HUBERTUSWEG
Märzmitternacht, sagte der Gärtner,
wir kamen vom Bahnhof
und sahen das Schlußlicht des späten Zuges
im Nebel erlöschen. Einer ging hinter uns,
wir sprachen vom Wetter.
Der Wind wirft Regen
aufs Eis der Teiche,
langsam dreht sich das Jahr ins Licht.
Und in der Nacht
das Sausen in den Schlüssellöchern.
Die Wut des Halms
zerreißt die Erde.
Und gegen Morgen wühlt
das Licht das Dunkel auf.
Die Kiefern harken Nebel von den Fenstern.
Dort unten steht,
armselig wie abgestandener Tabakrauch,
mein Nachbar, mein Schatten
auf der Spur meiner Füße, verlass ich das Haus.
Mißmutig gähnend
im stäubenden Regen der kahlen Bäume
bastelt er heute am rostigen Maschendraht.
Was fällt für ihn ab, schreibt er die Fahndung
ins blaue Oktavheft, die Autonummern meiner Freunde,
die leicht verwundbare Straße belauernd,
die Konterbande,
verbotene Bücher,
Brosamen für die Eingeweide,
versteckt im Mantelfutter.
Ein schwaches Feuer nähre mit einem Ast.
Ich bin nicht gekommen,
das Dunkel aufzuwühlen.
Nicht streuen will ich vor die Schwelle
die Asche meiner Verse,
den Eintritt böser Geister zu bannen.
An diesem Morgen
mit nassem Nebel
auf sächsisch-preußischer Montur,
verlöschenden Lampen an der Grenze,
der Staat die Hacke,
das Volk die Distel,
steig ich wie immer
die altersschwache Treppe hinunter.
Vor der Keilschrift von Ras Schamra
seh ich im Zimmer meinen Sohn
den ugaritischen Text entziffern,
die Umklammerung
von Traum und Leben,
den friedlichen Feldzug des Königs Keret.
Am siebenten Tag,
wie IL der Gott verkündet,
kam heiße Luft und trank die Brunnen aus,
die Hunde heulten,
die Esel schrieen laut vor Durst.
Und ohne Sturmbock ergab sich die Stadt.
Zuvörderst der Anfang. „Wer anfängt, weiß nichts vom Ende: ihm träumt wohl, worauf er hinaus will, doch kaum, wohin es ihn trägt.“ Ein apokryphes Zitat aus der neueren, mag sein, nicht jedermann leichthin geläufigen Literatur – es galt gewiss für den Chefredakteur Peter Huchel, der sich im Januar 1949, vom Widerhall des ersten Heftes überrascht, dazu bekannte, Sinn und Form, bewusst streng gehalten und „auf höchste Qualität bedacht“, sollte „den ganzen Reichtum der Literatur aufzeigen“, und der hochgemut erklärte: „Wir werden uns nicht uniformieren.“
Aber hatte nicht eben noch der streitbare Ernst Niekisch, im ersten Heft des ersten Jahrgangs dieser in Potsdam verlegten, im Westberliner Charlottenburg redigierten Zeitschrift, seine progressive Apokalypse beschworen: „Nun, die Massen sind in Bewegung geraten, die ,unteren‘ und ,niederen‘ Mächte kommen nach oben, die Ausnahmestellung aller Eliten ist bedroht, es wird lebensgefährlich, ein ,Einzelner‘ zu sein, der Ansturm gegen die Aristokratie des Besitzes erschüttert zugleich die Fundamente der Aristokratie des Geistes. (…) Von außen aber, vom Osten her, branden die Machtansprüche der großen slawischen Völker gegen Europa heran; sie stehen vor den Toren des zivilisierten Abendlandes, wie einst die Germanen vor den Toren des römischen Imperiums gestanden hatten.“ Und: „Die proletarischen Massen schicken sich an, dem Bürgertum die politische und wirtschaftliche Macht zu entreißen; die Slawen des Ostens legen die Axt an die Fundamente der Herrenstellung des bürgerlichen Europa.“
Immerhin, der Horror vor aller Uniformierung, aus guten historischen Gründen, bewegte auch im Oktober 1957 den unbedarften Novizen jenes kleinen, kurios versammelten Kollegiums unter den Kiefern von Wilhelmshorst, dessen redaktionelle Klausur vom ideologisch uniformierten Widersacher bereits cerniert, zivildeutsch: eingeschlossen, war. Mit Dienstantritt des Neulings, was Wunder, dieser einen und einzigen Kampfreserve nach über acht Jahren einer glorreichen Kampagne, folgten nun für die bald belagerte Redaktion (man kann es nachlesen beim renommierten Hans Mayer) „noch sechs Jahre der Agonie“. Ich bemerkte es nicht: die einzelne Ratte hatte das sinkende Schiff geentert.
„Agonie“ denn also. Oder „Akademie“. Denn der Deutschen Akademie der Künste, gegründet am 24. März 1950, war die Zeitschrift schon mit dem fünften Heft des zweiten Jahrgangs als wohlfeile Beute zugeschlagen worden – als, wie das Arnold Zweig, der akademische Präsident, damals umschrieben (ungewollt mehrdeutig umschrieben) hatte: als „Sprachrohr und geistiges Visier“ der Akademie. Meinte er sofern er denn nicht, wie zu vermuten, an eine Zielhilfe zu wehrhafter Weltsicht gedacht hatte, das offene oder das geschlossene Visier? Wie auch immer; die Wurzeln der Agonie, der sogenannten, – reichen sie nicht tiefer hinab in die Ära schon dieser Indienststellung? Dieser Mobilisierung nämlich als Akademie-Organ, dem das Zentralkomitee der Staatspartei schon im Sommer 1951 „objektivistische, unkritische und ästhetisierende Züge“ bescheinigt hatte, samt der summarischen Abfertigung: „Die kritische Aneignung des Kulturerbes wird vernachlässigt“ – was immer das, bei allen Unheiligen dieses Offiziums, heißen mochte.
Folgte der Beirat, der „Redaktions-Beirat“. Im Grunde ein Witz. Ein Wechselbalg aus Sowohl-als-Auch, aus Ja und Nein, der dem Getümmel heftigster Akademie-Kontroversen entsprang, die im Mai 1953 in einer ersten Kündigung Peter Huchels kulminiert hatten, die aber in Konsequenz des öffentlich nicht vorgesehenen 17. Juni zur Konstruktion eines „Redaktions-Kollegiums“ führten, welches beauftragt wurde, nach dem ehernen Prinzip des diabolischen Maxi-muss und Leni-muss: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ die gesamtdeutsche Repräsentation und Agitation der Akademie der Künste offensiv durchzusetzen. Mit fünf nominierten Vertretern aus den vier Akademie-Sektionen besetzt, firmierte besagter Redaktionsbeirat seit Heft 1/1954 auf der Innenseite des Titelblatts gleich unter dem Namen des Chefredakteurs – wo es, Fortuna sei Dank, fortan folgenlos verewigt blieb: als Chemisett eines Fracks, dessen Zuschnitt allein der Chefredakteur besorgte.
