischen Rufnamen „sheitan“, tut und sagt allerlei sinnloses Zeugs, lässt aber auch immer wieder Tiefsinniges durchblicken, etwa so:
das paradox der liebe, ist, dass sie nur im innenraum gedeihen kann.
Spätestens hier offenbart sich Kames als lunar-lunatische Nachfahrin der Romantik, die, ausgerüstet mit ihrem Raumanzug aus „Hyperherz“ und „Turboinstinkt“, durch die Mondlandschaft der Sprache stapft. Überall Krater, anorganischer Staub und immer wieder zieht es einen hin zur anderen, dunklen Seite des Mondes.
Wie der eingangs zitierte Satz stammt auch der sheitan aus dem wichtigsten außerliterarischen Textgenerator von Luna Luna, aus mehr oder weniger falsch abgehörten Popsong-Texten, sogenannten „misheard lyrics“. Durchgehend begleiten den Text schräg übersetzte Fragmente aus Tracks von Tom Waits, Bon Iver, Janelle Monáe oder Annie Lennox, die am Ende auch selbst als Figur in die Textlandschaft wandert. Und unter dem melancholischen Stern von Nick Drake färbt sich der Mond nach und nach pink und taucht das Ganze in eine ästhetische Atmosphäre, die man auf der Suche nach einer passenden Gattungsbezeichnung als Popcore bezeichnen könnte.
Denn auch wenn der Mittelteil des Textes gekonnt auf einen unbestimmten Kriegsschauplatz und damit in ein ernsteres Register blendet, die wichtigste Qualität des Gedichts besteht doch in jenem unbestimmten Driften an der Oberfläche, das Popkultur ausmacht und in dem die Pose letzten Endes wichtiger ist als die Musik. Zugegebenermaßen treibt es Kames zuweilen arg weit mit ihren aus den Song-Verhörern heraussprudelnden Textkaskaden, und nicht wenige ihrer phonetischen Wutausbrüche rütteln etwas zu verkrampft an den Grenzen der Sagbarkeit. Auf der anderen Seite werden die Leser so dazu aufgefordert, mal wieder den überreizten Wirklichkeitssinn auszuschalten, um sich ganz auf den Genuss der einzelnen Sätze, Wörter und Sounds konzentrieren zu können.
Einen der schönsten dieser Sätze liest man gegen Ende des Textes:
zwischen schlaf und wachsein
liegt der schwachsinn
und lacht.
Wie so vieles ist auch das eine ziemlich gute Selbstbeschreibung dieses fulminanten Langgedichts: Schädelmagie und Sphärenmusik, angereichert mit einer ordentlichen Prise Brain Damage. „Man muss ja mit jedem Text neu sprechen lernen“ – so beschrieb Kames selbst den Anspruch an ihre Kunst am Abend der Buchvorstellung im Berliner Kultur-Krematorium Silent Green.
Dem realistischen Roman obliegt es, ein möglichst vollständiges, farbiges Bild seiner Zeit zu zeichnen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Lyrik ist es hingegen, nicht nur über die Welt zu sprechen, sondern die Sprache allererst für das Sprechen aufzubereiten. Nicht selten arbeitet gute Lyrik dabei auch gegen die Sprache und tut ihr Gewalt an.
Doch wie sich aus einer Fußnote herauspicken lässt, ist der sheitan, der in Maren Kames’ teuflischem Sprachexperiment steckt, kein Geist, der stets verneint, sondern einer, der immer nur aber sagt. So löst sich der Sinn in Luna Luna nie ganz auf, auch wenn er gegen Ende immer weiter auseinanderzudriften droht. Wer sich aber traut, ihm nachzudriften, findet ihn vielleicht dort wieder, wo viele ihn am wenigsten erwarten – auf der anderen, der dunklen Seite des Mondes.
