EPITAPH
Flamme, – verbrennen wo Heilung.
Schwert, – köpfen wo Verhängnis.
Balsam dem Ungenesen.
Fester dem Efeu Stamm,
durchleben wo Leben.
Übler Geist dem Übel, der Güte treuer Knecht;
dem Aufgang Opfer, der Ernte Ähre;
plagt sich ab – selbst sich, Rettung und Grab.
Jedes Land kennt Dichter, die von einer Aura der Einzigartigkeit, Genialität und schicksalhaften Existenz umgeben sind. Auch wenn sie kaum gelesen werden, weil sie als dunkel und hermetisch gelten, weiß man von ihrer Faszination und sieht ihr Werk und ihr Leben als eine nur selten erreichte Einheit an. Diese Hölderlins, Celans, Mallarmés und Chlebnikovs stehen jahrelang unberührt im Bücherregal und doch kehren ihre Leser im Geiste immer wieder zu ihnen zurück. Als ob sie eine wichtigere als die alltägliche Welt verträten, die nur aus einem grässlichen Missverständnis heraus nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die ihr gebührt.
Wie wohl keinen zweiten unter den Dichtern Serbiens umgibt diese Aura des Auserwählten Momčilo Nastasijević. Schon seit Jahrzehnten fesselt er seine Leser, die bald von seiner Spiritualität und Sinnlichkeit, bald von seiner sprachlichen Originalität fasziniert sind. Kaum hoch genug ist auch sein Einfluss auf die Entwicklung der Dichtung einzuschätzen. Er hat eine Sprache geprägt, die unter den Dichtern mehrerer Generationen – von Vasko Popa (1922–1991) und Miodrag Pavlović (1928) bis Novica Tadić (1949–2011), Milosav Tešić (1947) und Zlata Kocić (1950) – Schule gemacht hat.
„Er ist ein Weltdichter unserer Sprache“, sagte von ihm Popa 1968 in einer etwas paradox anmutenden Formulierung – paradox, weil ein serbischer Autor, dessen Übersetzung erst in den letzten Jahrzehnten wirklich begonnen hat, wohl nur bedingt mit dem Begriff der Weltliteratur zusammengebracht werden kann. Und dennoch trifft dieser Satz etwas Wesentliches: Wer Nastasijević liest, auch wenn er seine verfremdende Sprache, die in mittelalterliche und volkspoetische Schichten zurückgreift und die gleichwohl ganz in der Gegenwart verhaftet bleibt, oft nur vage erfasst, spürt die mächtige Stille seines Ausdrucks.
Es versteht sich von selbst, dass der Übersetzung eines solchen Autors Grenzen gesetzt sind. Gerade aber die tiefe Verankerung Nastasijević in der Muttersprache, die eine Übertragung prinzipiell erschwert, verspricht eine vertiefte Einsicht in diese südslavische Kultur – eine Kultur, deren Reichtum maßgeblich in der Verbindung byzantinischer, osmanischer und westeuropäischer Einflüsse gründet. Und wer sich auf diese fordernde Lektüre einlässt, erfährt vielleicht, wie etwas Fremdes und Lokales zum Eigenen und damit Globalen wird.
Nastasijević selbst hat dieses Verhältnis zwischen lokaler Verankerung und Universalität durch das Bild einer Pflanze charakterisiert. Es handelt sich um eine Metapher, die längst zu einem Geflügelten Wort geworden ist:
Allen gehört nur, wer tief in den angestammten Grund eingedrungen ist. Denn das Allgemeinmenschliche in der Kunst ist so sehr Blüte über als es Wurzel unter dem Nationalen ist.
Der hier vorliegende Band vereinigt das zentrale lyrische Werk des Autors „Sieben lyrische Kreise“, seine bekannteste Erzählung „Aufzeichnung über die Mitgaben meiner Verwandten Marija“ und den als poetisches Vermächtnis zu betrachtenden Essay „Für eine Mutter-Melodie“. Da sich die Übertragung der Gedichte stärker an ihrem Sinn als an der Form orientiert – dies betrifft insbesondere die Reime – sind die „Sieben lyrischen Kreise“ auch im Original wiedergegeben.
(…)
Robert Hodel, Vorwort
Momčilo Nastasijević wurde am 23. September 1894 in Gornji Milanovac geboren. Zusammen mit Ivo Andrić (1892–1975), Miloš Crnjanski (1893–1977) und Miroslav Krleža (1893–1981) gehört er damit zu jener Generation von jugoslawischen Schriftstellern, mit der sich dieser Sprachraum in die Weltliteratur eingeschrieben hat. Und wie Andrić und Crnjanski, deren Geburtsorte in Bosnien (Travnik) und Südungarn (Čongrad) liegen, stammt auch Nastasijević aus der kulturellen Peripherie.
(…)
Das erste Gedicht publizierte Nastasijević 1922 in der Juni-Ausgabe des renommierten Serbischen Literaturboten [Srpski književni glasnik] unter dem Titel „Weißes Lied“ [Bela pesma]. Es handelt sich um eine Version des Gedichts „Espen“ [Jasike], das 1932 in den Gedichtband Fünf lyrische Kreise [Pet lirskih krugova] einging. Ebenfalls 1922 erschien eine Besprechung seiner Übersetzung des altfranzösischen Romans Tristan und Isolde. Auch beschäftigte sich Nastasijević bereits mit dem Drama Die Ungerufenen [Nedozvani] sowie mit einem Entwurf des Essays „Einige Reflexionen aus der Kunst“ [Nekoliko refleksija iz umetnosti]. In diesem Essay ist zu großen Teilen angelegt, was der Dichter nachher in seiner wichtigsten theoretischen Schrift „Für eine Mutter-Melodie“ [Za maternju melodiju] ausbauen wird.
Ausgangspunkt des 1922 verfassten Essays ist die kunsttheoretische Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt – ein Verhältnis, das Nastasijević in der Kontroverse „L’art pour l’art oder Tendenzkunst“ reproduziert sieht. Seine Synthese ist vor dem Hintergrund Dostoevskijs und dessen modernistischen, von Nietzsche inspirierten Rezeptionen zu sehen. Er propagiert eine „Kunst um der menschlichen Seele willen“.
Wie bereits sein früheres Christusbild zu verstehen gibt, betrachtet Nastasijević die Kunst als neuen sakralen Bereich und den Künstler als einen „triebhaft“ [nagonski] agierenden „Magier“ [mag] und „Priester“ [sveštenik]:
Die Kunst hat zu ihrem Zweck nicht irgendeine abstrakte Schönheit, die auf den Gesetzen der Vernunft, also der Geometrie gründet. Sie ist, im Gegenteil, ihrem Wesen nach Religion und strebt wie jene danach, den Schleier der undurchdringlichen Wirklichkeit zu lüften; sie entdeckt die Wahrheit der Existenz [istina postojanje]. Die wahre Existenz entdecken bedeutet, in Allem das Eine empfinden und in dem Einen Alles, und in Allem sich selbst.
Die höhere Wirklichkeit [nadstvarnost] lässt sich nicht begrifflich fassen, doch lässt sie sich fühlen. Die Seelen der Auserlesenen binden sich über das Materielle triebhaft an eine höhere Wirklichkeit, und das Ergebnis [ishod] dieser Verbindung ist die Mystik, das Salz der Kunst.