Das schöne Wort „Charisma“. Ein Modewort, bald ein Un-Wort. Die göttliche Gnadengabe, die Aura der Berufung – auch eine Zeitschrift zeigt sich wohl zuzeiten in solchem Glanz. Dieser, wann immer er hier medial zur Wirkung kam, resultierte aus jener beim Wort genommenen, quasi wortwörtlich und buchstäblich realisierten Einheit der Publikation, die der Titel triumphal proklamierte: Form und Sinn, Sinn und Form. Der wiederum war vom Herausgeber Becher, dem Hölderlin-Enthusiasten, einst bei Romano Guardini glückhaft entlehnt worden (wie mir Huchel erzählte und, weiß Gott, keiner der alerten Investigatoren) – besagte Hölderlin-Schrift hieß: „Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins“ und war 1946 in Stuttgart erschienen.
In der Tat signalisierte der hochgestochene Lakonismus nichts anderes als den, im Verlagsprospekt formulierten und vom Chefredakteur bekräftigten, Anspruch auf die Autonomie einer als absolut begriffenen Qualität – auf die Vorherrschaft dessen, was die Herausgeber in jenen turbulenten Jahren 1948/49 (ich erinnere nur an die aberwitzige Berlin-Blockade, der just ein ominöses Dutzend Jahre später die zweite folgte), scheinbar fern ihrer Zeit, den „Geist der Sprache und der Dichtung“ nannten. Dazu liest sich bereits wie eine Kritik, was Werner Krauss, der extraordinäre Romanist, im ersten Jahrgang der Zeitschrift bemerkte: „In der Sprache hat sich der Gedanke das einzigartige Werkzeug seines Wirkens geschaffen. Als Werkzeug ist die Sprache das Mittel und die Schöpfung des Denkens – doch kann ein Werkzeug wohl seinen eigenen Gegenstand bilden.“ Der Widerspruch aber wurde umgehend dialektisch aufgelöst: „Nicht Sprache wird in der Dichtung zum Selbstzweck, sondern die durch Sprache in ihrem Weltverhältnis versicherte Gemeinschaft. In der Dichtung wird durch den Rückstrahl der Sprache die Gemeinschaft zum vollen Bewußtsein gehoben, ,Der Dichter‘ – sagte Hegel – ,ist (… der erste, welcher der Nation gleichsam den Mund öffnet.‘“ Eben dieser, soll man sagen: romantische Idealismus? steht als eine tiefe, von unbedingtem Aufbruchs- und Aufbauwillen befeuerte Überzeugung, als gleichsam humanitäres Postulat hinter dem hochfahrenden Titel, hinter dem Anspruch auf publizistische Sinngebung und Sinnhaltigkeit. Die proklamierte Qualität des Formalen demonstrierte augenfällig der splendide Entwurf von Ausstattung und Typografie durch Eduard Stichnote – eine Druckgestalt, orientiert an den exquisit geprägten Literaturzeitschriften der Vorkriegsdezennien, nicht zuletzt an der Corona der dreißiger Jahre, deren originale Noblesse freilich nur etwas mehr als drei Jahre erhalten blieb; wiederholte, produktionstechnisch bedingte Simplifizierungen haben, wie manchen Orts mancher Fortschritt, das Urbild beschädigt. Zwar die Bodoni-Antiqua ist, wiewohl etwas mickrig, geblieben; das Format der Hefte jedoch wurde bald geringfügig, aber spürbar reduziert; die ursprünglich nicht aufgeschnittenen Bogen zu acht Seiten erhielten bald den maschinellen Beschnitt; und das bei den ersten drei Heften als Verschluss um das Heft geklebte Gürtelband mit dem Beitrags- und Beiträger-Verzeichnis, seit Heft 4/1949 als Bauchbinde um den weißen Umschlag gelegt, ist heutzutage zum aufgedruckten Imitat verkommen.
Der Tatort, vormals eine geistige Lebensform. Potsdam erstreckt sich als seltsames Sediment unter der hochkulturellen Landnahme, die von der Wilhelmshorster Redaktion, im Windschatten der alten Residenzstadt, betrieben wurde. Da war der stockkonservative, kaisertreue Hofprediger Dr. Vogel, Pfarrer der Garnisonkirche, der den jungen Helmut (Peter) Huchel konfirmiert und ihm preußischen Protestantismus beigebogen hatte; da waren die Potsdamer Schuljahre Huchels (er besuchte, wie mein Vater, mein Onkel, dieselbe Oberrealschule am Kanal, die später auch ich absolvierte); da war Rudolf Elter, der literarisch vielseitige und befähigte Schulfreund Huchels, der uns Humboldt-Schüler vor seinem frühen Tod ins Französische einführte; da war auch der ferne Tag des Kapp-Putsches, als Peter Huchel in den Reihen vom Potsdamer Freikorps verwundet wurde; da war schließlich Eduard Stichnote, der (neudeutsch) Designer der Zeitschrift Sinn und Form, der hier im Zentrum, am Neuen Markt, Haus und Verlagssitz hatte, vis-à-vis vom Kutschstall; da war das Potsdamer Holländer-Viertel −, woher, durchaus unverwechselbar, die überwiegend unverwüstliche, die dauerhaft leidensfähige Allround-Sekretärin kam, Charlotte Narr, geb. Kling, die, streng in der Furcht ihres Herrn waltend, ihrem rebellischen Mutterwitz, ihrer klammheimlichen Widerborstigkeit dennoch nicht abschwor; da residierte einst noch, Seestraße 43, der Verlag Rütten & Loening, der früh und ohne Verzug Hilda Westphal, offiziell: Fräulein Westphal, für die Redaktion abgestellt hatte, die, vormals Lektorin Rudolf G. Bindings, der konservativen Edelfeder, einen gnadenlos reinen Stil (mitunter nicht ohne selbstgewissen Hohn) zu trainieren bemüht war; da war, am Ende, die Potsdamer Hochschule in den Communs an der Mopke, von welcher Pflanzstätte ich auf dem Umweg über eine Examensarbeit zum Thema Huchel und nach ebenso blütenträumend wie vielfältig fruchtlos verbrachten Jahren als Assistent, spät in das Haus am Hubertusweg kam.
Darinnen die Hausfrau. Monica Huchel, das rheinische Naturell, war von rarer Art im märkischen Sand. Sie gab sich gern kühl bis ans Herz hinan, der strengen Logik verfallen, dem Stolz entschlossener Willenskraft, doch ihr war es gegeben, unversehens und voller Leidenschaft zu schwärmen; wo es um Sprachliches ging gewiss, um le mot juste wie bei Flaubert, um Freundschaft und Solidarität, bis zu den Tieren, und allemal für die große, die (laut Thomas Mann) heilige russische Literatur. Ihre Devise: Let’s make the best of it. Ich frage mich, meinerseits kühl und entschlossen: Wie hätte Huchel wohl ohne sie seinen Kurs gehalten?
