BODDENTERROR
arg geschiemannt nehmen wir willkommen
der bodden blüht, die rotte modert
sechsundsechzig & siebzehnundvier
wisch du ma’ mir; alles ist bier
der schiefe blick des terroristen bricht
bilchrat ersetzt uns ab sofort gagat
& ausgekippt der vater mit dem staat
gevatter tod erstattet lagebericht
vom scharbock genesen wälzen wir scharteken
lösen scharaden & haben den lenz an bord
böse sei der mensch, listenreich & klug; & nun
zum tagesausklang das standrecht vom vortag
Bert Papenfuß
… Ein Blick in die verschiedenen Produktlinien gegenwärtiger Lyrik zeigt schnell, wie zahlreich die Texte sind, die sich mit Esprit jener Landschaft zuwenden. Und wie vielfältig.
Nun ist die Ostsee kein Ozean, kein gewaltiges Meer. In globalem Maßstab zählt sie zu den eher mittelgroßen maritimen Gewässern. Aber auch ein ozeanischer Teich kann immense Reize auslösen. Vielleicht ist es sogar diese Mittelstellung zwischen übermäßiger Exotik und relativer Schlichtheit, die die Gedanken auf besondere Weise anregt. Und die man verknüpfen kann mit einem Alltag, der gleichermaßen irgendwo zwischen Exotik und Schlichtheit schwingt.
Die Ostsee ist kein exempter Ort. In den meisten der hier versammelten Gedichte ist sie nah, nahbar, Gegenwart. Sie gibt ein Aroma davon, was das Meer mit einem machen kann und was die (durchzivilisierte) Gegenwart mit einem macht. Es geht nicht darum, erlauchte Stimmungen abzurufen, sondern eher um Überlappungen zwischen Individuum und Natur, um Distorsionen, Neurosen Unschärfen, Ver- und Entfremdungsstrukturen.
Es tun sich keine mythischen Gefilde auf. Die Ostsee der Gegenwart ist kein Poseidonpool, keine Bühne für symbolistische Kammerspiele. Sie reicht weit über sich selbst hinaus, weit ins Nichtmaritime hinein. Ist im Gedicht teilweise ein unkenntliches, ubiquitäres Meer.
Und so sind die Gedichte auch keine eskapatischen Unterfangen. Sie sind hier. Überall. Teil der krakenhaften Urbanität – wo der zauberhafte Augenblick den von Profanität und Zumutung verseuchten Daseinsschutt berührt.
Ob nun zum eleganten Poem neigend oder zur spröd-resistanten Notiz: für alle Texte gilt: Exorbitante Entdeckungen sind zu machen beim Blättern „im Inhaltsverzeichnis der See“ (Ulrike Almut Sandig). Oder wunderbare Metaphern zu finden dafür, wie überhaupt man das Meer erfahren kann – zwischen zarter Regung und anarchischem Gesang. Oder einfach zu erleben, dass manchmal Surrealisierung der einzige Weg ist, um die Dinge kenntlich zu machen. In ihrer Schönheit und in ihrer Schönheit als „deutliches Rauschen“ (Steffen Popp)
Ron Winkler, aus dem Vorwort
wie viele Gedichte sich mit Esprit der Landschaft Ostsee annehmen. Dem Meer und den sich daraus und daran entspinnenden Gedankenlandschaften. Diese setzen sich nicht nur aus typischen Signalsymbolen wie Möwen oder Brandung zusammen. Ostsee kann auch heißen: Hinterland und Distanz. Eine Projektionsfläche des durchzivilisierten Alltags. Ein Auslöser für poetische Bilder, die um Weite, Unschärfe und Individuum kreisen. Ein Raum mit großer Reichweite kann die Ostsee im Gedicht sein. Ein Ort sogar, an dem der Gischt des Nichtmaritimen begegnet wird oder die Stadt auf die Stadt trifft.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Klappentext, 2010
– Die Reize der Ostsee sind unterschwelliger und anregender als so manches afrikanisches Abenteuer. Das beweisen die mehr als 100 Gedichte von zeitgenössischen deutschen Schriftstellern. –
Wasser, Wellen, Sanddorn und Hering: Eine der Haupteigenschaften der Ostsee ist, das darf man nicht vergessen, die Nähe zu Berlin. Nicht nur zu Berlin natürlich, sondern auch zur ehemaligen DDR. Von Berlin wie von Dresden aus war und ist die Ostsee das nächste größere Gewässer, und nach wie vor wird sie von all den in dieser Gegend lebenden Menschen – unter ihnen nicht wenige Dichter – gern aus Gründen der Erholung angesteuert. Dass auch im Urlaub – oder während eines Aufenthaltes im Künstlerhaus Ahrenshoop – so manches (ortsbezogene) Gedicht entsteht, versteht sich von selbst.