Der Künstler wird damit zum Vermittler zwischen einem „Gott-Universum“ und den „übrigen Menschen“. Er besitzt die Macht des entdeckenden „Ausdrucks“ [izraz], der nicht mit Argumenten, sondern kraft seines intensiven Tons überzeugt. Folglich ist auch der Stil „nicht eine korrekte Reihe von Sätzen, sondern ein sicherer, individueller Standpunkt, den ein Mensch sich und der Welt gegenüber einnimmt, die materielle Gestalt seines Fühlens und Denkens, einer großen Überzeugung, einer Religion.“
Es wäre bestimmt irreführend, sich von Nastasijević auf der Grundlage der religiös geprägten Begrifflichkeit und des weitgehend einsamen Lebens als Junggeselle im engsten Familienkreis das Bild eines Asketen zu machen, sein Künstlerverständnis ist vielmehr der modernistischen Dekadenzbewegung – insbesondere den französischen „poetes maudits“ (Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud) – verpflichtet. Bereits seine Dichtung zeugt von einer tiefen Sinnlichkeit und Erotik. Von einem modernistisch geprägten Eigenbild spricht auch sein Äußeres. Auf einer Photographie aus den frühen Belgrader Jahren sehen wir einen elegant gekleideten rauchenden jungen Mann mit üppiger Haarpracht, die von links nach rechts zu einem hohen Scheitel gekämmt ist. Es liegt durchaus nahe anzunehmen, dass sich Nastasijević in dieser Zeit selbst zu jenen „Magiern“ der Kunst zählt, von denen er schreibt:
obwohl ihnen die parzellierte Gesellschaft eine bestimmte Rolle und Beschäftigungsmarke zugeteilt hat, bleiben sie im Grunde ihrer Seele Menschen ohne Handwerk [zanat], wunderliche Handwerker, die nicht für einen Laden, einen Markt oder eine Messebude arbeiten. Und beachtet, wie einige von ihnen, einem stark hervortretenden Atavismus zufolge, sich bereitwillig und gern dem engen Rahmen einer Klasse entziehen und Bohemiens werden.
Im Mai 1923 erlangt Momčilo das Diplom eines Gymnasialprofessors für das Hauptfach „Französisch“ und das Nebenfach „Serbische Sprache“. Um seine Französischkenntnisse weiter vertiefen zu können, ermöglicht ihm das Bildungsministerium in den Sommerferien eine zweieinhalbmonatige Sprachreise nach Paris. Die Eindrücke seines Aufenthalts gibt er in Form einer Reisebeschreibung wieder, die in Bogdan Popovićs Zeitschrift Fremde Umschau [Strani pregled] veröffentlicht wird.
Wie für viele Künstler und Literaten dieser Zeit ist auch für Nastasijević Paris das Zentrum des europäischen Geisteslebens. Der Dichter ist gleichermaßen von der französischen Kultur wie von der Melodiösität der französischen Sprache fasziniert. Er besucht Theater und Museen, er lauscht der lebendigen Sprache in Straßen und Cafés und er liest mit großer Neugier die aktuellen Autoren: Marcel Proust, André Salmon, Jean Cocteau, Pierre Mac Orlan. In einer seiner „Notizen vom Aufenthalt in Paris“ [Beleške sa boravka u Parizu] stellt er mit einem gewissen Erstaunen fest, dass diese neuen Schriftsteller nicht in Richtung einer „Unterwanderung des sprachlichen Fundaments“ arbeiteten, sondern vielmehr die Sprache auf ihre Gedanken „einstimmten“, sie von überflüssiger Rhetorik befreiten und „noch enger an das französische Terrain und den französischen Gedanken der Gegenwart bänden“. Wenn er hierbei die Autochthonität der französischen Kultur und das hohe Kulturbewusstsein der Franzosen besonders hervorhebt, so schwingt die Überzeugung mit, dass sich die eigene Kultur an Frankreich ein Vorbild nehmen sollte. Wie sich freilich dieses heimische Kulturbewusstsein entwickeln sollte, darüber wird sich Nastasijević erst später nähere Gedanken machen, auch wenn er bereits hier festhält, dass der eigene Weg nicht in der deklarierten Rebellion gegen die Sprache liegen könne. Die Erneuerung der Sprache will er weniger als Kampf gegen Konvention und Verkrustung denn als Zurückbesinnen auf verschüttete Schichten verstanden wissen.
Neben den „Notizen“ schreibt Nastasijević in Paris auch mehrere datierte Gedichte, die er später überarbeitet in die Fünf lyrischen Kreise aufnimmt. In der Weihnachtsbeilage der Belgrader Neuigkeiten [Novosti, 1923] erscheint außerdem ein erster Prosatext: „Die Geschichte vom Unbekannten“ [Priča o Neznancu]. Dieser Erzählung folgen im selben Jahr drei weitere lyrische Prosastücke, die alle in den ersten Erzählband Aus dunklen Landen [Iz tamnog vilajeta, 1927] eingehen werden.
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Heute wird Nastasijević in erster Linie als Lyriker gelesen. Dieses Autorbild war in den Zwanziger Jahren, als er vorwiegend Prosa- und Dramentexte schrieb, noch nicht vorherrschend. Bis 1931 hatte er lediglich 34 Gedichte veröffentlicht. Die Lyrik war für ihn aus strukturellen Gründen eine nachgeordnete Gattung. In einer autobiographischen Notiz, die 1927 in der Februar-Ausgabe der Zeitschrift Literarischer Norden [Književni sever] abgedruckt wurde, verlautete der Dichter über sich in Er-Form:
Selten wagt er ein Gedicht zu schreiben (deshalb hat er auch wenige vorgelegt), denn er fühlt, dass sich dies musikalisch reiner und tiefer ausdrücken lässt.
(…)
Nastasijević büsste das Vertrauen in seine Verleger nun vollends ein. Auch den einzigen zu seinen Lebzeiten erschienenen Gedichtband Die fünf lyrischen Kreise [Pet lirskih krugova] finanzierte er 1932 selbst. Das geringe Interesse der Verlage an seiner Lyrik spiegelte sich noch einmal in der Rezeption wider. Die Kritik hüllte sich breit in Schweigen. Es schien, dass nicht einmal der fehlende Zugang zu dieser rätselhaften Poesie artikuliert werden konnte.
*
Betrachtet man die Entwicklung der Nastasijevićschen Rezeption aus heutiger Perspektive, erweist sich, dass diese hermetische, die Sprachgrenzen auslotende Dichtung, deren schwere Lesbarkeit selbst von den Surrealisten als künstliche Unverständlichkeit kritisiert worden ist, in einer geistigen und politischen Umgebung erschien, die avantgardistischen Experimenten immer weniger abgewinnen konnte. Man wird hierbei in erster Linie an die politische Radikalisierung Europas denken, die im „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ 1929 infolge ethnischer Spannungen ihren Ausdruck in einer Königsdiktatur fand. Als ebenso relevant erweisen sich jedoch auch innerästhetische Gründe, die von der Avantgarde abrücken und eine neue Phase mimetisch-realistischer Literatur aufleben ließen. Ivo Andrićs und Maksim Gor’kijs Prosa oder Georg Lukács’s Essayistik in der Linkskurve (1929-32), die gegen den Expressionismus als Vorläufer des Faschismus und Nationalsozialismus gerichtet war und sich an der Poetik Tolstojs und Manns orientierte, sind hierfür nur besonders charakteristische Beispiele. Symptomatisch ist auch Andrićs Metapher, die er auf einer Sitzung des Belgrader PEN-Clubs 1938 für Nastasijevićs Dichtung verwendete:
Nastasijević führe, sagte Andrić, Tunnelbohrungen durch, die so tief seien, dass sie nicht zur anderen Seite stoßen könnten, da diese Seite nicht existierte.
