Ulla Hahn: Zu Kurt Martis Gedicht „der name“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Martis Gedicht „der name“ aus:  Kurt Marti: gedichte am rand. 

 

 

 

 

KURT MARTI

der name 

vielleicht
dass heisenberg
wirklich die weltformel fand
das wird sich noch weisen 

aaaaaaber wann aber wann
aaaaawird die heiligung
aaaaajenes namens erscheinen
aaaaader mehr ist
aaaaaals welten und formeln? 

vielleicht
dass die herren der erde
wirklich nicht nur das unrecht erstreben
das wird sich noch weisen

aaaaaaber wann aber wann
aaaaawird die heiligung
aaaaajenes namens erscheinen
aaaaader die erde verwandelt
aaaaain eine sonne des rechts?

vielleicht
dass die christen
wirklich das licht sind der welt
das wird sich noch weisen 

aaaaaaber wann aber wann
aaaaawird die heiligung
aaaaajenes namens erscheinen
aaaaader finsternis sprengt
aaaaamit explosionen des lichts?

 

Zu Kurt Martis Gedicht „der name“

Bereits der Titel des Gedichtbandes ist Programm, sein Verständnis für die Interpretation der in ihm enthaltenen Gedichte unerläßlich. gedichte am rand das sind Texte, die „am rand“ der Evangelien entstanden sind, während der Auseinandersetzung des Autors mit der Heilsbotschaft. Und auch von der beruflichen Tätigkeit des Autors sind diese Gedichte geprägt, denn der 1921 geborene Kurt Marti lebt als Pfarrer in einer Berner Gemeinde, als Pfarrer, der aus seinem sozialkritischen Engagement nie ein Hehl gemacht hat.
Den Leser erwarten mithin Gedichte als Marginalien, als Fußnoten, Kommentare zum Evangelium, allerdings nicht als akademische Exegese. Gefragt wird vielmehr nach der Bedeutung des christlichen Glaubens in der heutigen Welt, nach den Möglichkeiten des Christentums, diese Welt menschenwürdiger zu machen.

So paradox es klingen mag: aber mit dem Schlagwort „die Bibel allein“ kann man heute kein Zeuge Christi mehr sein. Die Appelle zur Wachsamkeit von Jesus und in den Paränesen des Paulus immer neu wiederholt bedeuten unter anderem auch dies, daß wir uns über die politischen und sozialen Ereignisse und Bewegungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart kritisch und möglichst vielseitig informieren lassen. (Marti, zit, nach Nef.) 