Die Hauptaufgabe Ron Winklers, Herausgeber des Bandes Die Schönheit ein deutliches Rauschen, wird es darum gewesen sein, aus der Fülle an Material gut auszuwählen und das Ausgewählte dann klug anzuordnen.
Es ist ihm, das sei gleich gesagt, vorzüglich gelungen. Die überdies schön gestaltete Sammlung von über 100 zeitgenössischen Ostseegedichten liest sich bei aller Vielfalt – so unterschiedliche lyrische Temperamente wie Jan Wagner und Claudia Gabler, Nico Bleutge und Ulrike Draesner, Volker Braun und Kathrin Schmidt sind vertreten – als stimmiges Ganzes.
Das mag auch daran liegen, dass die Ostsee in den meisten Gedichten als Ort der Kontemplation und Reflektion, nicht als wild stürmendes Überwältigungsmeer in Erscheinung tritt. Wie eine leere Projektionsfläche mutet sie zuweilen an, ein blanker Spiegel oder auch ein weißes Blatt Papier. Die paar Fische, Möwen, Schiffe, die sich auf und in ihr herumtreiben, sind eigentlich nicht der Rede wert. Und was die Küste angeht, die die Dichter mitunter auch vom Meer aus beobachten – das polnische Frombork etwa betrachtet Jan Wagner vom Wasser aus – so hat auch die in der Regel nicht viel zu bieten: Ein Kirchlein, etwas Bernstein und das war es dann auch schon:
Hach, an diesem Ort
hast du multiple Namen, hier flattert deine Hose
irre im Wind, nichts, wirklich rein gar nichts ist
bedeutungsvoll hier, life is a fucking beach.
So die Diagnose Claudia Gablers. Aber natürlich ist die Ostseeküste auch ein historischer Ort: Hier bauten Nazis Bomben und Erholungsheime, hier schiffte sich die schwedische Flotte ein. Echos dieser Ereignisse klingen in den Gedichten dieses Buches immer wieder an. Besonders gründlich vermag der in Greifswald geborene Steffen Popp die historischen Tiefenschichten lyrisch auszuloten (einem seiner Gedichte ist übrigens auch der Titelvers entnommen).
Doch bleibt am Ende der Eindruck, dass die Ostsee ein eher stilles Gewässer ist. Eines, dass Raum lässt für eigene Fantasien:
auf dem menschenleeren Steg
lag einzig ein Junge, wie mir schien, und träumte von Sansibar
heißt es in Hendrik Jacksons Gedicht „Heiligendamm“ entsprechend. Die Reize der Ostsee sind eben unterschwelliger, anregender als so manches afrikanische Abenteuer. Vor allem, wenn man diese Anthologie in der Strandtasche bei sich trägt.
Das Meer. Die Möwen. Strandboxen, Buhnen, Bodden – und große Bühne für über 100 neue, junge Ostseegedichte. 49 Dichterinnen und Dichter schreiben zusammen eine Lyrikanthologie, die von Ron Winkler herausgegeben wurde und die vor kurzem unter dem von Steffen Popp mitangeregten Titel Die Schönheit ein deutliches Rauschen erschienen ist.
Vermutlich ist kein Sujet öfter angedichtet worden als das Meer. Insofern ist dieses Thema eine eigene Gewichtsklasse, wo sich so mancher Dichter an der trügerischen Leichtigkeit des doch traditionsschwangeren, repertoirehaften Stoffes auch mit Leichtigkeit einen Bruch heben kann. – Lassen sich heute überhaupt noch Ostseegedichte schreiben?
