– Zu Richard Pietraß’ Gedicht „Letzte Gestalt“ aus dem Band Richard Pietraß: Schattenwirtschaft. –
RICHARD PIETRASS
Letzte Gestalt
Dann gingst du in die letzte Gestalt.
Im Rollstuhl. Im Siechbett. Im Traum.
Dein Haar, ich strichs vom Kopf.
Am Schwundleib kein Anflug von Flaum.
Deine Arme, von Kindern beschwert
Nur die eines Sahelkinds.
Der Mund, der mich Sanftmut gelehrt
Schief lächelnd im Grubenwind.
Deine Hände: Papile, was hast du?
Roh ineinander geschränkt.
Zu Füßen des harzigen Kastens
Das Häufchen, das sich nicht erhängt.
Der 1946 in Sachsen geborene Pietraß – seine Eltern waren aus Masuren vertrieben worden – gehörte in der DDR einer Zwischengeneration an: nicht mehr der sogenannten Sächsischen Lyrikerschule, mit der man Heinz Czechowski, Wulf Kirsten und Volker Braun verbindet, noch nicht der experimentierfreudigen Prenzlauer Berg-Szene um Sascha Anderson und Bert Papenfuß. Pietraß ist ein Dichter eigener Art, der sich nichts abhandeln lässt, mit starkem Traditionsbezug, und Literatur begreift er zuerst als Mittel der Selbstbefreiung.
Sein Werk, ganz ohne ideologisch eingefärbtes Vokabular, ist ebenso von Regelhaftigkeit wie von Verspieltheit geprägt. Jedenfalls dürfte kein lebender deutscher Lyriker die Vers- und Reimkunst virtuoser handhaben, die vierzeilige Heinrich Heine-Strophe wie den Goetheschen Knittelvers, das romantische Naturpathos wie den Arno Holz-, ja den Ernst Jandl-Ton. Pietraß jongliert mit Paar-, Kreuz-, Stab- und Binnenreimen, er stülpt Sprichwörter um, spielt elegant mit Redewendungen, Zitaten, scheut selbst den Kalauer nicht und nimmt auch eine gewisse Betulichkeit in Kauf, die mit solch altmodisch-schalkhaftem Handwerk machmal einhergeht.
„Artist auf freier Wanderschaft / Mehr als das Ziel gibt Spiel mir Kraft“, verkündet der Dichter, stolz wie irgendein Vagant. Pietraß neigt zu ironischen Selbstporträts, zum Galgenhumor, etwas Faunisches ist ihm eigen, Sprach-Lust, Wort-Gaukelei, den sinnlich-derben Freuden, doch auch dem Tod zugeneigt:
Der Gang zum Weib, der Hang zum Wort.
Der Keim der Reinheit und wie er langsam verdorrt.
Zur Wendezeit findet der Dichter kritische Worte:
Ellenbogen
Vermessen das Land.
Auch die bedrohte Natur kann zum Gegenstand werden, sogar reimlos, in verknappten, verrätselten Versen:
Sprich weiter, Sandzunge.
Entkrampfe den Kampfhahn
Erlöse das grindige
Wort.
Doch gleich funkeln im „Reimreich“ wieder die Wortspiele, Assonanzen, Binnenreime. Bis auf einmal etwas Unerwartetes geschieht.
1993 stirbt Pietraß’ Frau Erika, mit der er drei Kinder hat, einen grausamen Tod. Ein Jahr später erscheint der aus elf Abschiedsgedichten bestehende Zyklus „Letzte Gestalt“ als Trauerarbeit und Totenklage. Melancholie lastet schwer auf den Versen. Literarisch gesehen ist dieser Gang zu den Toten ein Höhepunkt in Pietraß’ Werk. Die tradierten lyrischen Mittel bewähren sich. Die strengere Form gibt dem Gefühl Halt, tilgt das nur Private. Sie hilft, den Schmerz im Ritual der Wiederholung zu bändigen und einzuholen.
Das vorgestellte Gedicht ist ein verspäteter, ins Negative gekehrter Liebesbrief, bestehend aus zweizeiligen Strophen, durch Endreime miteinander verzahnt; das Versmaß ist dreihebig daktylisch. Ein magischer Spruch-Ton herrscht vor, und was da in sechsmaligem Anlauf so schonungslos angesprochen wird, der körperliche und wohl auch geistige Verfall der Geliebten (das einst gepriesene Haar, Arme, Mund, Hände…), ist für sich gesehen ohne Trost. Das lyrische Ich fühlt sich schuldig („Gesichte / Zentnerschwer“), empfindet sich gar als Verräter; denn:
Noch habe ich Freude am Lieben
Und Essen sowieso.
Manchmal erklingt ein rührender Volksliedton, mit dem der Dichter die Beerdigte auf ihren veränderten Zustand anredet:
Öhrchen, lehmschwerhörig, Mundchen, grubenschief.
Clemens Brentano, auch so ein sprachverrückter Lautmaler, hat den Tod seiner Frau Sophie 1806 ähnlich eindringlich beklagt:
Und die Erde starb, alles starb.
Michael Buselmeier, Der Freitag, 9.4.2004
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