Mit allemal knirschenden Zähnen. Bereits ein Fiasko markierte den Jahreswechsel1956/1957 für die Redaktion, direkt vor meinem Dienstantritt: der Einbruch und Umbruch nach dem Aufstand der Ungarn. Was tun? Der schneidige Essayist Wolfgang Harich als Frondeur verhaftet und vor Gericht gestellt; der ideologische Präzeptor, der literarische Papst der deutschdemokratischen Kultur, Georg Lukacs, als Minister einer magyarischen Konterrevolution unter Arrest; der philosophische Schwarmgeist und marxistische Hohepriester Ernst Bloch zwangseremitiert und unter Verdikt; und überdies im Spätsommer schon Bertolt Brecht zum Olymp abberufen – schlimmer hätte es Huchel, den emotional ergriffenen, im Anfang auch instrumentalisierten Parteigänger einer linken Volksfront – dessen Zeitschrift, nicht absolut anachronistisch, schon einmal als trojanisches Panjepferd denunziert war -, schlimmer hätte es ihn nicht treffen können. „Ich weiß, der Bloch grollt mir, aber ich kann ihn doch jetzt nicht bringen“, ging damals seine gequälte Rede. Immerhin war die erste Jahreshälfte 1957 (im Umfang dreier Hefte) durch das zweite Brecht-Sonderheft, gewiss nicht geringen Ranges, abgedeckt, das alles verfügbare Papier verschlang.
Freilich, über dem weiteren Unternehmen schwebte – schon aus der Gründerzeit her und im Namen Shdanows, Stalins Chef-Ästhetiker, sanktioniert (ZK-Tagung vom März 1951) bis zum bitteren Ende der Huchel-Ära hin und vom unseligen Hager verlautbart (März 1963) – der fatale Dauer-Fluch wider den „Formalismus“: als martialische Dienstverpflichtung der terriotarialen Nationalkultur zu bürokratisch verhunztem, geistig uniformiertem Klassenkampf gegen spätbürgerlichen Kosmopolitismus, versöhnlerischen Objektivismus und atlantischen Imperialismus. Der Fluch der Piefkes und Profosse, er blieb in Kraft.
Und weiterhin Huchel, Helmut Peter Huchel. Anfrage aus dem Publikum: Wie war er denn so, was war er denn für ein Mensch? Antwort: im Prinzip ja. Soll heißen: Auskünfte solcher Art sind am Ende wie Briefmarken, die man als Nachricht verschickt.
Um C.F. Meyers „Hutten“ zu bemühen: Er war kein ausgeklügelt Buch, er war ein Mensch mit seinem Widerspruch. Er bewegte sich gern wie das biblische Schaf unter den Wölfen, doch ließ er die Klugheit der Schlangen nicht fahren; er war der selbstkritische Avantgardist einer Tradition und der friedlos umgetriebene Prinzipal seiner Zeitschrift; er war der treuherzige Kumpel und der monomanische Fremdling; er war der sarkastische Märker mit einem „besonderen, halb aus Vulkanismus und halb aus Apathie geborenen Drang“ (wie Benn die Poeten der Epoche beschrieb); und er stand auf eigenartige Weise in der Nachfolge des melancholischen Temperaments aus der Zeit der Renaissance; Typus des Künstlers, von schwarzer Galle regiert und der Bildfigur Dürers vergleichbar, die den Kopf in die Hand stützt und trostlos über das Verhängnis nachsinnt.
Gelegentlich ein cholerischer Ausbruch (wenn ihn etwa die Taxi-Zentrale am Potsdamer Bahnhof versetzt hatte), entlud und rehabilitierte nur die um Ausdruck ringende Schwermut, den Seelenstau aus Apathie und Vulkanismus.
Ein Ventil anderer Art war sein Sarkasmus, märkisch geprägt: dieser etwas schwerfällig von hinten durch die Brust geholte Humor der einheimischen Landleute und Ackerbürger, die der Welt, aus Prinzip und aus Erfahrung, mit Skepsis begegnen und ihre Reserve ironisch maskieren. Man kann da wohl einiges missverstehen; er selber war nicht gefeit davor, missverstanden zu werden wie andere misszuverstehen. Das galt auch im Ernstfall, jenseits von Ironie. Noch immer, zum Exempel, gibt mir dieses Gedicht aus Wilhelmshorst zu denken, „Unkraut“, die vorletzte Passage:
Willkommen sind Gäste,
die Unkraut lieben,
die nicht scheuen den Steinpfad,
vom Gras überwachsen.
Es kommen keine.
Ende des Jahres 1957 holt Peter Huchel eine vergilbte Handschrift aus der Dachkammer seines Hauses, aus seinem Refugium, und gibt sie, jugendlich enthusiasmiert, für das Dezemberheft von Sinn und Form in Satz. Der Titel des 1927 datierten Gedichts, „Lenz bei Oberlin“, wird reduziert; ein Büchner-Zitat als Motto verweist auf die literarische Quelle dessen, der, in balladesker Anrufung eines Umgetriebenen, auch von sich selber spricht.
Zugleich aber setzt die kreative Unruhe des Poeten, neu motiviert, die Produktion in Gang, sie drängt auf Ergänzung, Verbesserung, Vollendung, Die Arbeit am Text unterwirft sich, durchaus zwangsläufig, den allgemeinsten, doch unausweichlichen Formgesetzen der Gattung; sie zielt auf Profilierung des Themas, Intensivierung der Metaphorik, Eskalation des Ausdrucksgehalts. Die Erschwernis dabei: Es gilt, eine nach drei Jahrzehnten längst überwundene Formgestalt, samt Reim und schulbuchstrengem, vierfüßigem Trochäus, zu restaurieren; die „Maske des Stils“ (so Huchel 1974) darf keinen Schaden nehmen. Bei solcher Anstrengung, scheint es, rangiert Transpiration vor Inspiration; in Wahrheit entspringt das eine dem andern.
In rastlosem Anlauf konzentriert sich der Autor wesentlich auf die zweite Hauptstrophe und auf den Abgesang der ersten Strophe. Der Sprachwerker stellt seine Bilder auf die Probe: Allem praktizierten Hermetismus fern, provoziert er seinen frisch bestallten Redakteur, den Vortragenden, zur Diskussion. In befeuerter Wechselrede tauscht man sich aus; Schwaden blauen Dunstes, „Golddollar“ oder „Johnny Player“, umschweben das Pingpongspiel der Inventionen und beizen das Hirn. Auf wahllos ergriffenen Zufallszetteln (Zeitungsrändern, Umbruchfahnen, Prospekten) werden Varianten hastig notiert – eine kleine Auswahl ist per Zufall erhalten.
„Das wird bestimmt dem Bloch gefallen“, äußert Huchel unvermittelt, als jener Abgesang der ersten Strophe zur Debatte steht, der von der tristen Botschaft des Lebens, von Rosen und Särgen, redet. „In letzter Minute“, lässt der Prinzipal die an Kummer gewöhnte Sekretärin brieflich wissen, „kamen noch vier Zeilen hinzu – in den ersten Abgesang hinein: ,Schwüre, brüchiges Gepränge‘; nach einer anderen alten Vorlage, auf der Erpel bestand, zumal wegen der ,trüben Enge‘ und der ,Klingel am Spital‘ (…).“ Der Verweis dabei auf eine „andere alte Vorlage“ ist, leider Gottes, eine Camouflage und resultiert, als heikle Gepflogenheit redaktioneller Strategien, aus dem Zwang zu plausibler, unbekrittelbarer Argumentation.
„Erinnern Sie sich“, fragt der brütende Meister, aus dem Brainstorming seiner Bilderfindungen heraus, „wie das war in Potsdam, wenn hochsommerliche Mittagsstille herrschte, und es marschierte ein Trupp Soldaten an der Garnisonkirche vorbei, und das Glockenspiel setzte ein… ?“ Die Potsdamer Impression, absolut unvergesslich und ganz gewiss für den Dichter, der ja hier seinen Konfirmandenunterricht absolvierte, wird schließlich in den Lakonismus dieser Bildfigur überführt: „Schwarz von Dohlen überflogen / Postenruf und Orgellaut…“ Potsdam, Provinz der Erinnerung, ist im Historien-Panorama Straßburgs aufgegangen.