– Eine neue Generation deutschsprachiger Dichter*innen befasst sich in ihrer Lyrik mit den Folgen des globalen Klimawandels. –
Mit Jan Wagners Regentonnenvariationen gewann im März 2015 zum ersten Mal ein Gedichtband den Preis der Leipziger Buchmesse. Damals musste die Jury erst noch in ihren Statuten nachsehen, ob ein Buch der Gattung Lyrik überhaupt ausgezeichnet werden kann. 2016 und 2017 standen dann mit Marion Poschmanns Geliehene Landschaften und mit Steffen Popps 118 erneut Gedichtbände auf der Liste der Nominierten. Mit dem Band luna luna der 1984 in Überlingen geborenen Maren Kames lässt sich für die Leipziger Messe 2020 schon Selbstverständlichkeit konstatieren, wenn es darum geht, Lyrik für auszeichnungswürdig zu erachten.
Doch ist gerade Maren Kames’ zweiter Band einer, der sich genauen Gattungszuschreibungen entzieht. Die Bezeichnung „Gedichte“ fehlt. In den drei Kapiteln sind Narrative auszumachen: das einer gescheiterten Liebe, die vom lyrischen Subjekt mal leidend, mal ironisch geschildert wird, das einer Familien- und Kriegsgeschichte und schließlich das der Raumfahrt durch kurze Exkurse zu dem ESA-Astronauten Detlev Koschny in der Kölner Mond-Trainingsanlage LUNA.
Ambitioniert gibt sich der Band durch eine Playlist, deren Tracks nicht nur als Begleitmusik fungieren. Ihre Lyrics finden sich in einer Art Rückkoppelung entweder im Original oder in zum Teil wörtlicher Übersetzung im Text oder in den Fußnoten. luna luna ist ein intermediales Buch, Text und Sound werden zusammengeführt, alles scheint sich zu amalgamieren, der Band kommt überdies optisch avanciert daher, gestaltet ist er von der Designikone Erik Spiekermann.
– Maren Kames gehörte mit ihrem Langgedicht Luna Luna in dieser Woche zu den Nominierten des Preises der Leipziger Buchmesse. –
Wer beginnt, Luna Luna von Maren Kames zu lesen, hält ein flaches Buch mit silbern glänzenden Lettern in den Händen. Das Innere des Einbands blendet in einem knalligen Pink. Alle Seiten sind tiefschwarz, die Buchstaben leuchten weiß. Ein Songtext von Nick Drake leitet den rätselhaften Text ein, der von einem Ich erzählt, das in die Krise geraten ist. „Pink, pink, pink, pink, moon“, steht dem Text hier aber nicht abgetrennt als Zitat voran, sondern ist der erste Vers, der das Grundmotiv enthält. Denn der pinke Mond erleuchtet den langen Weg durch Selbstverlust und Trennung, auf den Maren Kames’ Text ihre Leserinnen und Leser mitnimmt. An kurzen Zeilen fällt man dann auf den nächsten Seiten hinab, in den Monolog des weiblichen Ichs:
ich genoss
und litt
zeitgleich,
immerzu
ich lachte
harsch,
ich klebte
mir eine gans
aus pappmaché,
mit flügeln
und allem
dann
holte ich tief luft
und stach zu,
…
Man kann Luna Luna als ein Langgedicht bezeichnen, ein Mondgedicht, das sich mal wütend, mal sehnend an ein Du wendet, um eine Sprache zu suchen, für den Wahnsinn und den Schmerz einer scheiternden Liebe. Doch der Text ist mehr als das, unterläuft eindeutige Gattungszuschreibungen, enthält dramatische und prosaische Elemente und provoziert eine Rezeptionshaltung, die man von konventioneller Lyrik nicht gewohnt ist: Luna Luna bietet auf fast jeder Seite Songtexte (von Bon Iver bis Fleetwood Mac), die in Fußnoten den Text begleiten und in den Strophen zitiert oder umgeschrieben werden. So entsteht ein ganz einzigartiger Sound. Immer wieder wird man neugierig und gleitet aus den Versen in die Fußnoten, von dort aus auf Youtube, um sich die Songs anzuhören, sieht sich dort beispielsweise Janelle Monáes „PYNK“ an, dessen flirrendes Vulva-Musikvideo wiederum auf Kames’ Text zurückwirkt.