Vorab ist zu sagen: Es gelingt in nahezu jedem Gedicht dieser Anthologie, dem Meer eine besondere Seite abzugewinnen, auch wenn der jeweilige Autor sich nicht immer bewusst ist, an welchen geradezu vorsintflutlichen Gewichten er da hebt. Die Bildwelten ums Meerische, Meerhafte stellen eine verführerische Falle dar. Ein Gedicht über das Meer kann auch und vor allem im 21. Jahrhundert noch auf zahllose Riffe und altbekannte Lyrismen auflaufen; Wortstrom-Schnellen, Untiefen und scharfkantige Klippen schwärmerischkunsthandwerklicher Verzückung sind zahlreicher vorhanden, als man annimmt; der Tiefensog beim sprachlichen Kentern wird meist stark unterschätzt.
In seinem feinsinnigen, differenzierten Vorwort beschreibt Ron Winkler, was die Ostsee alles (nicht) ist. Bald jeder Aspekt scheint berücksichtigt, deren es unzählige gibt. Er zeigt sehr präzise, um welche poetischen Riffe die heutigen Poeten einen großen Bogen zu machen (zumeist) imstande sind.
Was klar ist: Die Ostsee (und mit ihr das Meer) hat als großartiger Göttertümpel ausgedient und wird auch nicht mehr ganz so gerne als lyrisches Postkartenmotiv bzw. flache Erbauungstapete hergenommen. Jedweder dumpfe Mythos ist passé, wobei die modernen esoterischen Mystifikationen wieder stark im Kommen sind – erfreulicherweise nicht in dieser Auswahl. Die Faszination, will sagen das kindliche Staunen vor dem großen unfassbaren Meer sind dieselben wie ehedem. Und wenn Historie, dann bitteschön mit Fingerspitzengefühl; erst recht keine tumbe Ostalgie anhand geografisch markanter und brisanter Punkte. Es werden keine Idyllen besungen, obwohl sporadisch die Tendenz besteht, hingerissen von der gigantischen Kulisse mithin hingebungsvoll zu deklamieren.
So schreibt Winkler, das Ostseegedicht sei heute keine Bühne mehr für „symbolistische Kammerspiele“ und tauge erst recht nicht mehr für „eskapistische Unterfangen“. Und es gelingt nahezu durchgängig. In Gedichten von Volker Braun, Ulrike Draesner, Mara Genschel, Hendrik Jackson, Björn Kuhligk, Steffen Popp, Kerstin Preiwuß, Jan Volker Röhnert, Sabine Schiffner, Jan Wagner, Judith Zander u.v.a. ist das Meer omnipräsent und gleichzeitig oft nicht mehr maritim. Das Meer wird zum Nicht-Meer und ist es im nächsten Text (mitsamt seiner vielfältigen und sehr weitreichenden Klischees) doch vollkommen und konkret.
Das Meer. Harmlos und variationsreich spiegelt es sich heute modern und blau auf der westlich aufgeklärten Dichterpsyche – könnte ein Räsonierer spötteln; auf seine Kosten kommt er in dieser Sammlung nur selten. Denn gleichzeitig spiegeln sich alle gegenwärtigen Regungen derselben empfindsam auf ihm, allerhand (Zwischen-) Menschliches, die „(durchzivilisierte) Gegenwart“ sowie der „von Profanität und Zumutungen verseuchte[r] Daseinsschutt“ (Vorwort Ron Winkler). So gelingen viele Texte, auch da, wo sie „nicht-maritim“ sind, wo sie nur noch im Titel oder anhand typisch ostseeischer Arrangements ihren Gegenstand aufgreifen. Manches Gedicht will überhaupt nichts mit Meer oder gar Ostsee zu tun haben. Das ist unerhört und auch unerhört charmant – in einer Sammlung, die sich laut Untertitel mit Ostseegedichten befasst. Das ist auch legitim, da es heutzutage wie immer schon das Meer in einem selbst gibt: Bei Bewohnern und Nichttouristen besitzt es ohnehin selbstverständliche Präsenz in Herz und Hirn, auch wenn man getrennt ist vom rein physischen und haptischen Meer.