Ansonsten schwierige Geschäfte. Die Polyphonie nämlich aus tatsächlich kritischen, marxistisch produktiven Essays, aus originärer Dichtung, Lyrik, Prosa und Schauspiel, aus Selbstzeugnissen und Notaten, Reden und Dokumenten, ebenso konzentriert auf die weltliterarische Vergangenheit wie Gegenwart, galt stets als publizistische Selbstverwirklichung der Zeitschrift, die durch den Untertitel „Beiträge zur Literatur“ nobiliert war.
Auch Huchel verstand sich, vorrangig, nicht als ein Publizist von Information oder gar Agitation; er komponierte vielmehr die Hefte durchaus als Poet. Das hatte, im Negativen, durchaus ungeahnte Effekte. Wenn etwa öffentlich, im Blick auf die definitive Beitragsfolge, zusätzliche Provokation oder, Gott behüte, Kriegserklärung gewittert wurde. So war als Einleitung von Heft 3/1962 ein französischer Jubelgruß zur Ehrung Picassos plaziert; per Anweisung des Akademie-Präsidiums aber musste eine „Erklärung der Deutschen Akademie der Künste“, dargebracht von Stephan Hermlin, vorgeschaltet werden, die, im Ergebnis einer Plenartagung, das obligate Bekenntnis zur erneuerten „Nationalen Aufgabe“ der Akademie nach dem Mauerbau formuliert hatte und in der es zuletzt hieß: „Die Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste erklären, im Sinne einer sozialistischen Akademie zu arbeiten. Die Deutsche Akademie der Künste erhält damit das historische Recht, als Akademie der ganzen deutschen Nation zu wirken.“ Darauf gab nun, gleich gegenüber auf der Schöndruckseite, der mit stilistischem Hochdruck übersetzte „Gruß an Picasso“ die schier unglaubliche Antwort: „Daß der Mensch nein sagt, genügt, und alles ist gerechtfertigt. Die Hoffnung, die wir auf uns selber setzen, fängt an mit dieser Verweigerung. Und ruft er auch in der Wüste, der Neinsager, dann ist es die Wüste, die er verwirft: sein Ruf macht sie fruchtbar und bewohnt.“ Die interne Reaktion darauf ist erst jetzt, nach drei Jahrzehnten, publik geworden; der anhaltend prominente Kulturminister Hans Bentzien schrieb dem Akademie-Präsidenten Bredel: „Ich fühle mich verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die letzte Nummer der Zeitschrift Sinn und Form (Heft 3/62) unserer Kulturpolitik und der Aufgabenstellung der Deutschen Akademie der Künste diametral zuwiderläuft, (…) Diese Meinung wird noch unterstützt durch die redaktionelle Anordnung dieser Nummer.“
Eine ähnlich geartete, von der Akademie verschuldete Kollision zwischen Präsidialerklärung und Eingangsessay im letzten Doppelheft von 1962 beschwor einen besonderen Eklat herauf: Voran (ohne Seitenzählung) die Ankündigung Bredels über den neuen Kurs der Zeitschrift und die Abdankung Peter Huchels – im Anschluss daran ein nachgelassener Text Brechts „Über die Widerstandskraft der Vernunft“, bereits im Herbst eingeliefert von zwei hilfreich bewährten, von ihrem verewigten Idol besessenen Mitarbeitern des Brecht-Archivs, Benno Slupianek und Gerhard Seidel. Der Text ist nachzulesen. Präsident Bredel teilte im Mai dazu mit:
Wir hätten das Heft einstampfen können, wir beschlossen aber, es nicht zu tun (…).
Noch im August zuvor hieß es in einem hochministeriellen Schreiben an den Präsidenten der Akademie der Künste: „Eine Häufung von Skepsis, Negation und sogenannter gesamtdeutscher Kulturpolitik, letzteres insbesondere im Beitrag von Ihering, charakterisiert den Stil des gesamten Heftes.“ Was Herbert Ihering betrifft, kein Wunder. Er genoss als ein letzter bürgerlicher Restposten der zwanziger Jahre, als kritischer Parteigänger, als Herold des jungen Brecht, eine Art naturbelassener Narrenfreiheit; im mutmaßlichen Hochgefühl einer singulären Existenz (in Zehlendorf wohnhaft, am Robert-Koch-Platz, Mitglied der Akademie) durfte er, wie auch Felsenstein, über die Mauer pendeln. Seit Heft 1/1955 rezensierte er für Huchel (der im Übrigen, aus wohlbedachten Gründen, jegliche aktuelle Kritik aus dem Journal verbannt hatte) die gesamtdeutsche Theaterszene, auch den Film; und mit entwaffnender Naivität (die sich selbst ernst und wichtig nahm), auch mit schon altfränkischer Betulichkeit, schrieb Herbert Ihering über die Großberliner Bühnenlandschaft, als hätte kein Mensch (oder Unmensch) die Mauer erfunden. Nicht ohne Grinsen ließen wir beide, die rüstige Redakteurin und ich, bis in das letzte Heft hinein seine hierzulande und somit weltpolitisch höchst anstößige Lokalbeschreibung ohne Beanstandung passieren: „Ost-Berlin und West-Berlin“.
Quark oder Qualität, wo liegt die Grenze? Wo der „West-Östliche Divan“ sie markiert, „Getretner Quark / Wird breit, nicht stark.“ Ein Beispiel? Im dritten Jahrgang von Sinn und Form, Heft 3, griff einer, imponierend wie eh und je, bei vollem Tritt ins Pedal in die Tasten seiner Virtuosität: „So liegt heute eine untrügliche Überzeugung des Rechten, eben des gewandelt Rechten darin, wenn Stalin weise genannt wird, Wie immer widerwillig, können sich, bei allem Haß und aller skandalösen Unwissenheit, auch die Feinde dem Eindruck einer weisen Führerschaft hier nicht entziehen. Durchaus ein Mann ohne alle Szenerie, kühn und bedachtsam zugleich, tritt Stalin als Meister einer neuen Sophrosyne vor. (…) Stalins Weisheit weist sich nicht zuletzt an der Einfachheit als eine aus.“ (Am Rande: Sophrosyne nannten die Alten die weise Mäßigung von Begierden und Leidenschaften, die tugendsame Besonnenheit.) Wo die Weisheit des Autors, des wissenden Autors, so wenig mit dem Willen zur Wahrheit korrespondiert, entquillt das Produkt, Ernst Blochs Produkt, schlicht als Quark. Wir lesen dazu bei Montesquieu:
Läuft man hinter dem Geist her, so erwischt man die Dummheit.