Eine entscheidende Figur in dieser neorealistischen Debatte, die schon früh den Geist der neuen Staatlichkeit vertrat, war Aleksandar Belić. Er warf Nastasijević vor, die serbische Sprache zu verunstalten und damit das sprachliche Gesicht der Nation zu beeinträchtigen. Mit diesem angesehenen Linguisten nahm eine Rezeption überhand, die den Fokus vor allem auf den Mangel an Klarheit und den verfremdenden Stil setzte.
Ein äußerster Widerhall dieser Haltung findet sich im Urteil eines Advokaten aus Čačak wieder, das sich auf die Erzählung „Krles Braut“ [Krlova nevesta] bezieht, die in der Zeitschrift 20. Jahrhundert [XX vek, 1/9, 1938] abgedruckt wurde:
Man kann sich nur wundern, dass die Zeitschrift auch einem solchen Kritzler wie Nastasijević erlaubte, sich Raum in ihr zu verschaffen. Der ist doch kaum schriftkundig…
Zu Beginn der 1930er Jahre war Nastasijević noch geneigt, seine Position zu verteidigen. Den Apologeten strenger Sprachregeln hielt er im Essay „Über unsere Literatursprache“ [O našem književnom jeziku, 1931] entgegen, der Ort ihrer Bemühungen sollte die Schule, nicht die Literatur sein, da sich auf dem „Terrain des Geistes und des Ausdrucks“ nichts Endgültiges „herauskristallisiere“. Und weiter heißt es da:
Heute, da jedem auch nur ein bisschen Weitsichtigeren klar ist, dass sich die Grundlage unserer Literatursprache erweitern muss, vielleicht bis zu einem gemeinsamen Südslavischen, ist es sündlich und verantwortungslos, jenen Menschen, die sich zu schreiben berufen fühlen und die in einer tieferen Berührung mit der Realität stehen als andere, puritanische Schranken in den Weg zu legen, auf welchem sie von ihrem Kulturbewusstsein und noch mehr von ihrem Trieb, der veränderten Ordnung der Dinge ein weiteres geistiges Korrelativ, einen weiteren Ausdruck zu verleihen, geführt werden.
Die Sprache entwickelt und verändert sich für Nastasijević unentwegt und die Literatur spielt in diesem Prozess eine aktive Rolle. Wie sicher Nastasijević diese Funktion der Literatur einzuschätzen weiß, bezeugt nicht nur der Einfluss seiner Sprache auf die nachfolgenden Dichtergenerationen, sondern auch sein sicherer literarischer Geschmack. Von den heimischen Autoren schätzte er am meisten den Dichter Vladislav Petković Dis (1880–1917), den aus Vranje stammenden lyrischen Prosaisten Bora Stanković (1876–1927) und den slowenischen Romanschriftsteller Ivan Cankar (1876–1918). In einer seiner „Vorlesungen aus der Literatur“ (1932–1933) am Belgrader Gymnasium meinte er (die Aufzeichnungen stammen vom Gymnasiasten Petar Stevanović):
Ivan Cankar ist der größte Prosaist aller Jugoslawen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Einziger Konkurrent ist ihm vielleicht nur Bora Stanković.
Dieses Urteil verrät nicht nur ein außerordentliches Gespür für literarische Tendenzen, da die genannten Autoren erst viel später ins Pantheon der südslawischen Dichter eingingen, sondern auch eine erstaunliche Unabhängigkeit. Vor allem Stankovićs lyrisch-subjektive Sprachführung wurde noch lange über den Tod des südserbischen Schriftstellers hinaus als mangelnde Sprachbeherrschung kritisiert. Heute gilt dieser „Stotterer“ [mucalo] aus Vranje, wie Nastasijević dessen Kritiker zitiert, als einer der wichtigsten Autoren der südslavischen Moderne.
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Die „Sieben lyrischen Kreise“ [Sedam lirskih krugova] setzen sich aus dem 1932 veröffentlichten Band Fünf lyrische Kreise [Pet lirskih krugova] und den beiden später hinzu gekommenen Zyklen „Augenblicke“ [Magnovenja] und „Widerhallen“ [Odjeci] zusammen und bilden den Kern der Nastasijevićschen Lyrik. Sieht man von den Übersetzungen ab, liegt über diesen Band hinaus nur eine sehr begrenzte Anzahl „früher Gedichte“ vor, die der Dichter in Anlehnung an die französischen Parnassisten und Symbolisten meist in strenger Vers- und Strophenform verfasste.
Der Hauptgrund dieses schmalen Opus liegt darin, dass Nastasijević zeit seines Schaffens an einem einzigen lyrischen Text schrieb. Davon zeugen eindrücklich die Gesammelten Werke. Die „Sieben lyrischen Kreise“ umfassen hier insgesamt 430 Seiten, wovon die „Versionen“, die dazu noch im Kleindruck stehen, nicht weniger als 316 Seiten ausmachen. Allein vom Gedicht „Abendliche“ [Večernja] sind 22 Versionen erhalten, die der Dichter in einem Zeitraum von mindestens zehn Jahren schrieb. Auch vom späteren, fünften Zyklus „Worte im Stein“ [Reči u kamenu] lässt sich nachweisen, dass er in einer Zeitspanne von sieben bis neun Jahren entstanden ist.
Nastasijević kehrt immer wieder zu denselben Gedichten zurück, überarbeitet sie mehrfach vollständig oder fügt feinkörnige Veränderungen hinzu. Dabei löst er sie immer mehr von konkreten Bezügen und Situationen und führt sie einem Sprachraum zu, in dem sich auch die Regeln der Grammatik dem Bestreben nach Reduktion, Verdichtung und Mehrdeutigkeit beugen.
So wie die einzelnen Gedichte von Version zu Version abstrakter werden, zeigen auch die sieben „Kreise“ eine Entwicklung vom Expliziten und Konkreten zum Hermetischen und Abstrakten. Die ersten beiden Kreise „Morgendliche“ [Jutarnje] und „Abendliche“ [Večerne], deren Titel auf die „Morgen-“ und „Abendandachten“ anspielen, sind in ihrer Thematisierung des Frühlings und des vergoldenden und den Tod ankündenden Herbsts einem traditionellen Verständnis noch weitgehend zugänglich. Auch lassen beide Kreise in Form und Inhalt deutliche Anlehnungen an die mündliche Verstradition erkennen. Dennoch weisen auch sie bereits Stellen auf, die durch gezielte grammatische Verstöße, kühne Ellipsen und vielschichtige Oxymora rätselhaft wirken. Eine solche Entautomatisierung des Wahrnehmungsvorgangs bereitet den Leser für die späteren Kreise vor, die nur mehr wenig Anhalt in erkennbaren Situationen und einschlägigen grammatischen Mustern bieten.
Der dritte Kreis „Wachen“ [Bdenja], in dessen Mitte ein Subjekt steht, das mit sich und der Welt hadert, führt im Titel die religiöse Assoziation der ersten Kreise fort. „Bdenja“ ließe sich auch mit „Vigilien“ übersetzen, mit nächtlichen Andachten also, die ein großes Ereignis ankündigen. Eine gewisse Konkretheit bewahrt dieser Zyklus auch durch die Selbstanklage des lyrischen Subjekts und seine Auseinandersetzung mit dem sozialen und familiären Umfeld. Oft jedoch kann der Leser nur ahnen, was das lyrische Ich antreibt, und auch das große Ereignis wird nicht nur nicht benannt, sondern verharrt in einem symbolischen Raum, der höchst unterschiedlich deutbar ist.