Nikola Richter
ABKÜHLEN
sommerhitze von punsch und sanddornschnaps,
die horoskope knackten nüsse vom vorjahr,
das klang nach minusgraden, neuer liebe im januar.
daher stiegen wir durchs saunafenster in den park
und hörten über die weite des unverfrorenen wassers
den wachhund bellen. das einzige wesen,
das uns so hätte sehen können, mit nackten sohlen.
Der Ostseetopos wird oft über gewisse Accessoires beschworen: der Sanddorn, das Riedgras, die Möwen oder „Möven“, Buhnen, Strandboxen, Kais, Ostseebäder, und – immer gerne genommen – Wolken, Wellen, Schaum, Gischt. Dass das Meer rauscht, mehr oder weniger deutlich, ist nicht mehr ganz so prickelnd neu. Weshalb die meeresspezifischen Worte, in denen die Tatsache Meer sich manifestiert, oft ein wenig verbraucht wirken. Manche Verszeilen lesen sich dahingehend wie Lyrismen, obwohl es keine sind. Auf den Kämmen schaukeln die Möwen: so etwas kennt man unter Umständen schon. Das ist die / Brandung, die brüllt – über den Wassern – so gut und alliterativ haben Brandungen auch schon anderswo gebrüllt. Verszeilen wie den möven war es egal, welche fische sie pickten stehen indessen unter dringendem Kalauerverdacht. Gelegentlich gerät die Ostsee (oder vielmehr das Meer als solches) zum Postkartenhintergrund, wird Art-Deco-Bühne mit brav arrangiertem (und sehr kalkulierbarem) Interieur, der Dichter zum Kulissenschieber.
Und auch wenn alle Metaphern ums Meerhafte stark klischeebeladen sind: sie sind in uns Lesern und Dichtern – die wir beim Lesen das Gelesene nachdichten – tiefer verankert, als man annimmt. Man kommt fast nicht drum herum, ein paar Möwen ihre Kreise durch den Text schweben zu lassen, um das Typische und Einmalige des Ortes zu beschwören.
Das Meer besteht zum größten Teil aus Wasser, sprich jede Menge H2O. Dass das Meer blau ist, dürfte heutzutage allgemein bekannt sein und liegt streng genommen am Himmel darüber – könnte ein gänzlich unpoetisch Veranlagter lästern. Gleichzeitig aber ist es unfasslicher, atemberaubender „Abyss“ mit dem rätselhaften Rest an Geheimnis, undeutliche Angst einflößend, der sich vermutlich niemals ändern wird. In einigen wenigen Texten wird diese Unfasslichkeit zur Poesie: das meer ist abends aus stroh. jeder versuch, gold daraus zu spinnen, gelingt (Ulrike Almut Sandig); wie glockenspiele schlagen meine knochen mit muscheln zusammen (Carl-Christian Elze).
Der Orte und Örtlichkeiten sind viele. Über die deutschen Ostseeorte auf Rügen und Usedom werden auch baltische und schwedische Ostseelandschaften besungen, bis hinauf zum Finnischen Meerbusen; wobei das im Gedicht Eingefangene immer über bloße Landschafts- und Reiseimpressionen hinausgeht. Vieles hat Wiedererkennungswert und -reiz für diejenigen, die am jeweiligen Ort gewesen sind. Man merkt einigen Gedichten deutlich an, wie die Ostsee zum Lyriker kommt, wenn das lyrische Ich en passant aus der Touristenperspektive das Exotische durchblicken lässt, das es dort angetroffen hat und sich z.B. am Strand und beim Bier vom Liebeskummer kuriert.
& wieder mal tief durch die nacht.
dein bild stets am herzen & krämpfe im bauch (…)
ich habe ver
sucht, dich aus den träumen zu schlafen & bin müde wie eh.
ich habe die ganze welt abgelaufen
& blieb wund, ich blieb weh & blieb ich, immer ich ohne dich (…)
keine einzige kneipe heißt anker, aber alles ist fest hier
& nicht mehr verrückbar, wenn man als einer vom dorf gilt.
das braucht oft nicht länger als ein paar bier & die liebe (…) (Crauss.)