Nein, ich hatte sie nie vergessen, die vorzeitlichen, graugepanzerten Gefährten, Schildkröten, die sommers im Garten wohnten und wacker wanderten, „mit sichelndem Gang“, von Baumstämmen grob im Geviert eingehegt und vor äußerem Ungemach bewahrt. Doch traf es mich unlängst, mitten im kalten Januar, wie ein zärtlicher Hammer als ich nach einem Vierteljahrhundert wieder hinter dem Haus am Hubertusweg stand, einer weltläufigen Reporterin zuliebe, die nicht ohne Erstaunen die alte Redaktion erkundete – „Das ist ja so klein hier, so eng“ (sie mußte es wissen, sie war aus alter Familie) – und als ich, ich traute kaum meinen Augen, im weiß überfrorenen Gelände ein grasloses, totes Rechteck dämmern sah, und jählings erkannte: Hier war es, hier ist noch das narbige Nachbild, hier hausten sie damals, „Marie“ und „Baltschik“ und wie sie alle hießen. Hic Rhodus, hic saltaverant. Hier ist der Ort, wo sich der sagenhafte Exodus vollzog. Denn eines unverhofften Morgens, im Hochsommer, im Frühherbst 62 – seit Ende Juli waren der Redaktion die Weichen zum Ende hin gestellt −, hatte das kleine Volk, vier, fünf oder sechs ihrer Zahl, sich auf die Socken gemacht, den Staub von den Zehen geschüttelt und sich in die Büsche geschlagen: indem es schnöde über die Räuberleiter, eins fuchtelnd über das andere gewuchtet, die stämmige Umfriedung überwunden hatte. Es war ein Omen, es war das Zeichen: comoedia finita est. Leise zitierte ich, bildungsstark, den Heraklit aus Ephesos: Panta rhei – alles flieht.
Long, long ago. Unsere Nebenstelle, seitwärts der heutigen Gedenkstätte, war die Hauptstelle. Das heißt, die Hauptstelle war in der Nebenstelle installiert: ein Telefon aus der Prähistorie mit Schaltvorrichtung, womit allfällig einlaufende Ferngespräche (auch aus Potsdam telefonierte man fern) in das Wohnhaus des Chefredakteurs, Sitz und Hauptstelle der Redaktion, umgelegt werden konnten. Beziehungsweise mussten. Aber nicht immer sollten.
Die Nebenstelle residierte im Nachbarhaus, zwei Zimmerchen unterm Dachjuchee, durch einen klotzigen Kachelofen separiert: die Filiale der Redaktion. Unvergesslich die arktischen Winter dort. Nicht selten brauchte es einen halbwegs durchfrorenen Montag, um die Kohlen in Brand und das grün gekachelte Ungetüm unter Qualm und in Betrieb zu setzen. Auf dem Flur im Ausguss, im Klosettbecken unten stand stumm das Eis. Es stand für die hohe Literatur: Mühsam beschworen wir das Tauwetter.
Und hatte Huchel, vorahnend schon, nicht auch im Sarkasmus noch Recht behalten, als er den magischen Zweizeiler vom „MINlMAX“, die poetische Werbung der Vorkriegsjahre für heimgerechtes Feuerlöschen, interpolierend interpretierte? Er zitierte:
Dichtung breitet sich nicht aus,
hast Du das ZK im Haus.
Und hin und wieder brachten wir das auf den Punkt und klagten:
Dichtung breitet sich nicht aus,
hast Du die Partei im Haus.
Gewisse Redaktions-Rituale. Vor allem: preußische Strenge, paralysiert durch poetische Freiheiten. Bürozeiten exakt – die Akademie saß uns im Nacken −, überkorrekt die Kontrolle der Manuskripte. Jedes Zitat war zu überprüfen, jede Wortwiederholung radikal auszumerzen – ein Erbe, schien mir, von Hilda Westphals drakonischem Regime. (Was Pannen nicht ausschloss.) Die Stilisierung der „Anmerkungen“ war ein Fall für sich: möglichst steil und stolz. Manches Tabu war, vielleicht, nur ein Tick. Und wo endlich die Redakteure Frieden gaben, gab die kluge Närrin den eigenen Senf dazu. Hochwissenschaftlich, sogar mit Folgen. Hatte doch ein bald namhafter Germanist aus Leipzig an der Pleiße, zwecks Erkundung von Goethes Zahlensymbolik, Buchstaben, Silben, Wörter und Zeilen gewisser Texte rechnerisch aufgelistet und sich auf das Hexeneinmaleins aus dem „Faust“ kapriziert – es schien uns apart. Die Fetischistin freilich der Korrektur rechnete gewissenhaft nach (wie einst im Mai der Potsdamer Rechnungshof) und stieß auf numerische Irrtümer, die des Autors klügelnde Interpretation in Frage stellten. Wir intervenierten, der Autor rechnete exakt und die Zeitschrift durfte eine glücklich grunderneuerte Deutung präsentieren. Habent sua fata periodica.
Immerhin Gäste am 3. April, Huchels Geburtstag, allemal in den sechziger Jahren, im Dezennium „nach Ladenschluß“ des Journals. Tempi passati, Schattentanz der Gestalten.
Einer, Feinschmecker von Graden, erscheint stets mit Fliege und rühmt die poetische Existenz des Vaganten. Einer, mit offenem Kragen, im blauweiß gestreiften Hemd der Hamburger Schauerleute, hat ganz zufällig eine Gitarre zur Hand und ermutigt den Jubilar mit erbaulichem Gesang, die Runde darf beim Refrain mitsummen. Irgendwann früher schon hat der Gastgeber den Telefonstecker abgekabelt.
Einer, der in Kilchberg mit Thomas Mann konferierte und im Kerker von Bautzen saß, analysiert Lage und Notlage aus marxistischer Erfahrung; der Stratege weiß, wovon er spricht; oder glaubt es zu wissen. Die alten Genossen diskutieren den Kurs des gestürzten Chrustschow. Die heiteren Ehefrauen berichten vom Leben und Überleben und stimmen herzlich überein. Einer sagt: Kein Problem ist unlösbar, auch nicht in der Dritten Welt. Die Europäer werden für essbar erklärt und das Welternährungsproblem ist gelöst. Einige trinken, einige hören zu, einige sehen im Oberstübchen fern. Einige sind einander unbekannt. Einer sagt: Hört mal zu, und wirft sein Bandgerät an; der elektronische Apparat, Marke Uher, repetiert kurz und schmerzlos und spaßeshalber die zuvor lauthals geführte Debatte. Der Mann aus Bautzen sagt: Das solltest Du lieber gleich löschen, das kann uns alle zwei, drei Jahre kosten. Einer befördert schon mal eine verspätete Menschin zum letzten Zug nach Berlin, auf schlingerndem Fahrrad, muskelstolz wie im alten Rom des Augustus, im freien Wind der Weite und der Nacht. Die Sympathisantin, schier ein Mirakel, gelangt bis weit zu den Antipoden, als künftige Gralshüterin der bald boomenden Huchel-Exegese.
Um im Lande zu bleiben: „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Das Xenion aus Schillers und Goethes Weimar prätendierte, inmitten aller Kleinstaaterei, die „gelehrte“, die kulturelle Einheit der Nation. Es präzisierte, unausgesprochen, die Brückenbauer der Bildung als „Wanderer zwischen beiden Welten“. Zwischen Politik und Kultur.