Schon in ihrem Debüt halb taube halb pfau montierte Kames QR-Codes in das Gedicht, durch die sie ihre Leser mit auditiven Elementen und gesprochenen Versen konfrontierte, die bei Soundcloud abgerufen werden. Von Luna Luna gibt es auf der Seite des Deutschlandfunks nun eine Hörspielfassung, die zeitgleich mit dem Buch erschienen ist und die man ebenfalls begleitend zur Lektüre hören kann. In Kames’ Texten ist Lyrik keine einsame Angelegenheit mehr, sondern ein intermediales Spiel.
Nicht nur die Songtexte unterbrechen das sprechende Ich oder werden Teil seines Monologs, auch eine Reihe weiterer Stimmen treten auf. Da ist der Sheitan, eine teuflische und gleichzeitig auch lächerliche Gestalt, dessen sprechender Name Scham und Scheitern repräsentiert und der über kleine Details mit dem angesprochenen Du der Trennung verbunden ist (beide scheinen das gleiche Basecap zu tragen). Auf der anderen Seite gibt es die Mama, mit der das Ich immer wieder in einen absurden Dialog über die eigene Existenz tritt, es gibt Annie Lennox und eine Geisha, die am Ende gemeinsam in einer halbmondförmigen Schale singend über einen See rudern.
Auch aufgrund dieser komplexen und wilden Vielstimmigkeit reiht sich Luna Luna nicht einfach bruchlos in die Tradition sehnsüchtiger deutscher Mondgesänge ein, wie einige Kritiken behaupteten. Das Ich in Luna Luna teilt mit Eichendorffs Ich aus der Mondnacht, einem der wohl schönsten Mondgedichte deutscher Sprache, zwar die Verlorenheit und die Heimatlosigkeit. Es erfindet als Heilkur gegen diese aber kein harmonisches Anderes, das sich aus der Distanz bewundern lässt und bei Eichendorff in der Natur repräsentiert ist. Bei Kames kracht der „pink moon“ am Ende vom Himmel, und wenn dieser bei Eichendorff die Erde scheinbar noch „still küsst“, fallen aus ihm in Luna Luna nur noch die Asteroiden. Von sehnsüchtigen Idealisierungen ist nichts mehr zu spüren.
In Maren Kames’ kosmischem Chaos hingegen lässt sich eher der existentielle Konflikt wiederentdecken, in dem sich das Ich mit seinem Du befindet und in dem auch immer wieder die untergründige Dimension eines Geschlechterkampfs aufgerufen wird: Sexuell konnotierte Verse schlagen in Bilder der Gewalt um, ein ganzes Kapitel durchschreitet ein abstraktes, ortloses Schlachtfeld; eine Kriegsszene, die, bei aller Schwere, dann doch eine befreiende Komik entfaltet. Zum Beispiel wenn sich plötzlich ein Tyrann in einen mit einem Synthesizer bewaffneten Soldaten verliebt, der beginnt, Helene Fischers Mehrgenerationenschlager „Atemlos durch die Nacht“ zu singen, dessen Songtext man in diesem Kontext noch einmal ganz neu entdeckt.
Maren Kames’ Dichtung lebt von solchen Effekten. Subtile Sprachspiele verweisen auf existentielle Ängste und Konflikte. Dabei entstehen so großartige Verse wie dieser:
aber zwischen schlaf und wachsein
liegt der schwachsinn
und lacht.
Völlig disparate Motive werden bei Kames durch die Kraft ihrer Sprache in einem Kosmos vereint, in den man sich unbedingt begeben sollte, auch wenn man in Kames’ Mondlandschaft manchmal verlorengeht.