Der Einheimische, für den die Ostsee vertraut und alltäglich ist, kommt hingegen seltener zu Wort:
Verbilligte Seesterne auf der Mole. Die Gedenkstätte
Burmeister hat geschlossen von hier aus. Wenn du ein
wenig wartest. Wind in den Taschen der falsche Knopf am
Firmament leuchtet auf (Silke Peters).
Die Ostsee ist überall. „Die Ostsee der Gegenwart ist kein Poseidonpool“, heißt es im Vorwort und scheint somit früher wie heute sogar mediterran verortbar. Das ist interessant, denn nicht nur im Surrealen, sondern auch in unserer hochvirtualisierten Welt wird „Ostsee“ zu einem anklickbaren, hochaufgelösten Phantom, wo das Meer und seine feine Pixelung phantasmagorische Ubiquität besitzen, wo Kopie oder Coverversion vom Original ununterscheidbar geworden sind. Die Ostsee ist heute überall und nirgends. Die Ostsee verwandelt sich; sie wird in einigen Texten zum exzeptionellen Hype, zum Egoadapter, zum Trigger persönlicher Befindungen. Sie ist allgegenwärtig, wird mit einem Schuss Nostalgie und einer Buddel voll Rum ganz nostalgisch zum Seefahrertopos – freilich der eigenen Historie ganz bewusst:
als korsaren sind wir gefahren
waren filibuster nach maß & muster
als piraten hat man uns verbraten
waren jungpioniere & bukaniere (Bert Papenfuß),
wird Spiegelfläche von Eros und Emotio und als Spielfläche erotischer Sinnenvielfalt inszeniert,
außer Lichtgewinn
aus der Tiefe, die ins Laszive zieht
mit den Zugehfrauen, den Wund
Verschlüssen, hinab (Tom Schulz)
Dahinter kopulierte beinah
vergessen das Meer (Claudia Gabler),
es rauscht und berauscht als (syn)ästhetisches Metaphern-Magma, das ganz zauberisch seine Bedeutungen ändert wie das Wetter und die changierende Farbe verschiedenster Blautöne. Ostsee wird zum Vexierbild; eine optische und seelische Täuschung.
Ostsee(l)ischer Topos also – und damit bloßer Befindlichkeitskatalysator für schöne Stimmungsgedichte? Hin und wieder tut ein Gedicht wohl, das die Ostsee gegen den Strich bürstet; dahingehend können die Texte, die mit erfrischendem, derbem Seefahrervokabular zwar herzhaft eine andere Tonart anschlagen oder die Ostsee als ölverseuchte Zivilisationskloake in Szene setzen, auch nur das Schwarze unter der weißen Gischt aufmalen. Hinsichtlich umweltpolitischer Brisanz wären vielleicht noch mehr Zwischentöne drin gewesen, konstatiert man am Ende der Lektüre.
Die Texte der Auswahl überzeugen dennoch fast immer. Herausragend sind diejenigen Gedichte, die am spezifischsten die Ostsee definieren und jenseits von Erbauungposter, Postkartenblau und Kronkorkenzischen mit ihr verbundene historische wie politische Dimensionen aufzeigen und klar benennen:
(…) der Raumfahrt
Wernher von Brauns auf der wildschönen Oie,
hier von der Steilküste flogen Ideen handfest erstmals
ins All. Auf dem Mond dann, so Trygve, der Endsieg. (Wilhelm Bartsch).
Auch die 90er Jahre sind präsent:
nordischer urwildpark
staatsforst darss & dorsch
fischklops & verteidigungskopf (…)
haken, sandbank, insel
feste landspitze, hakenansatz
restitutionsansprüche & bückübertragung
ungeschorene alteigentümer
ziselieren ihre vermögensschäden
an jedem eigentum klebt enteignungsunrecht (…) (Bert Papenfuß).
Das Spezifische: das Brackwassermeer, der Landschwund, die Aussüßung der landnahen Gewässer usw., die geologischen Gegebenheiten des Mare Balticum:
Wir Kopffüßer tragen die gefürchtete Levitation
Feuersteinabsprünge und die frischen Kanten
Ihre verlorenen Funken ihre weichen Leiber
(Knollen Konkretationen gallertiger Kieselsäure
Im Kreidemeer) (…) (Silke Peters).