Höhepunkt der hermetischen Dichtung sind die Kreise „Taubheiten“ [Gluhote] und „Worte im Stein“ [Reči u kamenu]. Auch hier tauchen zentrale Motive der ersten Kreise wieder auf, doch wird dieses ambivalente Erleben von Freude und Schmerz, Liebe und Tod, Anmut und Wollust, Natur und Zivilisation zusehends gedankenlyrisch verarbeitet und in die Sprache selbst hineingetragen. In dieser Abstraktion steckt zugleich der Versuch, die Gegensätzlichkeit und Zerrissenheit des Lebens zu „verwinden“ [preboleti], wie sich der Dichter selbst mehrfach ausdrückt. Hierbei ist sich das lyrische Ich sehr wohl bewusst, dass dieser Prozess unabgeschlossen bleiben muss, da sein Streben nach dem Geistigen in einem ständigen Wettbewerb mit der Faszination des Sinnlichen steht.
Eine nahe liegende Deutung dieser „Verwindung“ steht im Zeichen der Transzendenz, jedoch drängt sich dieser metaphysische Zugang, der sich vor allem auf religiöse Motive stützt, keineswegs auf. Nicht minder präsent ist die Suche nach einer Existenz als Dichter. Dieses Thema, das bereits im eröffnenden Gedicht „Schalmei“ [Frula] anklingt, schält sich im Verlaufe der sieben Kreise immer mächtiger heraus.
In „Schalmei“ ist der dichterische Gesang noch in eine traditionelle Hirtenszene eingebettet und daher nur unterschwellig vorhanden. Von Beginn an geht dieses Singen jedoch mit dem Motiv der Einsamkeit und der Separierung einher. Ein bereits deutlicher Zeuge einer schmerzlichen Vereinsamung ist das dritte Gedicht „An die Quelle“ [Izvoru]: Das Schalmei spielende Ich rückt in den Schatten, damit an der Sonne die Verehrte im Kolo auf tanzen kann. Diese Separierung verursacht in ihm das Gefühl einer lastenden Schuld. Nicht nur den patriarchalischen Vorstellungen seiner Umgebung kann der Sänger nicht genügen, sein Weg droht sich auch in den eigenen Sehnsüchten zu verlieren.
Ein erster Versuch der Umwertung der tradierten und weitgehend internalisierten Werte erfolgt im Gedicht „Ruhen der Bäume“ [Mirovanje drveta]. Das Ich möchte hier Anwalt der stummen Stämme sein:
schmerzt es, wenn
die Axt in euren Körper schlägt?
Und lindert es,
wenn für euch Stumme
ich Gequälter aufschrei?
Und am Ende heißt es:
Als Gequälter da,
Gefährten, für euch stumme,
flüsternd zu den Höhen
ein mildes Wort ich sprech.
Eine wichtige Etappe dieser Individuation ist die Abgrenzung vom traditionsbestimmten, gewöhnlichen Leben. In aller Schärfe erfolgt sie im Gedicht „An den Vater“ [Roditelju], in dem das lyrische Subjekt, das sich als „Frucht ohne Frucht“ bezeichnet, sich offen gegen den „Gebärer“ wendet, um seinen eigenen Weg zu behaupten:
Sterbend im Leben
Streif ich das blinde Geburtsmal ab.
Und nicht wie du
Kopfüber in die Befruchtung
und zum Festmahl.
Dieser Weg erweist sich jedoch nicht weniger als Entschluss denn als schicksalhafte Bestimmung:
Sondern im Willen, der mich nicht schuf,
Öffne ich den Weg, sieh,
Mir zur Vernichtung,
Den Ungeborenen zum Frieden.
Bereits versöhnlicher klingt diese Bestimmung im Gedicht „Worte aus der Einsamkeit“ [Reči iz osame]. Zwar bezahlt das Ich seinen Weg auch hier am Ende mit dem Tod – „Ich kleide mich in Stille, / durch das Geheimnis spricht der Stoff. // Asche, mich, die Winde stieben, / es bleibt die Glut“ –, doch vermag es in seinen „Liedern“ [pesme] bereits auch seine Nachkommen zu erkennen:
Kinderlos,
schreite ich der Wahrheit zu.
Söhne begleiten mich
und Töchter.
Auch das Gedicht „Saite“ [Struna] spielt auf den Künstler als Sänger an. Es ist derselbe schöpferische Geist, der im Essay „Für eine Mutter-Melodie“ [Za maternju melodiju] als „Priester“ einer „absoluten Religion“ bezeichnet wird. Doch auch diese Saite erklingt nur, indem sie birst: „Gesprungen, verstummend im Tod sich / die Saite verlauten läßt.“ Nicht mit Lorbeer wird der Dichter bekränzt, sondern mit Dornen: „ob es [das Herz] weinte oder sang / zur Gegengabe aus Dornen / man heimlich ihm eine Krone flocht.“
So haftet der Versöhnung mit dem eigenen Schicksal ein Stachel an, der unerbittlich ins eigene Fleisch bohrt und darin die Sinnlichkeit der menschlichen Existenz stetig manifest macht. In diesen unauflöslichen Gegensatz mündet auch der letzte Kreis „Widerhallen“ [Odjeci] ein.
Dieser siebte Kreis umfasst sieben Gedichte. In den ersten fünf variiert der Autor Themen aus den ersten drei Kreisen. So hallen etwa in „Trompete“ [Truba] und „Morgen“ [Jutro] Motive und Verse der Gedichte „Begräbnis“ [Pogreb] und „Rosiger Tropfen“ [Rumena kap] wider. Mit dem sechsten Gedicht „Aus der Einsamkeit“ [Iz osame] spitzt sich der Gegensatz zwischen Geburt und Tod zu und wird an die Vorstellung zweier konträrer Lebensorte gebunden. Von einem kalten „hier“ aus erinnert sich das Ich an die schweigenden Dächer seiner Heimat. Doch gilt sein Aufruf „Bleib wo du bist, / und fließe wie ein Fluss, / und wachse wie ein Baum, / und als Sturm heule auf, / oder blühe wie eine Blume“ nur mehr einem imaginären Gegenüber. Denn nicht nur hat die Beschreibung des einstigen Heims etwas Beklemmendes („In meiner Heimat / gebückte Dächer schweigen / und Wasser rinnen / und Rauch über die Erde schleicht“), die Heimat liegt auch in einer unwiderruflichen Vergangenheit.
Dieses Sehnen nach einem Ursprung, dessen Enge etwas Anziehendes und zugleich Imaginäres hat, erinnert an eine „Beiläufige Notiz“ [Uzgredna zabeleška] aus den frühen Zwanziger Jahren aus der Rubrik „Blicke in mich selbst“ [Pogledi u sebe]. Von der Unwiderruflichkeit der Vergangenheit spricht in dieser Aufzeichnung auch die Metapher der Entwurzelung:
Zwei Kräfte kämpfen in mir: Wo ich lebe, dringen aus mir immer neue Wurzeln in die Dinge und Wesen ein, und das Leben wird mir stetig reicher an Säften der Umgebung. Doch dann kommt ein Ruf aus der Ferne: in der Silhoutte der Berge am Horizont, im Lauf des Wassers, im Flug der Vögel. Da reiße ich die Wurzeln unbarmherzig aus; eine tiefe Trauer des Abschieds schleppt sich wie ein Schatten hinter mir her.