– Wohin schauen, wenn es auf der Erde dunkel ist? Die Autorin Maren Kames hat mit Luna Luna eine furiose Ode an den Mond geschrieben. Heller wird dadurch aber nichts. –
Der Mond ist Himmels- und Hoffnungskörper zugleich – und viele Poeten haben vor allem dann über das Funkeln am Nachthimmel geschwärmt, wenn ihnen die Tristesse des irdischen Daseins den Blick nach oben nahelegte. Johann Gottfried Herder besingt in seiner Hommage an „Die Nacht“ pathetisch die „Sternenreiche, goldgekrönte Göttin / Du, auf deren schwarzen weitem Mantel / Tausend Welten funkeln“. Friedrich Hebbel spricht im Angesicht des Himmelszelts von der „Heilige[n] Fülle“ und beschreibt, wie „von allen Sternen nieder / Strömt ein wunderbarer Segen“. Und in einem Text von Rainer Maria Rilke eröffnet der Blick ins Universum gar die Tür zu einer unbekannten Sphäre.
Vergiss, vergiss, und lass uns jetzt nur dies
erleben, wie die Sterne durch geklärten
Nachthimmel dringen
[…]
Nun aber lass uns ganz
hinübertreten in die Welt hinein
die monden ist.
Wie aber ergründet man diese Welt, „die monden ist“, ein rundes Jahrhundert nach Rilke? Was sieht man am nachtklaren Himmel, wenn die Welt, die nicht monden, sondern welten ist, gerade mal wieder droht, in existenzielle Düsternis zu verfallen?
Das Ich aus Maren Kames’ Langgedicht Luna Luna taumelt durch Weite und Dunkelheit. Woher es kommt und wie es ins All geraten ist, erfahren wir nicht. Es ruft nach seiner Mutter, wartet auf den es hoffentlich forttreibenden Wind und fragt sich, wo eigentlich sein Schuh geblieben ist. Was wir zu Beginn vernehmen, sind Ohnmachtsbekundungen eines längst in Auflösung befindlichen Subjekts:
ganz perdu bin ich gewesen,
wirklich ganz schlecht beieinander bin ich gewesen
und alles ist mir also abhanden gekommen
Wer sich gerade beim letzten Vers an Friedrich Rückerts und von Gustav Mahler musikalisch veredeltes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ erinnert fühlt, dem mag inmitten der kosmischen Desorientierung zumindest eine vage Spur aufgefallen sein. Ist später dann auch noch von „hunde[n] bei den siedlungen“ die Rede, die zweifelsohne auf Wilhelm Müllers Zyklus Die Winterreise verweisen, erkennt der Leser: Hier schreibt eine Autorin von der Romantik her, und zwar von einer traurigen, zutiefst von Weltschmerz geprägten. Ihr ortloses Ich versteht die Gegenwart nicht mehr und ist nur noch Beobachter inmitten einer von Sprüngen und Brüchen gezeichneten Textgalaxie.
Klar ist lediglich: Es herrscht Krieg, irgendwo und irgendwann. Aus Lautsprechern hört es, dass Tyrannen und Schakale kommen werden. Und schon regnet es an irgendeinem Ort Napalm, dessen tödliche Wirkung von den Politstrategen in einem zynischen Wortspiel umgekehrt wird:
dass es sich um einen balsam handle, haben sie gesagt.
als salbe hat man das verkauft
[…]
das ist der balm, der plüsch, der flausch.
Kames zeigt sich mit solcherlei Verschiebungen und Zerlegungen als hellhörige Sprachkritikerin, die unter die Oberfläche von Beschönigungen und Glättungen blickt und immer wieder Abgründe aufdeckt. Ihr poetischer Text erweist sich mithin als bildreicher Krieg der Sterne, worin sich heftigste Kollisionen von Mensch, Weltbildern und Worten ergeben: Auf Gewalt und Zerstörung folgen Zitate aus Schillers Ode „An die Freude“. Und während Soldaten zum Kaliber mutieren, lässt sich ein Diktator in aller Seelenruhe den Bauch von „kalendergirls“ massieren. Sarkastischer könnte eine Weltanklage kaum ausfallen!