Eben dies war der schon früh erhobene Vorwurf, der (mit metaphorischer Nachhilfe von Walter Flex) im März 1962 von Willi Bredel zur Anklage stilisiert wurde: „Diese Zeitschrift war (…) eigentlich ein Wanderer zwischen zwei Welten.“ Und noch ein Jahr später dekredierte Kurt Hager (wer war noch Kurt Hager?): Es gibt keinen Mittelweg. (…) Die Zeitschrift war bestrebt, sich in einem imaginären ästhetischen Raum zu bewegen und nicht von der realen DDR aus den Kampf zu führen.“ Dieser „imaginäre ästhetische Raum“, war er nicht der real existierende Denk- und Dichtungs-Raum-Goethes und Schillers? War er nicht, um denn die Anti-These zu bemühen, war er nicht der zukünftige Raum, in welchem, einem glücklichen Wort Thomas Manns zufolge, Karl Marx den Friedrich Hölderlin und der Hölderlin den Karl Marx gelesen haben sollte?
Gone with the wind. Peter Huchel, so unbeirrbar er war, so irritierbar war er. Eines Tages ging ihm Benns berühmte Rede „Probleme der Lyrik“ – von 1951 und ihm natürlich vertraut – nicht mehr aus dem Kopf, als er, aus welchen Gründen immer, in ihr geblättert hatte. Plötzlich sprach er davon, Benn mokiere sich da doch über die „Wie“-Vergleiche der Poeten („Sonne wie Bronze, wie Geschmeide“), das seien nur Hilfskrücken, das sei Leerlauf. Und schlimmerweise, wie er meinte, hatte der Meister nun diese „Wie’s“ auch in der eigenen Produktion entdeckt und er fing an, sie rigoros hinauszuwerfen. In einem Herbstgedicht von 1961, „Sibylle des Sommers“, standen die Zeilen:
Wo Mandelschalen wie Urnenscherben
Zersplittert im harten Weggras liegen
Nun änderte er in: „Wo Mandelschalen als Urnenscherben (…) liegen“ – ich kann mir nicht helfen, es scheint mir forciert. Andernorts, so im Gedicht „Momtschil“ von 1959, war die Korrektur der vorletzten Zeile von Vorteil.
Wiederum blieb er, zum Glück, auch hart. Als er 1963 den ersten Band bei S. Fischer herausbrachte, hatte er darin den „Winterpsalm“ für Hans Mayer. Da heißt es:
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht.
Huchel beschwerte sich, der Lektor, der später höchst rührige Verleger Klaus Wagenbach, habe ihm nahe gelegt, das sei doch altmodisch mit der Seele, er solle die Seele rausschmeißen – was Huchel verweigerte. Er hatte um diese Zeit, neuerlich, die Tendenz zur biblischen Sprachgebärde, zum prophetischen Sprechen – ich weiß wirklich nicht, was das hätte werden sollen, wenn man die Seele da hinausschmiss. Genauso, erzählte er mir, habe er sich einmal gegen Brecht zur Wehr gesetzt. Als er mit seinen Fragmenten zu einem geplanten Lehrgedicht von 1950, „Das Gesetz“, die ostdeutsche Bodenreform in einem großen Zyklus fassen wollte, formulierte er in den Schlusszeilen seine gleichsam mythische Erkenntnis:
Mühsal und Gnade trägt der Mensch.
Und da sei Brecht ganz nervös geworden:
Huchel, was wollen Sie mit der Gnade, das ist so religiös, so christlich. Nehmen Sie die Gnade raus.
Die aber hat er sich doch nicht nehmen lassen.
Immerhin, Ernst Bloch zuliebe, der sich gegen Vergreisung verwahrt wissen wollte, änderte er die Zeile seiner „Widmung“: „Und Stunden wehn, vom Alter weise“ nachfolgend in: „vom Herbstwind weise“ um. Arnold Zweig hingegen hatte sich die Zueignung seiner Widmungsstrophe von 1952 durch Krittelei verscherzt; der Text wurde zuletzt unter der Titelzeile „In memoriam Paul Eluard“ in besagtem Band bei S. Fischer aufgenommen.
Im gleichen Zusammenhang von Sensibilität und Verletzlichkeit rangierte der lustige Brauch, dass Huchel, wenn ein Besuch Erich Arendts ins Haus stand, in das Chefzimmer kam und rief: „Erpel, sammeln Sie schnell mal die Zettel zusammen; wenn der Arendt kommt, schnappt er mir noch eine Metapher weg.“ Es war eine Vorsorge – bei den Zetteln ging es um die hastigen, wahllos verstreuten Notizen seiner Inventionen −, die sowohl mit ärgerlichen Erfahrungen der dreißiger, vierziger Jahre zusammenhing, als er, im Anschluss an die Zurücknahme des ersten Versbandes, sich von Zeitgenossen in seiner poetischen Priorität beeinträchtigt sah, wie auch mit der Tatsache, dass Arendt seinerseits vielfältig produktiv und auch als Übersetzer vielfach publiziert war. Kein Zweifel, André Maurois traf den Nerv solcher Empfindlichkeit, der Empfindlichkeit eines ganzen Gewerbes, wenn er damals (von Sinn und Form publiziert und adäquat angenehm übersetzt) formuliert hatte:
Stil ist der Namenszug eines Temperaments auf dem Wesen der Dinge.
Nachbild zu guter Letzt. Der letzte Abend des aktiven Dienstes, Dezemberdunkel, schon Winternacht, Ich komme vom Nachbarhaus, aus der Nebenstelle, ins Zimmer der Chefredaktion; das Zimmer, seit wieviel Jahren, beherrscht und ausgefüllt von der schweren Platte des großzügig ausladenden Tisches, wie zugeschnitten für eine Werkstatt, der karge Lichtkegel einer Tischlampe verharrt ohne Widerschein im Dunkel des Raums, kein Mensch zugegen, Dann ein Geräusch, und im Licht der Lampe erhebt sich der Kopf, der Körper des Chefs; nicht ohne Grimm beklagt und bemäkelt er die Schadensspur auf der unteren Bohle, welche die Beine des Tisches verbindet und sichert: die Fußspur der Sekretärin, die hier, über Jahre hin, in die Tasten der schweren Schreibmaschine schlug. Er grollt. Er redet sich, wieder einmal und voll Lust, in Rage. Was soll ich sagen? Er geht hinaus.
Erst später kam das Begreifen – und ich zitiere das letzte Bild aus Aragons Rede zum Ruhm seines Landsmannes, des Nobelpreisträgers Saint-John Perse, das damals für uns Rolf Schneider ins Deutsche gefasst hatte, wie als Reflex, als Umkehr jenes Dezemberabends:
… „Gott der Fremde weilt in der Stadt, und der Dichter, allein auf dem Heimweg mit den mürrischen Töchtern des Ruhmes…“ Es ist wie der Abend der Olympiade, wenn der Athlet sich löst von der Gemeinschaft und, halb ungläubig, den Arm betrachtet, welcher den Speer warf.
Fritz Erpel, 1996
− Peter Huchel: Hubertusweg
− Sarah Kirsch: Zauberbild und Verkörperung. Zu Peter Huchels Gedicht „Hubertusweg“
− Peter Walther: Der Unpolitische als Politikum. Über Peter Huchel
− Christoph Meckel: Eine Freundschaft
− Lothar Müller: Pathos der Monotonie. Über die Stimme Peter Huchels und ihren historischen Ort.