Auch die „Verwindung“ im siebten lyrischen Kreis muss so unvollendet bleiben. Das lyrische Ich steckt, um in einem anderen Bild des Dichters zu sprechen, inmitten einer Furt [brod]:
Mit dem Gang da ins Ungängige,
mit dem Unweg ins Wegelose,
und Furten, um nicht zu durchfurten.
Und dennoch strahlt der Band an seinem Ende eine gewisse Ruhe aus. Indem das abschließende siebte Gedicht „Mär“ [Priča] den Lauf der Jahreszeiten besingt, fasst es den gesamten Zyklus noch einmal gedrängt zusammen. Und in dieser gerafften Erzählung der zyklischen Natur findet der Dichter seine paradoxale Aussöhnung mit dem Unversöhnlichen.
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Die „Sieben lyrischen Kreise“ gelten zurecht als Gedichtzyklus. Doch nicht nur die 75 Gedichte bilden eine weitreichende Einheit, ihr Grundstock an Motiven, die der Dichter bereits um die Mitte der Zwanziger Jahre erarbeitet hat, prägt sein gesamtes Opus. Nastasijević schreibt in allen drei Grund-Gattungen gleichzeitig, sodass Figuren, Gedanken, Bilder und sprachliche Verfahren von Text zu Text wandern. Die hier folgende Beschreibung einiger sprachlicher Aspekte seiner Dichtung trifft deshalb weitgehend auch auf die Dramen und die Prosatexte zu.
Ein offensichtlicher Grund, warum Nastasijevićs Werk schwer zugänglich ist, liegt in der Lexik. Wie Andrićs Romane nicht ohne Register der verwendeten Turzismen auskommen, steht auch im Anhang der Nastasijevićschen Gesammelten Werke (I–IV) ein „Wörterbuch weniger bekannter Lexeme“ [Rečnik manje poznatih reči]. Während sich unter diesen Wörtern im Prosaband (II) zahlreiche Turzismen finden, sind es im Lyrikband (I) vor allem Archaismen aus der Volksdichtung und der mittelalterlichen Schriftkultur. Hierbei entnimmt Nastasijević der schriftlichen und mündlichen Tradition nicht nur einzelne Wörter und Phraseologismen, er prägt in deren Geist auch neue Ausdrücke. So formt er beispielsweise nach dem volkssprachlichen Muster „Angst [erfasst, drückt] mich“ [strah me] eine ganze Reihe analoger Ellipsen: „Traurigkeit mich“ [seta me], „Durst mich“ [žeđa me], „Einsamkeit mich“ [osama me], „Schmerz mich“ [bol me], „Gericht mich“ [sudnje me], „Gram dich“ [žal te] und gar (im Zyklus „Taubheiten / Gluhote“) „seltsam mich dieses Frühjahr die Kälte“ [čudno me u proleti ovoj zima]. Ein weiteres Muster von Neologismen ergibt sich aus der für die Volkspoesie charakteristischen Zwillingsformel „Schönheit-Mädchen“ [lepota devojka], die der Dichter auf Verbindungen wie „Wasser-Wunder“ [voda čudo], „Lamm-Sohn“ [agnec-sin], „Perle-Durst“ [biser-žeđa], „Ursprung-Meer“ [iskon-more], „Flamme-Befruchtung“ [plamen-oplođenje] anwendet. Diese Verdopplungen führen nicht selten zu einer Irritation darüber, was nun im Satz als Subjekt, beziehungsweise als Objekt zu verstehen ist.
Nicht nur Verben lässt der Dichter gerne aus, sondern in futuristischer Manier auch sekundäre Wortarten wie Konjunktionen, Präpositionen oder Reflexivpronomen. Zugleich unterwandern rhetorische Figuren wie die Inversion, der Satzeinschub (Hyperbaton), die Kreuzstellung von Satzliedern (Chiasmus) und der Satzabbruch (Anakoloth) die neutrale Wortfolge, sodass sich Wörter syntaktisch sowohl nach links wie nach rechts beziehen lassen. So möchte man das erste Wort des Zweizeilers „Zweier / Kreuzung vor der Sonne“ [Dvojih / pre sunca ukrštaj] aus „Worte im Stein“ [Reči u kamenu] zunächst auf die Sonne beziehen, was grammatisch nicht abwegig ist („Kreuzung zweier Sonnen“/ukrštaj dvojih sunca); da jedoch dadurch die Präposition „vor“, die den Genitiv regiert, ohne Bezugswort bleibt, muss neu zusammengedacht werden. Im Gesamtkontext bestätigt sich schließlich, dass es sich wohl um den Beischlaf zweier Liebenden vor Sonnenaufgang handelt. Doch auch die irreführende Assoziation mit den beiden Sonnen behält ihre Berechtigung bei, sodass den Liebenden eine kosmische Dimension verliehen wird.
Ein sehr häufiges poetisches Verfahren ist der verfremdende Umgang mit dem Dativ und dem Instrumental. Beide Fälle lassen sich an dem folgenden Zweizeiler aus „Trauer im Stein“ [Tuga u kamenu] erläutern: „Mit der Wurzel im Stein / schließ ich der Trauer den Kreis“ [Korenom u kamenu / tuzi zatvaram krug]. Die Wurzel [koren] ist in diesem Vorgang nicht bloß Instrument, ihr haftet auch ein kausales Moment an. Es ließe sich Sinngemäß auch sagen: Indem das Ich in den Stein einwächst, schließt es „der Trauer“ den Kreis. Der auffällige Dativ bewirkt auch im Original eine Personifizierung der Trauer, sodass sich der bewusste Anteil des handelnden Ich vermindert.
Eine weitere Verständnishürde bilden die fehlenden Akzente. Sie werden im Štokavischen regelhaft da gesetzt, wo sie eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben und wo sie im Kontext nicht auf Anhieb erkannt werden. Nastasijević setzt nun Wörter nicht selten so zusammen, dass der fehlende Akzent Vieldeutigkeit geradezu provoziert. So können Verben bisweilen als Substantive („zore“ bedeutet sowohl ,sie leuchten‘ als auch ,Morgendämmerungen‘) oder Imperative als Aorist- und Präsensformen gelesen werden („prikloni“: ,beug!‘, ,beugte‘, ,beugt‘). Noch häufiger als die Homographie, bei der identisch geschriebene Wörter unterschiedlich ausgesprochen werden, verwendet der Dichter das Prinzip der klassischen Homonymie – ein Verfahren, das für die Dichtung überhaupt charakteristisch ist. Selbst ein tonanlehnendes (enklitisches) Wörtchen wie te kann zwischen den Bedeutungen „und“, „dich“, „sodass“ und dem Relativpronomen „der“ schwanken. So heißt es im Gedicht „Zwei Wunden“ [Dve rane]:
Doch öffnen sich zwei.
Der Verwindung ich diese [sic] beibrachte,
meine ohne Verwindung, Bruder.
[Al’ dve se otvore. / Preboli te zadadoh, / moja bez prebola, brale]. Das graphisch hervorgehobene „te“ kann im gegebenen Kontext sowohl als Demonstrativ- als auch als Relativpronomen gelesen werden, während die pronominale Bedeutung „dich“ defokussiert ist. Geht man von einem Relativpronomen aus, muss freilich auch das Lexem „Preboli“ als Imperativ gelesen werden: „Verwinde, was ich beibrachte“. Die Übersetzung kann dieses Schwanken nicht adäquat wiedergeben, auch wenn der Verlust begrenzt bleibt, da beide Varianten eine ähnliche Sinnintention verfolgen.