Dass die 1983 in Überlingen am Bodensee geborene Autorin über den Kulturpessimismus hinaus auch zarte Töne anzustimmen weiß, tut ihrem Werk sichtlich gut: Das ist ein ganzheitlicher, gefühlsechter Erfahrungsraum, bar jedweder Ironie, durchdrungen von Melancholie und unverstellter Sehnsucht. Besonders berührend fällt die Auseinandersetzung des Ich mit einem verlorenen Geliebten aus. Zerrissen zwischen Wut und Verzweiflung, macht sich unentwegt ein Suchen bemerkbar:
aber manchmal will ich deine hand halten, wenn ich über
eine straße gehe, und wenn ich nicht über eine straße gehe,
will ich manchmal deine hand halten.
Erwacht das einsame Subjekt aus den Träumen, offenbart sich allerdings nur „das verfehlen von haut an jedem abend“.
Bei Kames haben somit selbst die Himmelskörper ihre erlösende Kraft verloren. Man driftet in ihrem Text durch das All, hört zwischen vorbeiziehende Bären und Lämmern, Nachrichten aus einem „fakeland“ und endet auf dem Ozean. Und trotz alledem lässt uns Luna Luna nicht in rein depressivem Niemandsland zurück.
Motive wie der verlorene Schuh, ein Boot oder die zahlreichen Anspielungen auf Sternenlyrik und in Fußnoten abgedruckte Songs spinnen ein feines, untergründiges Netz, das Halt und im buchstäblichen Sinne Zusammenhang verspricht. Was morgen sein wird, darüber trifft dieses traurig-schöne Langgedicht keine Aussage. Zu bemerken ist in den Andeutungen nur ein kleines Licht, das uns aus fernen Galaxien erreicht. Objektiv gesehen, stammt es – wie die hymnischen Sternengedichte der Literaturgeschichte – aus der Vergangenheit und zeugt zugleich von einem unbekannten Ursprung, den man nicht kennt. Diesem aus der Ferne kommenden Strahl zu folgen, bedeutet: an die Zukunft noch zu glauben.
Maren Kames legt nach. War das erste Buch eher kalt, spitz, kantig, schneeglitzernd, ist dieses sehr viel direkter, womöglich auch persönlicher, offener, verletzlicher. Die Wörter und das Spiel mit diesen und ihren Möglichkeiten, (alp)traumhafte Figuren, Situationen, Bögen zu bauen und wieder zerbröckeln zu lassen, wirken auf den ersten Blick ähnlich. Immer wieder durchschossen von Songtext-Fragmenten ist dieser Band aber durchdrungen von einer innerlicheren Sprache, von Wärme und Dunkelheit, erhellt nur vom silbern-weiblichen Mond und einer Fantasterei sondergleichen. Den Grundton gibt der „weiß auf schwarz“ gedruckte Text zwischen pinkenem Vorsatz vor – ein Abenteuer, das von Liebe und deren (Un)möglichkeit handelt und vom Wahnsinn des Zerbrechens durch andere und durch eigene Hand.
Wenn Maren Kames liest, liest sie schnell. Und ja, beim ersten Mal ertastet man sich den Text noch. Dann aber kann man versuchen, auf ihm zu reiten wie auf einer Brandungswelle und sich tragen lassen und man versteht mehr.
O Meer der Liebe, von dem nur der Ertrinkende, nicht der Darüberfahrende weiß.