− Adolf Endler: Momente
− Peter Huchel: Erinnerung an Brecht
− Fritz Erpel: Flüchtige Jahre bei Sinn und Form
− Hans Dieter Zimmermann: „Böhmen liegt am Meer“. Ingeborg Bachmann, Reiner Kunze, Ludvík Kundera, Jan Skácel – und Peter Huchel
− Elisabeth Borchers: Am 24. November 1978 zu Huchel nach Staufen
− Peter Voss: Huchel in Staufen
− Henning Ahrens: Das Wort ist die Fähre
− Maryse Jacob: Aspekte der Huchel-Rezeption im französischen Sprachraum
− Henning Ziebritzki: Meister der diskreten Unterschiede. Ein Fernblick auf Peter Huchel
− Lutz Seiler: Lebensbibliothek
− Hub Nijssen: Vita Peter Huchel
− Hub Nijssen: Peter Huchel – Auswahlbiografie
gehört als Lyriker und langjähriger Chefredakteur der Literaturzeitschrift Sinn und Form zu den herausragenden Gestalten der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
1962 wurde er aus politischen Gründen als Chefredakteur abgelöst und vom literarischen Leben der DDR weitgehend isoliert. Damit war aus dem Lyriker Huchel der „Fall Huchel“ geworden: Als solcher blieb der Dichter bis zur Ausreise 1971 Gegenstand kulturpolitischer Spekulationen in Ost und West.
Text + Kritik fragt, im Abstand zu den Rezeptionsumständen vor 1989, nach der Gültigkeit des huchelschen Werks und zeichnet die Spuren seines Wirkens als Lyriker und als Vermittler von Literatur nach.
edition text + kritik, Klappentext, 2003
„Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor“, so begann Reiner Kunzes Gedicht „Zuflucht noch hinter der Zuflucht“ aus dem Jahr 1971, welches er Peter Huchel gewidmet hatte. Huchel hatte die späten 60er Jahre in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam in einer Art innerer Emigration verbracht. Nur wenige DDR-Schriftsteller hatten den Mut aufgebracht, den Lyriker und abgehalfterten Chef von Sinn und Form zu besuchen. Neben Reiner Kunze gehörten Wolf Biermann, Günter Kunert, Sarah Kirsch und Uwe Grüning zu den Aufrechten, die vieles von Peter Huchel gelernt hatten. Was man damals geahnt hatte, war nach dem Ende der DDR gesicherte Erkenntnis geworden: das Ministerium für Staatssicherheit hatte sich für Peter Huchel interessiert und engagierte Spitzel aus der Nachbarschaft beeilten sich aufzuschreiben, wer mit welchem Autokennzeichen wann den Dichter besuchen würde. Die DDR liefert im Fall Huchel ein Lehrstück, wie belämmertes Spießertum und knallharte Staatsmacht eine unheilige Allianz einzugehen in der Lage sind.
Am 27. April 1971 hatte Peter Huchel nach langen vergeblichen Versuchen die Erlaubnis erhalten, die DDR verlassen zu dürfen. „Die zeitungen meldeten / keinen verlust“ kommentierte Kunze in einem weiteren Gedicht mit dem Titel „Gebildete Nation“.
Huchel war ohne Zweifel eine schillernde Figur: Teilnehmer am Kapp-Putsch 1920, Genosse in den Künstler-Kolonien der 30er Jahre in Berlin, Wehrmachtsangehöriger und parteiloser Kulturfunktionär nach dem Krieg in Ostberlin. Die sowjetische Besatzung benötigte für ihre Schlüsselstellungen unbescholtene Leute. Auf diese Weise kam Peter Huchel mit dem DDR-Kulturminister Johannes R. Becher, einem ehemaligen expressionistischen Dichter, zusammen, der dafür sorgte, daß Huchel mit der Redaktion der Vorzeigezeitschrift Sinn und Form betraut wurde. Huchel, der diese Zeitschrift von 1949 bis 1962 leitete, förderte ehemalige Exilanten wie Hans Mayer, betreute den marxistischen Philosophen Ernst Bloch, veranlaßte Sonderhefte für Bert Brecht, korrespondierte mit dem österreichischen Kommunisten Ernst Fischer und druckte Texte von Amerika-Exilanten wie Theodor W. Adorno ab. Es dauerte nicht lange, bis die Parteileitung schäumte. Eine erste Kündigung hatte Bertolt Brecht verhindern können. Peter Huchel konnte noch eine Zeit standhalten, bis er definitiv gezwungen wurde, die Redaktion von Sinn und Form abzugeben.
„Flüchtige Jahre bei Sinn und Form“ sind Erinnerungen des Redakteurs Fritz Erpel überschrieben. Das vorliegende schmale, aber höchst aufschlußreiche Heftchen unternimmt 16 Versuche, um dem Geheimnis Peter Huchel auf die Spur zu kommen. Besonders verdienstvoll ist Hans Dieter Zimmermanns Beitrag „Böhmen liegt am Meer“, in welchem er eine Zusammenschau der Beziehungen zwischen tschechischen Lyrikern wie Ludvik Kundera oder Jan Skácel und Ingeborg Bachmann, Reiner Kunze und Peter Huchel vorlegt. Speziell die Verbindung zwischen Ludvík Kundera, der Huchel in das Tschechische übersetzt hatte, und Peter Huchel verdient eine besondere Betrachtung. Als Kundera unter den stalinistischen Verhältnissen in seinem Lande zu leiden hatte, half ihm Peter Huchel, so gut und so lange es ging in der DDR, um Übertragungen und Texte unterbringen zu können. In den späten 60er Jahren gelang es Kundera, Gedichte von Peter Huchel in tschechischen Zeitschriften zu veröffentlichen.
Maryse Jacob beleuchtet „Aspekte der Huchel-Rezeption im französischen Sprachraum“ und Peter Voss und Elisabeth Borchers stellen in ihren Beiträgen die Zeit Peter Huchels im Staufen der 70er Jahre vor. „Lebensbibliothek“ lautet der Beitrag von Lutz Seiler, der davon berichtet, wie er mit Huchels Witwe Monica die Bibliothek des Dichters sichtete. Seiler leitet das Huchelhaus in Wilhelmshorst bei Potsdam, das als Museum der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.
Am 3. April 2003 jährte sich der hundertste Geburtstag Peter Huchels.
Volker Strebel, Ostragehege, Heft 32, 2003
Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.
Das jüngste Text + Kritik-Heft, die Nummer 157, ist nun einer Ikone der poetischen Moderne gewidmet, dem von der DDR zuerst hofierten und dann schikanierten Dichter Peter Huchel. Es handelt sich im wesentlichen um emphatische Reminiszenzen und Hommagen an den schweigsamen Wortmagier aus der Mark Brandenburg, der fast vierzehn Jahre lang, von Ende 1948 bis 1962, die Zeitschrift Sinn und Form zum geheimen ästhetischen Hauptquartier der literarischen Moderne verwandelt hatte…
− Neue Publikationen zu Peter Huchels 100. Geburtstag. −
Der einen war er „Magier“, „Wegschnur“, „Zauberbild“, der andere beschreibt ihn in jungen Jahren als „oft verschuldet, liebenswürdig, zu Trägheit neigend und laisser faire“. Seine Frau schließlich berichtet, sie habe sich ihm „in einem Maß untergeordnet, dass mich nur mein fast schon übersteigertes Selbstbewusstsein davor geschützt hat, mich dabei zu verlieren“ – sie grauste sich vor dem Wirbel zu seinem 100. Geburtstag und nannte ihn stets nur beim Nachnamen: Huchel.