Schließlich seien hier noch die oft fehlenden Satzzeichen erwähnt, die eine Zeile oder eine Strophe auf der Schwebe zwischen Ausruf, Feststellung oder Frage halten können. Wenn z.B. das Wörtchen „li“ in der dritten Strophe der „Taubheiten“ [Gluhote] noch im Sinne einer konditionalen Konjunktion zu lesen ist („Und wenn es verstummt / I zamuknuv li), so tendiert man in der achten Strophe in einer vergleichbaren Konstruktion eher zu einer Fragepartikel („ob für die Schönheit wohl / I lepoti li“). Da in beiden Fällen jeweils nur ein Punkt gesetzt ist, bleiben grundsätzlich beide Möglichkeiten gewahrt.
Die Frequenz dieser verfremdenden Verfahren, die vor allem in den späteren Kreisen sehr hoch ist, bezeugt Nastasijevićs Nähe zur Avantgarde. Der Dichter war mit den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit – vom Futurismus bis zum Surrealismus – nicht nur bestens vertraut, viele Vertreter dieser -ismen waren auch regelmäßig Gast im Salon seiner Familie. Die Gedichtversionen lassen dabei detailliert nachvollziehen, wie systematisch der Autor diese sprachlichen Reduktionen betrieb und wie konsequent er Mehrdeutigkeit ausbaute.
Es wäre also irreführend, in Nastasijević einen Dichter zu vermuten, der eine alte, mittelalterliche oder volksliedhafte Welt wieder aufleben lassen wollte. Die archaischen und volkspoetischen Elemente schaffen nicht die Ambiente alter, vergangener Tage, sie beschwören nicht eine nationale Grundlage, sie dienen im neoprimitivistischen Sinne der Selbsterkenntnis. Der Dichter findet über die Tradition den Zugang zu etwas Ursprünglicherem, Authentischerem und, wie er im Essay „Für eine Mutter-Melodie“ [Za maternju melodiju] schreibt, „Allgemeinmenschlichem“. In einem Interview mit der Pravda vom 27.11.1930 antwortete er auf die Frage „Unsere Literatur erfährt sehr unterschiedliche Einflüsse. Wirkt sich dies förderlich aus?“ mit den Worten:
Das hängt vom Einzelnen ab. Wer tief in seinem Grund wurzelt, ist gerade dadurch offener für fruchtbare Einflüsse von den verschiedensten Seiten. Die Kunst ist die Kraft, die die Grenzen zwischen den Individuen und zwischen den Völkern vernichtet. Sie ist der Übergang vom tief Individuellen zum Depersonalen…
Es ist also die Attitüde eines Picasso afrikanischen Masken oder eines Malevič und Nolde dem ländlichen Holzschnitt gegenüber, die Nastasijević nach der „Muttermelodie“ suchen lässt. Hierbei ist er sich durchaus bewusst, dass auch seine Dichtung letztlich „auf eine Technik hinausläuft“ [svodi se na tehniku]: Solange die Kunst nicht reine Poesie ist, fährt er in seiner Antwort in der Pravda fort, „werden wir alle mehr oder weniger und jeder an seiner eigenen Stilomanie [stilomanija] leiden.“
Dies sagt freilich ein Dichter, dessen Werk sich dadurch auszeichnet, dass seinen sprachlichen Verfremdungen kaum etwas Spielerisches und Willkürliches anhaftet. Eher schon erwecken sie den Eindruck eines Rätsels und einer rätselhaften Welt, die in volkssprachliche, alte und mythische Schichten zurückgreift und dennoch ein modernes Bewusstsein dechiffriert. Freilich mussten Jahre und Jahrzehnte vergehen, bis sich eine wirkliche Bereitschaft fand, sich mit diesem enigmatischen Autor auseinanderzusetzen.
(…)
Am 6. Mai 1936 erkrankte Nastasijević jäh. Anfänglich weilte er ohne verlässliche Diagnose zuhause, dann wurde er in das Allgemeine Staatliche Krankenhaus [Opšta državna bolnica] eingeliefert. Doch auch hier konnte die Ursache seiner hohen Temperatur nicht gefunden werden. In einem ärztlichen Zeugnis, das der Dichter selbst verlangte, steht:
Bestätigung. Dass Momčilo Nastasijević auf der Abteilung II für Innere Krankheiten dieses Krankenhauses vom 2. bis 28. Juni 1936 aufgrund seines schweren septischen Zustands (sepsis typhobacilosis) gelegen hat.
Als er sich im Juni wieder etwas erholte, entschied er sich, den Sommer in Gornji Milanovac zu verbringen. Hier schöpfte er vorübergehend neue Kräfte. Sie reichten aus, um die Arbeit am Gymnasium mit einem auf vier Wochenstunden reduzierten Lehrdeputat wieder aufzunehmen. Den Vorschlag der Schulleitung, einen längeren Erholungsurlaub in den Bergen anzutreten, lehnte der Dichter ab.
1937 zog die Familie von der Molerova in die Aleksandar-Nenadović-Straße, Die sonntäglichen Treffen fanden auch in diesem Jahr regelmäßig statt. Wie die Philosophin Ksenija Atanasijević bezeugte, las Nastasijević in den letzten Monaten seines Lebens in einem engen Kreis von Schriftstellern aus seinem Manuskript „Beim ,Ewigen Zapfhahn‘“ [Kod ,Večite slavine‘] vor. Er hatte das Stück für eine Aufführung im „Volkstheater“ [Narodno pozorište] neu bearbeitet und sich dabei selbst über die konkrete Besetzung der Rollen Gedanken gemacht. Doch auch diesmal wies das Theater das Stück zurück. Nastasijević stand damit nicht nur gesundheitlich, sondern auch als Schriftsteller an einem Tiefstpunkt. Lediglich ein einziger kleiner Text sollte zu seinen Lebzeiten noch veröffentlicht werden: das Gedicht „Er“ [On]. Es erschien im Belgrader Zeitgenossen [Savremenik], in dem auch sein erstes Gedicht erschienen war.
Nastasijevićs Schaffenswille blieb jedoch ungebrochen. In Handschriften liegen aus dieser Zeit ein Filmszenario („Prinz Marko“/ Kraljević Marko) und ein Ballett-Libretto („Lebendiges Feuer“/ Živi oganj) vor (für Letzteres schrieb Milenko Živković die Musik). Und noch immer trieb Nastasijević der Plan des „Belgrader Romans“ um, den er nun unter dem Titel „Einsiedler in der Stadt“ [Pustinyak u gradu] zu realisieren gedachte. Für dieses autobiographisch geprägte Werk reichte die Kraft jedoch nicht mehr aus. Anfang 1938 erkrankte Nastasijević erneut. Noch immer konnte die Krankheit nicht verlässlich diagnostiziert werden, doch wurde sich der Dichter immer mehr gewiss, dass es diesmal keine Rettung für ihn gab. Mehrfach fragte er den Bruder Svetomir, wie weit die Komposition des Đurađ Branković gediehen sei. Für eine Aufführung war es freilich zu spät. Eine einzige Schaffensfreude nur sollte dem gescheiterten Dichter noch zuteil werden. Ein paar Tage vor dem Tod las ihm die Schwester Darinka den Artikel von Stanislav Vinaver vor, in dem der brillante Kritiker Nastasijević als Autor lobte, der als Einziger eine Erneuerung der serbischen Literatursprache angestrebt habe. Der Artikel ließ den Scheidenden vielleicht erahnen, welche Rezeption sein Werk einst erfahren würde.