Am überzeugendsten ist die Sammlung immer da, wo sie dem Meer etwas Neues abgewinnt. Wo die Sprache zum eigenständigen Körper wird. Wo die eigen(tümlich)e „Semantik des Meers“ (Winkler) der eigenen Rezeption gegenübersteht. Wo sich ein Mehr an Meer zum längst bekannten Wortrepertoire hinzugesellt und somit die Gedichte, in denen die Ostsee und alles Ostsee(l)ische zum bloßen Poster verwässert worden ist, angenehm konterkariert.
Die vielschichtige, vielgestaltige und – was das Meer betrifft – vielformige Gedichtsammlung endet mit einem Sonett von Thomas Kunst, das ausschließlich weibliche Kadenzen hat. Sollte das Meer, das im Deutschen dinghaftes und geschlechtsloses Neutrum ist, am Ende gar auch weiblich sein wie die Ostsee?
Ich würde lieber auf der Welt verenden
Als auf See, kein Tod hat solche Strände.
nach der passenden Urlaubslektüre ist immer noch nicht geklärt? Vielleicht sollte man sich mal von Lyrik berauschen lassen, von diesen windumtosten, sonnendurchglühten, mondbeschienenen, leuchtturmlichtüberschweiften Gedichten hier, die alle ein ganz bestimmtes Meer und seine Inseln und Halbinseln beschwören und die an ihnen gelegenen Städtchen und Wäldlein: die Ostsee. Ron Winklers Anthologie hat einen gekräuselten Wellenumschlag und sandgelbes Vorsatzpapier, sie versammelt Ostseegedichte so abwechslungsreich wie Landschaft und Wetter, wie Vor- und Haupt- und Nachsaison. Es geht ums Auf und Ab der Wellen, das Tosen des Winds, Muschel- und Steine- und Strandgutsammeln und um Sagen und Märchen, die, wenn der Sand ins Ohr rieselt und die Möwenpagenschar sich unter der Mittagshitze duckt, wenn die Kiefern knacken und die Pilze riechen, zu wispern beginnen. Die Dichter sind allesamt Landratten, sie schauen aufs Meer vom deutschen, polnischen, baltischen, dänischen, schwedischen Ufer aus, umkreisen die Ostsee, kreisen sie ein, nur selten wagt sich einer wirklich hinaus auf den „zerbrochenen Spiegel“ (André Schinkel). Natürlich kann man diese Gedichte auch an jedem anderen Meer lesen – oder auf dem Balkon.
beha, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.7.2010
Das Gedicht ist das schlechte Gewissen des Feuilletons. Die Redakteure denken: Die Lyrik ist ein besonders zartes Pflänzchen im Literaturgarten, man müsste…
…es viel eigentlich mehr hegen und pflegen. Dann bestellen sie diverse Rezensionen bei den Lyrikkennern im Lande, die wiederum bei den Lesern einen einzigen, quälenden Gedanken erzeugen: Man müsste eigentlich viel mehr Gedichte lesen. Die Leser nehmen sich also fest vor, den besprochenen Band zu kaufen, und sie planen, mindestens ein Gedicht auswendig zu lernen, oder wenigstens dem Liebesten/der Liebsten vorzulesen.
Aber sie lassen es dann meistens doch. Weil der Band beim Buchhändler gerade nicht vorrätig war. Weil der neue Mankell (oder die neue Christa Wolf) dringend mitgenommen werden musste. Weil Gedichte auch anstrengend sein können. Weil, weil, weil. Aber damit ist nun Schluss.
Mindestens ein Gedichtband muss in den bevorstehenden Urlaub mitgenommen werden. Und da in diesem Jahr offenbar alle an die Ostsee fahren, jedenfalls in Berlin ist das so, der gefühlte Befund könnte bestimmt in unbestechlichen Zahlen ausgedrückt werden, drängt sich ein Band mit Ostseegedichten geradezu auf – auch wenn längst nicht alle diese Gedichte von Ferienstimmungen sprechen. Vielmehr ist auch von „Boddenterror“ (Bert Papenfuß) oder „vom Zugrundegehen“ (Tom Schulz) die Rede. Eine Anthologie also, und schon verdrehen sich die Augen: Bloß keine Anthologie!