Robert Musil
Der Anfang:
In meinen gloriöseren tagen bin ich ziemlich
lunar gewesen
und wahnsinnig rastlos,
in den gliedern krachend u griffig
im wipfel wild,
es rauschte,
ich genoss
und litt
zeitgleich
immerzu
ich lachte
harsch …
und stach zu
es platzte,
es stank,
ich sank,
ich ging aus, circa in der mitte
bin ich entzweigebrochen
und nicht wieder heilgeworden.
Was ist das für ein Buch? Man könnte sagen, ein langes Gedicht. Das wäre nicht treffend, ein Poetry Slam ist es auf jeden Fall. Und wenn man ein Gefühl für den Text bekommen möchte, muss man sich Zeit lassen, in Ruhe lesen, am besten 3–5 Mal. Maren Kames hat hier einen besonderen Text geschaffen. Düster, schwarz – trotz „pink, pink, pink, pink, pink moon“, depressiv bis mitten ins Herz, Prosa aus dem Bauch heraus – aber geschliffen in der Abfassung. Novalis fiel mir dazu ein, ein wenig Rilke, eine Stimme, die immer wieder unterwegs nach der Mutter ruft, einen Schild um sich ausbreitend, unter dem Ängste liegen, unter dem es brodelt. Und irgendwo auf der Reise hat sie ihren Schuh verloren. Wo nur? Weiße Buchstaben auf schwarzem Papier – hochwertig – ein in Leinen gebundenes Buch, das dem Text ein königliches Auftreten gibt.
ganz perdu bin ich gewesen,
wirklich ganz schlecht beieinander bin ich gewesen
und alles ist mir also abhanden gekommen
Es ist ein Text, der den Leser berührt, schwer zusammenzufassen. Und dazu gibt es endlich einmal einen guten Klappentext, der es besser zusammenfasst, als ich es kann:
Es geht um die dünne Wand zwischen Traum und Trauma, um dünne Haut, um eine Gans aus Pappmaché und den Bären, den sich eine aufbindet, um sich gegen den Wind zu schützen. Ums Verlieren und Verletzen geht es. Um einen Krieg, der vielleicht nie stattgefunden hat und doch in jeder Pore präsent ist.
Ein sehr lesenswerter Text, der noch lange nachhallt. Tieftrauriges Kopfkino, durchmischt mit Popsongs – was ist real, was sind Gedanken?
Maren Kames wurde 1984 in Überlingen am Bodensee geboren, studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Theaterwissenschaft, danach am Institut für Literarisches Schreiben in Hildesheim. Für ihr vielbeachtetes Debüt Halb Taube halb Pfau wurde sie mit dem Düsseldorfer PoesieDebütPreis und dem Anna Seghers Preis ausgezeichnet. 2017 erhielt die den Kranichsteiner Literaturförderpreis, 2019 war sie Stipendiatin der Villa Aurora in Los Angeles. Sie übersetzt Theaterstücke und Essays von Sivan Ben Yishai und lebt in Berlin. Mit Luna Luna steht sie auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse.
Carsten Otte: Warum dieses Buch?
SWR2, 10.1.2020
Sabine Haupt: Spätdadaistisches Gesamtgeballer
literaturkritik.de, Juni 2020
Nico Bleutge: Maren Kames luna luna
lyrik-empfehlungen.de, 2020
Nick Lüthi: Luna Luna von Maren Kames
bookgazette.xyz, 22.9.2019
Jürgen Abel: Sehnsucht, Enttäuschung und Raserei im Mondgebiet
literaturinhamburg.de, 20.4.2020
Linn Penelope Micklitz: Maren Kames: Luna Luna
kreuzer online, 4.6.2020
Vincent Först: In dieser Lyrik ist alles Musik
Leipziger Volkszeitung, 1.4.2020
Tom Wohlfahrt: Leiden am Hyperherzschmerz
nd, 10.3.2020
Fabian Thomas: I used to be a lunatic
The Daily Frown, 28.9.2019
Horst Bingel Preisverleihung und Lesung von Maren Kames
Maren Kames Autorinnenporträt von Jakobine Motz, 2020.
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