Am 13. Februar starb Nastasijević im Allgemeinen Staatlichen Krankenhaus [Opšta državna bolnica] im Alter von 44 Jahren. In der Todesstunde begleitete ihn Bojana Jelača, mit der er sich seit Jahren eng verbunden fühlte. Auch sie sollte noch im selben Jahr an Tuberkulose sterben.
Momčilo Nastasijević wurde am 14. Februar auf dem „Neuen Friedhof“ [Novo groblje] in Belgrad begraben. Auf dem hellen, schlichten Grabstein ließ die Familie das Gedicht „Epitaph“ aus dem sechsten Kreis „Augenblicke“ eingravieren:
Flamme, – verbrennen wo Heilung.
Schwert, – köpfen wo Verhängnis.
Balsam dem Ungenesen.
Fester dem Efeu Stamm,
durchleben wo Lehen.
Übel Geist dem Übel, der Güte treuer Knecht;
dem Aufgang Opfer, der Ernte Ähre;
plagt sich ab – selbst sich, Rettung und Grab.
Über vier Jahrzehnte später wurde der Stätte auch der Bruder Svetomir beigesetzt, sodass heute auf dem Grabstein unterhalb des Gedichts die Zeile zu lesen ist: „Svetomir Nastasijević. Komponist. 1902–1979“.
*
Noch im Todesjahr 1938 begann die Herausgabe der zehnbändigen Gesamtwerke [Celokupna dela] im Verlag der Freunde [Izdanje prijatelja, Beograd 1938–1939] mit einem Vorwort von Stanislav Vinaver. Mitinitiator war die Familie Nastasijević. An vorderster Front agierte die Schwester Slavka. Auch der Belgrader PEN-Club veranstaltete unmittelbar nach dem Tod des Dichters eine Sitzung, die erstmals ganz dem Nastasijevićschen Schaffen gewidmet war. Initiator war wiederum Stanislav Vinaver. Diese Zeit kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schildert die Schriftstellerin Svetlana Velmar-Janković in den folgenden Worten:
Der Eindruck überwiegt, dass in diesen beiden Jahren 1938 und 1939 die öffentliche Meinung Serbiens und Jugoslawiens den Wert des Nastasijevićschen Werks zuschends hervorhob, sodass auch breitere Leserkreise eine Idee seiner Bedeutung erlangten.
Für eine Entfaltung der in den Gesamtwerken gesetzten Impulse blieb jedoch kaum Zeit. Zu schnell brach der Zweite Weltkrieg herein. Und als er vorbei war, folgten Jahre im kommunistischen Kulturbetrieb Jugoslawiens, in denen man vor allem den kollektiven, antifaschistischen Volksbefreiungskrieg hervorhob. Wohl kamen zum fünften Todestag im besetzten Belgrad noch einige kurze Artikel heraus, die von der Bedeutung des Nastasijevićschen Werks sprachen, doch haben laut Velmar-Janković diese Rezensionen eher dazu beigetragen, dass der Dichter nach dem Krieg, ähnlich wie Miloš Crnjanski oder Rastko Petrović, für lange Jahre zu einem nicht existenten Autor geworden ist. Eine gewisse Rolle dürften hierbei auch Momčilos Brüder Svetomir und Slavemir gespielt haben. Während der Besatzungszeit war Svetomir Direktor [upravnik] der Belgrader Oper und auch Slavomirs Komödien wurden auf den Bühnen Belgrads und Serbiens regelmäßig gespielt. Zwei der Schauspieler, die in Slavomirs Komödien auftraten, wurden am Kriegsende von der neuen Macht erschossen. So warf der Verdacht auf Kollaboration seine Schatten auch auf Momčilo.
Dieser Hintergrund mochte auch den hoch angesehenen Surrealisten Marko Ristić in seinem 1952 veröffentlichten Essay-Band Literaturpolitik [Književna politika] beflügelt haben, Nastasijević’ Obskurantismus vorzuwerfen – ein Vorwurf, der in den ersten Jahren der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien besonders schwer wog. Freilich waren die politischen Weichen bereits anders gestellt. 1948 brach Tito mit Stalin. Damit leitete das neue Staatsoberhaupt auch einen Gesinnungswandel in Kunst und Literatur ein. Das sozrealistische Intermezzo endete, bevor es Fuß zu fassen begann. 1953 verteidigte Miroslav Krleža auf dem Dritten Kongress des Jugoslawischen Schriftstellerverbandes in Ljubljana in Absprache mit dem Chefideologen Milovan Đilas die Freiheit in der Kunst. Im Zuge dieser Liberalisierung, in der sich die sogenannten „Modernisten“ gegen die „Realisten“ durchsetzten, kehrten auch Autoren wie der emigrierte Crnjanski und der von der Oberfläche verschwundene Nastasijević ins kulturelle Leben des Landes zurück.
1954 erschienen in Unser Kurier [Naš vesnik] drei Texte Nastasijevićs, begleitet von einer kurzen Notiz über den Autor. Es waren die Gedichte „Trompete“ [Truba], „Eschen“ [Jasike] und „Spur“ [Trag]. Ein Jahr später folgten zwei längere Artikel von Prvoljub Pejatović und Miodrag Maksimović in den Zeitschriften Horizonte [Vidici] und Junge Kultur [Mlada kultura]. Das folgende Jahr 1956 markierte bereits den Durchbruch: In der Zeitschrift NIN (8. Januar) veröffentlichte der renommierte antidogmatische Kritiker Borislav Mihajlović Mihiz einen Artikel über die Bedeutung Nastasijevićs in der serbischen Literatur, und noch im selben Jahr nahm er den hermetischen Autor in die Anthologie Serbische Dichter der Zwischenkriegszeit [Srpski pesnici između dva rata] auf. Kurz darauf folgte ein Beitrag von Petar Milosavljević in der Zeitschrift Felder [Polja] und schließlich räumte ihm Zoran Mišić in seiner berühmten Anthologie serbischer Poesie [Antologija srpske poezije] den Umfang eines zentralen Dichters ein. 1958 besorgte wiederum Mihailović Mihiz eine Neuausgabe der wichtigsten Texte unter dem Titel Gedichte. Erzählungen. Dramen [Pesme, Pripovetke. / Drame].
Nastasijević avancierte damit in kürzester Zeit zu einem der einflussreichsten Autoren der Nachkriegszeit nicht nur in Serbien, sondern in der gesamten Jugoslawischen Republik. Vor allem die Dichter, unter ihnen die ganz großen Namen, entdeckten in ihm den Schöpfer einer neuen Sprache. Den Anfang machte Isidora Sekulić 1957 mit ihrem einflussreichen Aufsatz „Die dunklen Lande des Momčilo Nastasijević“ [Tamni vilajet Momčila Nastasijevića]. Es folgten ihr 1962 (und erneut 1968) Vasko Popa mit der Herausgabe der Sieben lyrischen Kreise [Sedam lirskih krugova], Miodrag Pavlović 1966 mit den Ausgewählten Werken [Izabrana dela] in zwei Bänden, Ljubomir Simović 1972 mit den Fünf lyrischen Kreisen [Pet lirskih krugova], die auch die Kreise „Augenblicke“ [Magnovenja] und „Widerhallen“ [Odjeci] enthielten, und schließlich Slobodan Rakitić und Svetlana Velmar-Janković 1969 mit den Essays „Dichter der Muttermelodie“ [Pesnik maternje melodije] und „Wort und Wesen“ [Reč i suština]. Auch außerhalb Serbiens waren es große Namen, die Nastasijević als Meilenstein ihrer eigenen Dichtung rezipierten, unter ihnen Hamza Humo (1895–1970), Mak Dizdar (1917–1971), Skender Kulenović (1910–1978) und Nikola Šop (1904–1982). Parallel zur Veröffentlichung der Primärtexte wuchs auch die Sekundärliteratur nach 1956 kontinuierlich an und erreichte Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre einen ersten Höhepunkt.