Kann man verstehen, was wird nicht alles unter dem Vorwand, ein Thema schräg oder schnurgerade anzugehen, husch, husch eingesammelt und in ein Buch gezwängt, das dann ungelesen liegen bleibt (man hat es geschenkt bekommen, von jemandem, der offenbar auf Nummer sicher gehen wollte). Wenn Gedichte das schlechte Gewissen des Feuilletons sind, dann sind Anthologien die Triebtat der Verlage. Sei’s drum. In diesem Fall wurde der Trieb prima sublimiert: Die Schönheit ein deutliches Rauschen heißt, nach einer Wendung von Steffen Popp, der angenehm in der Hand liegende kleine Band. Herausgegeben wurde er von Ron Winkler, einem Lyriker der jüngeren Generation, der, natürlich, in Berlin lebt. Das Buch selbst stammt aus Leipzig, ist eben in der Edition Wörtersee der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erschienen (156 Seiten, 15 €). Mehr als einhundert Gedichte von Autoren der jüngeren und mittleren Generation versammelt es, alphabetisch gesagt: von Andreas Altmann und Wilhelm Bratsch bis Judith Zander und Hennig Ziebritzki. Über das Thema hinaus bietet der Band so einen exzellenten Querschnitt durch die neuere und neueste deutschsprachige Lyrikproduktion – falls es dieses bildenden Anreizes überhaupt bedarf. Falls nicht, auch gut. Man sieht sich. Auf Hiddensee oder sonstwo zwischen Festland und Ferne.
MY OWN PRIVATE HIDDEN POEM
Zwischen Festland und Ferne
diese achtzehn mal tausend Meter
eingebläut/abends trug ich Sand
in den Händen, ließ ihn vorm Haus
zu Boden und sagen: Der Grund, auf dem
du schläfst, sei immer Grund
zwischen Festland und Ferne die Häfen
in denen sie die Fische in die Häuser
trgen zwischen Festland und Ferne mein Lied, in dem ich
Ton um Ton die Lippen zu dir neige
mein leises Lied, in dem ich Wort
um Wort die Haken aus der Sprache hole
Björn Kuhligk
Über die Zukunft des Gedichts sind momentan wenig Sorgen bekannt. Der Trend besagt schon seit längerem: Je weniger Lyrikleser, desto mehr Dichter. Außerdem erhielt die Berliner Autorin Birgit Kreipe von Meeresgefilden her eine wirklich zuversichtliche Prophezeiung: „das letzte gedicht würde als spätkauf / wieder eröffnet.“ Wer im Tagesgeschäft etwas vergessen hat, wer Wegzehrung oder Nahrung für plötzliche Gelüste braucht, der geht dann zum Gedicht – der nächtlichen Tante Emma der Endzeit!
Der Band, dem der Hinweis auf die feierliche Apokalypse entnommen ist, stellt Ostseegedichte deutscher Gegenwartsautoren vor. Badeferien, das war zu erwarten, machen die wenigsten von ihnen. So manche Urlaubsenklave bräuchte erst die Verwandlungskraft der Poesie, um, wie Birgit Kreipe in dem oben zitierten Gedicht „Usedom“ formuliert, in „in der nächsten Welt“ wieder ein Badeort zu sein. Jan Wagners Verse in „Danzig, ungesehen“ spiegeln die Grundstimmung der Sammlung: „der gitarrist vor seinem publikum / aus laub und leeren bänken, die der regen / mit neuem, glänzenden lack überzogen hat“. Die Ostsee ist in den meisten Gedichten mehr Provinz als Meer, naturalistisch hingeträumt zwischen Mann und Frau, Strandhafer und Berlin. Sicherlich ist sie auch Spiegel der hier von Ron Winkler versammelten, souverän unaufgeregten Lyrikszenerie, die nichts so sehr liebt wie die Magie des natürlich Versehrten, eine Brise Geilheit und einen Horizont voller verregneter Romantik.
Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.
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