Dieses christlich-soziale Bekenntnis des Pfarrers Marti ist auch das des Autors, insbesondere des Autors von gedichte am rand. Der Sprecher der Gedichte ist kein literarisches ,lyrisches Ich‘, sondern der Autor selbst.
Wie sehr sich religiöser Glaube und der Gedanke an eine politische Utopie durchdringen, zeigt beispielhaft das Gedicht „der name“. Bereits ein erstes Lesen macht deutlich, daß zu seinem Verständnis ein Höchstmaß außerliterarischer Vorinformation nötig ist. Marti macht den Leser nicht nur zum „Zeugen eines sozusagen präliterarischen Konflikts“ (Widmer), er verlangt ihm auch ein beträchtliches Schulbuch- und Katechismus-Wissen ab. Denn das Gedicht Martis läßt sich erst verstehen, nachdem es dechiffriert ist, Namen und Begriffe in ihrer ursprünglichen Bedeutung klar sind.
„heisenberg“ und „weltformel“, Name und Begriff aus der ersten Strophe, kann man im Lexikon nachschlagen und weiß dann, daß der Physiker Heisenberg eine Theorie aufstellen will, die in einheitlicher Formulierung alle Naturgesetze enthält. Der Autor steht diesem Versuch skeptisch abwartend gegenüber.
Die zweite Strophe wirft jedoch mit dem Begriff der „heiligung / jenes namens“ Interpretationsprobleme auf, bei denen auch das Lexikon der Religionswissenschaft nicht weiterhilft. Im Verständnis dieses Begriffs liegt jedoch der Schlüssel zum Verständnis des gesamten Gedichts, zumal „der name“ dem Gedicht auch den Titel gab. „Geheiligt werde dein Name“, heißt es im Vaterunser, „name“ meint also den Namen Gottes. Falsch wäre es jedoch, „der name“ und „Gott“ ohne weiteres identisch zu setzen. Marti spricht bewußt vom „namen“, um damit einer Personifizierung Gottes entgegenzuwirken, um die Idee, den Begriff Gottes, wie er in der jüdisch-christlichen Heilslehre angelegt ist, zu betonen. Diesen Begriff, diese Idee ,Gott‘ zu umschreiben etwa mit Frieden, Gerechtigkeit, Einverständnis zwischen Mensch und Natur – ausgedrückt z.B. in dem jüdischen Gruß „Shalom“ – soll „geheiligt“ werden. Auch dieses Wort bedarf wiederum der Profanisierung. „Heiligen“ – so Kurt Marti – heißt nichts anderes als „Ernstnehmen“. „heiligung jenes namens“ meint mithin Ernstnehmen der Idee des Friedens, der Gerechtigkeit, kurz alles dessen, worauf der Begriff ,Gott‘ verweist. Nun fragt Marti in der zweiten Strophe aber nicht, „wann werden wir jenen Namen heiligen“, vielmehr „wann / wird die heiligung / jenes namens erscheinen“. „Erscheinen“ also, nicht „herbeigeführt werden“. Die passivische Formulierung macht sehr gut sichtbar, wie tief Marti in der jüdisch-christlichen Heilslehre verwurzelt ist und wie untrennbar soziales Engagement und Christentum in ihm zu einer Einheit verschmolzen sind. Während die erste Strophe im Bild des nach der Weltformel suchenden Physikers den menschlichen Aspekt der „heiligung jenes namens“, des Ernstnehmens eines Friedens zwischen Mensch und Natur ausspricht, macht die zweite Strophe deutlich, daß allein menschliches Streben nach einer gerechten, friedlichen Welt diese nicht herbeiführen kann, die Vollendung muß vielmehr von Gott kommen. Nicht nur die Menschen heiligen den Namen, vielmehr Gott heiligt sich selbst.
Somit ist die Frage nach der „heiligung jenes namens“ Frage nach der Erfüllung einer Utopie, einer eschatologischen Utopie, ist die Frage nach der Realisierung Gottes in den Zuständen der Welt. Daß der Autor an diese Utopie glaubt, drückt selbst noch die Frage aus: denn die Frage ist kein Infragestellen. Nicht „ob“, sondern „wann“ ist die Frage, der Zeitpunkt des Erscheinens ist unsicher, nicht das Erscheinen selbst.
Sieht man allerdings die beiden ersten Strophen in einem Zusammenhang, ist auch eine zweite Definierungsmöglichkeit nicht auszuschließen, die einen weit radikaleren Zweifel an der Heilsgewißheit ausdrückt. Die Kopplung des Interrogativadverbs „wann“ mit der adversativ gebrauchten Konjunktion „aber“ unterstreicht noch einmal die gegensätzliche Spannung, in der die beiden Strophen, der menschlich-irdische und der göttlich-utopische Bereich stehen.
Gewiß erscheint dem Autor, daß es sich irgendwann herausstellen wird, ob menschliche Anstrengungen, die Welt zu erkennen oder zum Besseren zu verändern, fruchten werden oder nicht:

das wird sich noch weisen.