Neue Impulse erfuhr die Rezeption des Dichters Ende der 1980er Jahre. Zentrales Ereignis war die umfangreich kommentierte Herausgabe der Gesammelten Werke Momčilo Nastasijevićs [Sabrana dela Momčila Nastasijevića] in vier Bänden (Gornji Milanovac 1991) durch Novica Petković. Sie vereinigen nicht nur das gesamte künstlerische und essayistische Werk des Dichters, sondern schließen auch erhaltene Versionen mit ein. Ein weiterer Schritt in der Verständlichmachung des hermetischen Werks stellt das Selektive Wörterbuch der Poesie Momčilo Nastasijevićs [Selektivni rečnik poezije Momčila Nastasijevića] dar, das der Dichter Milosav Tešić 2008 seiner Ausgabe der Sieben lyrischen Kreise [Sedam lirskih krugova] beigefügt hat. Und wiederum waren es unter den Literaturwissenschaftlern zahlreiche Dichter, die von Nastasijević als Quelle der Inspiration sprachen.
Der Gedanke, dass diese Rezeption der Neunziger Jahre teilweise Literaten und Lesern geschuldet ist, die in einer zerstörerischen Zeit nach einer eigenständigen nationalen Kultur suchten, ist nicht abwegig. Nastasijevićs Rückbesinnung auf eine Muttermelodie bietet hierfür sehr wohl Identifikationsmomente, auch wenn sich seine avantgardistische Sprache letztlich jeglicher ideologischer Instrumentalisierung widersetzt und es auch keine Äußerungen des Dichters oder Bürgers Nastasijević gibt, die kollektiven Identitäten den Vorrang vor der Integrität des Individuums einräumen würden. Umso größere Aktualität gewinnt wieder, was Stanislav Vinaver 1938 schrieb:
Es wäre irreführend zu denken, Nastasijević hätte sich von Europa, vom Westen und von der großen und kleinen menschlichen Zivilisation entfernt. Er hat ihnen gegenüber nur den Standpunkt und die Freiheit eines Schöpfers eingenommen. Er hat auf unserem rätselhaften Boden gearbeitet, der ihm teuer war, nicht nur weil es der seine und ein ihm vertrauter war, sondern weil er darin auch seine Anerkennung, seinen Fluch und Segen sah: an beides hat er geglaubt.
Wenn er Originalität, Ursprünglichkeit suchte, so nicht in der Absicht, sich von Europa zu entfernen, und uns alle von Europa zu entfernen, sondern in der Absicht, dass wir uns erst einmal finden. Denn nicht einmal zu imitieren sind wir angemessen imstande, wenn wir uns selbst nicht kennen.
Robert Hodel, Vorwort
ist einer der bedeutendsten serbischen Dichter des 20. Jahrhunderts und hat eine enorme Wirkung auf mehrere Generationen südosteuropäischer Schriftsteller ausgeübt. Er fesselt durch die ihm eigene Spiritualität, Sinnlichkeit und sprachliche Originalität. Seine Dichtung begibt sich auf Augenhöhe zu den französischen Symbolisten, den deutschen Expressionisten sowie den russischen Futuristen. Seine Sprache ist hochmetaphorisch, teilweise hermetisch und äußerst musikalisch. Diese Ausgabe stellt den ersten Versuch dar, Nastasijević’ Texte umfassend ins Deutsche zu übertragen.
Leipziger Literaturverlag, Klappentext, 2013
Vasko Popa und Miodrag Pavlović haben seine eminente Bedeutung erkannt und sich herausgeberisch für ihn eingesetzt, doch wurde Momčilo Nastasijević (1894–1938) nie über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Stellte seine hermetisch-opake Lyrik schon für den serbischen Leser eine Herausforderung dar, galt dies umso mehr für jeden Übersetzer. Robert Hodel ist das Wagnis eingegangen und legt nun eine repräsentative Werkauswahl in deutscher Übertragung vor, ergänzt durch ein umfangreiches Vorwort.
Diesem ist zu entnehmen, dass Momčilo Nastasijević väterlicherseits aus einer im heutigen Mazedonien beheimateten Familie von Freskenmalern und Kirchenbaumeistern stammte. Sein Vater verlegte sich auf den Bau von Schulen, Spitälern und Brücken, während die gebildete Mutter sich ihren sieben Kindern widmete, die zu Komponisten, Malern und Dichtern heranwuchsen. Momčilo, ein glänzender Flötist, studierte in Belgrad französische Sprache und Literatur. Mitten im Krieg begann er Gedichte und Erzählungen zu schreiben und hielt an seiner poetischen Berufung zeitlebens fest, auch als er den Brotberuf des Gymnasiallehrers ausübte. Es entstanden lyrische Dramen, Opernlibretti, Geschichten, vor allem aber Gedichtzyklen, in denen Archaik und Folkloreelemente sich mit kühnen Neologismen und Motiven der Décadence verbanden.
Momčilo Nastasijevićs Hauptwerk, Fünf lyrische Kreise, ist eine rätselhafte, zwischen Mystik und Avantgarde oszillierende Sammlung, die um Natur, Einsamkeit und Tod kreist und sprachlich-grammatische Gesetze zugunsten eines musikalisch-spirituellen Ausdrucks ausser Kraft setzt.
Mit dem Gang da ins Ungängige,
mit dem Umweg ins Wegelose,
und Furten, um nicht zu durchfurten.
Die durch religiöse Metaphern, Wortneubildungen und eine regelwidrige Syntax begünstigte Hermetik fasziniert ebenso, wie sie irritiert. Immer wieder fragt man sich, wo Nastasijević zu verorten sei – bei den modernistischen Bahnbrechern oder bei den Einzelgängern, die aus alten Quellen schöpfen. In seinem Essay „Eine Mutter-Melodie“ plädiert er für das Geheimnis und den „angestammten Grund“:
Auf alle melodischen Reize von aussen mit der persönlichen Melodie antworten. Das ist aktive Aufnahme.
Eine eigenständige Stimme ist der sensualistische Metaphysiker Nastasijević allemal, nicht nur im Chor der modernen serbischen Poesie.
Sind Flügel wohl… von Momčilo Nastasijević ist eine Sammlung vieler Werke des serbischen Dichters, der sich durch seinen besonderen Stil vom Großteil der Künstler des 20. Jahrhunderts abhebt. Der Band enthält nicht nur die kürzeren Arbeiten des Schriftstellers, sondern schließt auch mit einer märchenhaft anmutenden Erzählung. Die Dichtungen sind unterhaltsam und kurzweilig und enthalten so manche Wahrheiten, derer man sich nicht immer so bewusst ist. Zum Schriftsteller selbst, der bis heute viele weitere Autoren inspirierte, enthält der Band ein ausführliches Vorwort.
Mónika Koncz: Über das Menschenmögliche hinaus
fixpoetry.com, 7.8.2013
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