Jetzt ist der runde Geburtstag da, am 3. April 1903 wurde Peter Huchel in Groß-Lichterfelde bei Berlin geboren. Er starb 1981, seine Frau Monica 21 Jahre später, viel Rummel hätte sie nicht zu ertragen gehabt. Außer einem bislang unbekannten Essay über Bertolt Brecht war im Nachlass nichts grundlegend Neues zu entdecken, weshalb man sich bei Suhrkamp, Huchels Verlag, zum Jubiläum mit dem Hinweis auf die bislang betriebene Werkpflege beschränkt (2000 erschien dort in Ergänzung zur Werk- auch eine Briefausgabe). Für die Hommage 2003 ist deshalb der winzige Märkische Verlag zuständig, ein Einmannbetrieb in Huchels langjährigem Wohnort Wilhelmshorst.
Dort erscheint eine bibliophile Ausgabe von 64 Gedichten, ausgewählt und nach Jahreszeiten sortiert vom Huchel-Kenner Axel Vieregg, begleitet von melancholischen Schwarzweißbildern der Fotografin Sabine Breithor (Langsam dreht sich das Jahr ins Licht, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2003). Viel mehr ist nicht anzuzeigen – Peter Huchels zeitkritische Naturlyrik ist nicht eben en vogue, und auch der politische „Fall“ Huchel ist zu den Akten gelegt, obwohl er ein Paradebeispiel diktatorischer Kulturpolitik ist.
1949 wurde Huchel Chefredakteur von Sinn und Form, der berühmten Literaturzeitschrift der (Ost-)Berliner Akademie der Künste. Er machte sie so gut, so unabhängig, dass er 1962 aus dem Amt gedrängt, fortan isoliert und bespitzelt wurde, ehe er 1971 in den Westen ausreisen durfte. All das ist hinreichend bekannt, dennoch ist es seltsam, dass nun ausgerechnet Sinn und Form (Heft 2/03 – Hrsg. Akademie der Künste Berlin, Aufbau-Verlag) zum Jubiläum ihrer Überfigur nur zwei längere Aufsätze bringt, davon einen aus der Tastatur des englischen Germanisten Stephen Parker, der nun schon seit Jahrzehnten zu beweisen versucht, dass Huchel als Mensch mies und als Lyriker mittelmäßig war. Seine Technik ist die des Beamten beim Einwohnermeldeamt, er heftet Gedichte als Belege wechselnder Wohnorte und zweifelhafter Gesinnungen ab. Zum Glück zeigt in derselben Ausgabe der Lyriker Lutz Seiler eindrucksvoll, wie man sich behutsam und wahrhaftig von den konkreten Lebensumständen zum Charakter eines Werkes voranschreiben kann.
Sein poetischer Essay über das Haus im Wilhelmshorster „Kieferngewölbe“, wo heute Seiler wohnt und Huchel von 1952 bis 1971 lebte, dichtete und redigierte, ist das Gegenteil von Parkers privatdetektivischen Schnüffeleien: ein Kunststück.
Seiler hat auch, zusammen mit Peter Walther, den schmalen Sonderband von Text und Kritik zu Huchels 100. herausgegeben. Das gute Dutzend Beiträge von Weggefährten und nachgeborenen Kennern des Werkes fügt sich zu einer aufschlussreichen Skizze des märkischen Querschädels, den viele kannten, aber dem niemand wirklich nahe kam. „Dadurch – das ist ja das purste Feuerwehrdeutsch! Können Sie nicht auf solche Wörter verzichten?“ Mit derart einfühlsamen Anmerkungen brachte Huchel manch jungen Dichter auf die rechte Spur, wie Adolf Endler sich erinnert.
Am schärfsten sieht den Jubilar wohl Fritz Erpel, lange Jahre Redakteur bei Sinn und Form, der in einer huchelesken Mischung aus Belesenheit, Bildkraft, strenger Selbstbescheidung und Sarkasmus die Erinnerung an den „selbstkritischen Avantgardisten einer Tradition“ lebendig hält: „Wie war er denn so, was war er denn für ein Mensch? Antwort: Im Prinzip ja. Gelegentlich ein cholerischer Ausbruch (wenn ihn etwa die Taxi-Zentrale am Potsdamer Bahnhof versetzt hatte), der entlud und rehabilitierte nur die um Ausdruck ringende Schwermut, den Seelenstau aus Apathie und Vulkanismus.“
Christof Siemens, Die Zeit, 15/2003
Peter Huchel | Stephan Hermlin Zeitzeugen des Jahrhunderts. Literarischer Salonabend im Haus Dacheröden, Erfurt mit Lutz Götze (Manuskript) und Franziska Bronnen (Lesung).
Peter Hamm: Vermächtnis des Schweigens. Der Lyriker Peter Huchel, Merkur, Heft 195, Mai 1964
Franz Schonauer: Peter Huchel – Porträt eines Lyrikers
DU, Heft 11, November 1964
BILDNIS PETER HUCHEL
Als ich Sie das erstemal sah schwammen
Schwäne über den See. Mitten auf dem Wasser
Lag still das Boot des Fischers.
Sie schwiegen. Aber Sie hörten zu mißtrauten
Dem Dichter der Sandalen trug
Wie eine Botschaft
In Weimar sah ich Sie wieder
Als Präsident einer kulturellen Veranstaltung
Wieder haben Sie nur geschwiegen
Wie macht er das, dachte ich
Als Präsident. Kein Zeichen
Keine Bewegung wem denn das Wort erteilt war
Später kamen Nachrichten. Autos standen
Vor ihrem Haus. Besucher wurden ferngehalten
Der Sohn wurde geschlagen. Manuskripte auf Lastwagen
In einen Schuppen gekippt.
Sie können alles wiederhaben
Die Stimme hörten Sie noch
Zittern im Schatten südlicher Bäume.
In Rom kamen Sie an mit sieben Koffern
Wer ist er? Ein Telefongespräch wurde vermittelt
Er ist ein Dichter nicht geboren
Unter den Fittichen der Gewalt zu leben.
Langsam fingen Sie an zu erzählen
Aufschreiben! rief einer und wußte es besser
Ihre Mild war streng. Auf den Fotografien
Sieht jeder wie tief Ihre Augen gesehen haben
Ängstlich bestellten Sie bürgerliche Gerichte
Tingeln nannten Sie anstrengende Lesereisen
Lieber sprachen Sie von Disteln Dornen
Von den zerbrochenen Sätzen aus vergilbten Papieren.
Nicht mehr fliegen wollten Sie über die märkischen
Wälder. Die Seen lagen still wie immer
Jeder Turm ein Vertrauter jede Erhebung
Was ist aus den Katzen geworden
Wer hat das Holz für die Fensterläden verbrannt
Einmal kam Silone. Er trug einen weißen Hut
Sie sind gestorben. Aber wie. Manchmal spricht
Einer von Ihnen. Wie schnell sind viele vergessen
Wie wäre es Sie kämen nur einmal noch
In diese Stadt. Und blieben ein paar Tage
Zu fragen wäre genug. Da könnten Sie
Mithalten
Rolf Haufs
Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973
Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973
Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981
Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981
Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981
Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981
Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981
Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981
Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981
Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981
Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981
Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981
Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984
Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991
Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003
Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003
Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003
Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003
Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003
Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003
Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003
Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003
Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003
Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002
Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
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