Michael Braun & Paul-Henri Campbell (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2018

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Michael Braun & Paul-Henri Campbell (Hrsg.): Lyrik-Taschenkalender 2018

Braun & Campbell (Hrsg.)-Lyrik-Taschenkalender 2018

SCHAFE IM NEBEL
nach Sylvia Plath

Die Hügel steigen aus ins Weiß.
Menschen oder Sterne
Betrachten mich traurig, ich hab sie enttäuscht.
Der Zug hinterlässt eine Atemzeile.
Ach, langsames
Rostfarbenes Pferd,
Hufe, qualvolle Glocken – – –
Den ganzen Morgen wurde der
Morgen schwärzer und schwärzer.
Eine Blume, ausgeklammert.
Meine Knochen enthalten Stille, die fernen
Felder schmelzen mein Herz.
Sie drohen
Mich durchzulassen in einen Himmel
Ohne Sterne, ohne Vater, ein dunkles Wasser.

Karin Fellner

 

KOMMENTAR

Wie durchsetzt von winzigen Singularitäten, von schwarzen Löchern, werden hier vertraute Ordnungen peu à peu weggefressen. Schon die „Schafe im Nebel“ sind ein Suchbild: Das Weiß schluckt Schafe und Hügel, alles ist in Eigenauflösung begriffen – die flüchtige Atemzeile oder die nach ihrer Setzung sofort wieder ausradierte Blume. Das Sprecher-Ich wird in einen referenzlosen Raum gestoßen: Menschen, Sterne und Felder, nahe und ferne Instanzen einer möglichen Bezugnahme rücken in einer Art Dolly-Zoom rasch ab. Religiös Konnotiertes – seien es Glocken, Himmel oder auch das rostige Pferd, das den Reiter Tod schattenhaft mitzieht – bietet keinen Halt. Semantische Grenzen verwischen: Meint das Pferd auch den Zug, die Hufe auch Glocken? Wo liegt die Differenz zwischen Stern, Mensch und Vater? Wer oder was atmet noch? Obwohl das Gedicht elegische Marker setzt – traurig, ach, qualvoll –, bleibt der Ton für mich insgesamt unsentimental. Das Ich sieht hin. Dass die Felder damit drohen, sich in einen entleerten Himmel zu öffnen, mag eine Lesart der Trostlosigkeit nahelegen. Indes haben sich die Sterne zu Beginn als nicht besonders freundlich erwiesen. Zieht man Sylvia Plaths berühmtes Vater-Gedicht hinzu – „Daddy, I have had to kill you“ –, bleibt das dunkle Wasser letztlich deutungsoffen, birgt die große Löschung bei allen Schrecken auch eine Faszination. Wie Plath die Leere nicht nur zwischen, sondern in allen scheinbar vertrauten Vokabeln poetisch so knapp fasst, das empfinde ich als Trost.

Karin Fellner

 

 

 

Editorial

Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande bringen, nur schwerer, seltener… am Ende ist alle Poesie Übersetzung.

Die Einsicht des Salinendirektors und Frühromantikers Friedrich von Hardenberg alias Novalis besitzt auch für die Dichtung des 21. Jahrhunderts fortdauernde Aktualität. Das frühromantische Ideal einer symbiotischen Verbindung von Poesie und Übersetzung wird daher auch in diesem Lyrik-Taschenkalender aufgenommen, der diesmal zahlreiche deutschsprachige Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen Bezugskulturen versammelt, wie Olga Martynova, Róža Domašcyna, Orsolya Kalász, Oleg Jurjew, Alexandru Bulucz, Ilma Rakusa, José Oliver oder Safiye Can. Jüngst bezeichnete der englische Dichter George Szirtes im Guardian Übersetzung und Migration als „lifeblood of culture“. Auch die Autoren des Lyrik-Taschenkalenders erweitern durch ihr Schreiben den Resonanzraum des Deutschen als Literatursprache. Die 16 beteiligten Dichterinnen und Dichter kommentieren jeweils ein Lieblingsgedicht deutscher Sprache, einen Klassiker aus früheren Epochen. Hinzu kommen erstmals im Lyrik-Taschenkalender auch Gedichte internationaler Autoren in eigens für den Kalender angefertigten Übersetzungen. Die russische Weltpoetin Marina Zwetajewa, die in diesem Taschenkalender gleich zweimal als Lieblingspoetin aufgerufen wird, beschreibt die dichterische Tätigkeit so:

Dichten ist schon übertragen, aus der Muttersprache in eine andere, ob französisch oder deutsch wird wohl gleich sein. Keine Sprache ist Muttersprache. Dichten ist nachdichten… Orpheus sprengt die Nationalität, oder dehnt sie so weit und breit, dass alle (gewesenen und seienden) eingeschlossen sind.

Michael Braun und Paul-Henri Campbell, Vorwort, Frühjahr 2017

 

 

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Paul-Henri Campbell – Vorstellung aus Anlass des Bayerischen Kunstförderpreises 2017.

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