Liest man auf dem Hintergrund dieser Gewißheit die zweite Strophe mit ihrem drängenden Gestus noch einmal, so wird eine zweite implizite Frage deutlich: Erscheint diese Utopie überhaupt? Auch bei dieser Interpretation wird das Vorhandensein einer Utopie nicht geleugnet, bezweifelt wird jedoch, ob sich diese Utopie jemals erfüllen, ob sich Gott überhaupt jemals in den Zuständen der Welt realisieren wird.
Da auch die folgenden Strophen jeweils zu Strophenpaaren zusammengeschlossen sind, deren Aufbau mit der ersten und zweiten Strophe identisch ist, scheint mir der zweite Interpretationsansatz schlüssiger. Nach dem die zentralen Begriffe des Gedichts geklärt sind, liegen der Interpretation der folgenden Strophen kaum noch Schwierigkeiten im Weg. Erkennbar wird bei gleichbleibendem. formalen Grundschema eine Steigerung auf verschiedenen Ebenen. So steigt die Abfolge der Beispiele, die das Streben der Menschen nach Vollkommenheit ausdrücken, vom naturwissenschaftlichen („heisenberg“ – „weltformel“) über den ethischen („die herren der erde“ – „nicht nur das unrecht erstreben“) zum religiösen Bereich („christen“ – „das licht der welt“) auf. Mit der Brisanz der Beispiele werden die Bedenken des Autors provozierender. So drückt die dritte Strophe nicht nur wie die erste mit der Wendung „vielleicht / dass“ eine Skepsis des Autors gegenüber den gegebenen Tatbeständen aus; der Autor macht durch die Formulierung ex negativo zudem deutlich, daß er den „herren der erde“ das Gegenteil von Gerechtigkeitsstreben unterstellt.
Für den christlichen Leser liegt die größte Provokation in der fünften Strophe, wo der Autor bezweifelt, daß die Christen zum jetzigen Zeitpunkt das „licht der welt“, die Verkörperung der göttlichen Idee auf Erden sind. Ihr Wert oder Unwert wird sich ebenso „weisen“ wie die Richtigkeit oder Falschheit der Heisenbergschen Weltformel, wie Aufrichtigkeit oder Lüge des Gerechtigkeitsstrebens der „herren der erde“.
Parallel zur Steigerung der Brisanz der Beispiele und Provokationen geht die Steigerung der bildhaften Umschreibung des „namens“: vom statischen „der mehr ist / als welten und formeln“ bis zu dynamischen Vorgängen „verwandelt / in eine sonne des rechts“, „sprengt / mit explosionen des lichts“, Die Bilder werden prächtiger, schließlich überwältigend: „explosionen des lichts“ sind für den Menschen kaum noch faßbar, ja gefährlich.
Die sehr komplexe Aussage des Gedichts, die unter theologischen Gesichtspunkten sicher noch weiter ausdeutbar wäre, gelingt Marti mit sehr einfachen Mitteln. Wie die konkrete Poesie, der Marti nach eigener Aussage viele Anregungen verdankt, ist auch dieses Gedicht nur scheinbar lakonisch, monoton und formelhaft.
Die Strophen, welche menschliche Aktivität, und die, welche Utopie gestalten, sind parallel gebaut, nur das Subjekt der Aussage wird jeweils ausgetauscht. Der Austausch nur weniger Worte gewöhnt den Leser an den Sprachgestus und zwingt gleichzeitig zum genauen Lesen, ein Kunstgriff, der beim Hören des Gedichts noch an Wirksamkeit gewinnt. Anders als in der konkreten Poesie steht bei Marti jedoch nie die Sprache als Selbstzweck, sie wird fast immer, und besonders in diesem Gedicht, funktional eingesetzt, sie behält ihren Mitteilungscharakter, nimmt mitunter, so auch hier, den Gestus öffentlicher Rede an. Ein Vergleich mit dem Stil, dem rhetorischen Schema von Predigten und Psalmen drängt sich geradezu auf.
Unverkennbar ist der didaktische Gestus des Gedichts, der jedoch nichts Besserwisserisches hat, sondern den Autor im Prozeß der Selbstverständigung, der Auseinandersetzung mit dein Evangelium zeigt.
Nicht Gewißheiten werden verkündet, sondern die Suche nach den Möglichkeiten des Christentums in der Welt vorgeführt. Wie die meisten Gedichte Martis hat auch dieser Text einen außerliterarischen Zweck; er ist im Brechtschen Sinne ein Gebrauchsgegenstand. Diese Funktion ist Voraussetzung für Martis Dichten:

Der christliche Autor hilft, die Kirche zur Welt hin offen zu halten. (Marti, zit. nach Nef)

1

Ulla Hahn, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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