DIE TRÄNENFABRIK
und wieder liegt in der jahres-
bilanz die tränenfabrik
vornan.
während mein verkehrsamt sich noch die hacken
aaaaaablief
und das amt für herzensangelegenheiten
noch hysterische attacken ritt,
fuhr die tränenfabrik nacht für nacht schicht,
brachte selbst an sonntagen neue rekorde der produktion.
während die verdauungsstation jeweils
an der aktuellen katastrophe kaute,
stellte die tränenfabrik auf rentables recycling um,
entsorgte die reste des vergangenen,
die eigene erinnerung vor allem.
die fotos der jahresbestarbeiter
kamen feierlich an die klagewand.
ich bin arbeitsinvalide meiner heldentränenfabrik,
habe schwielen auf den augen,
dazu noch den jochbeinbruch
bezahlt werde ich nach der leistung
und bin zufrieden mit dem, was ich habe.
1981 in Minsk in der damaligen Sowjetunion geboren, hat erst als Jugendliche Weißrussisch gelernt. Sie, die eigentlich Sängerin werden wollte, entdeckte die politisch umkämpfte Sprache als Instrument des lyrischen Ausdrucks – und macht sie zum Thema ihrer aggressiven Balladen und militanten Litaneien. Von der Kindheit in einem Land voller Angst bis zu den Reisen nach Berlin und New York folgen die Gedichte den Stationen ihres Lebens. Lakonie wechselt ab mit zornigem Pathos. Mort experimentiert mit den Formen Kinderlied, Oper, Agitprop-Gedicht („Und wieder liegt in der Jahres- / bilanz die Tränenfabrik / ganz vorn.“) und erzielt surrealistische Effekte („wie ein erstarrter blitz / steht eine tulpe / auf meinem bett“). Sie ist die stärkste lyrische Stimme aus einem verschlossenen Land.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2008
− Die Tränenfabrik der weißrussischen Dichterin Valžyna Mort ist Lyrik von Weltrang. −
Es geht die Sage, dass Allen Ginsberg einst Berlin besuchte, in die karge Lyriklandschaft starrte und verzweifelt ausrief, das sei ja alles sehr nett, aber bitte: „Where ist the vocal man?“ In der Vielstimmigkeit der deutschen Lyrik ist es nicht einfach, Bandleader zu bestimmen. Aber, verehrter Ginsberg, Gott habe Sie selig, fragten Sie heute noch einmal und dürfte man auch nach der anderen Hälfte der Menschheit fragen: Klarer Fall, Sie müssten eine Performance von Valžyna Mort besuchen.
Mort wurde 1981 in Minsk geboren. Die weißrussische Diktatur verließ sie im neuen Jahrtausend in Richtung USA und lehrt heute am College of Liberal Arts der University of Baltimore. Als kleines Mädchen glaubte sie sich zur Opernsängerin berufen. Während andere bei der Aufnahmeprüfung zur Musikschule Kinderreime vortrugen, gab Mort die Carmen, unverdrossen, mit Inbrunst und in schiefster Tonlage. Aus dem Kindheitstraum wurde nichts, aber aus Mort eine Lyrikerin, deren Charisma und Leidenschaft für die Musikalität der Sprache aus jedem ihrer Gedichte klingt.
Mort ist eine überaus genaue Dichterin. Das lässt schon die Sorgfalt ahnen, mit der sie den deutschen Band komponiert hat. Ihre Gedichte hat sie eigens für diese deutsche Ausgabe zusammengestellt und um einen autobiographischen Essay ergänzt, den man auch als surrealistisches Märchen lesen könnte.
Die weißrussische Sprache, die Mort erst nach der Perestroika als Jugendliche lernte, ist für sie eine Fremdsprache wie das Englische, das heute ihr Zweitinstrument ist, auf dem sie spielt wie auf einem Saxophon. Ihre Sprachwahl habe keine politischen Motive, sagt Mort, sondern rein musikalische. Das mag für ihre Absicht gelten; für ihre Texte nicht. Dafür sind sie zu kämpferisch, manchmal mehr stark und umwerfend als klassisch und schön. Zum Beispiel in solchen Versen wie dem Beginn des Gedichtes „Die Weißrussische Sprache I“:
wie wir zur welt kamen wissen selbst unsere mütter nicht
wie wir ihnen die beine spreizten und hervorkrochen von allein
so kroch man nach dem bombardement aus den ruinen
wir wußten nicht wer von uns junge wer mädchen ist
wir fraßen erde und dachten das sei brot
unsere zukunft aber — diese tänzerin auf dem dünnen strich horizont —
was vollführt sie uns da
für figuren
die hure
Voran gestellt ist diesem ersten Gedicht die Fassung in kyrillischer Schrift. Der erste Eindruck ist also der visuelle des Schriftbildes, eine unhörbare Melodie, ein Rhythmus: rund und geschwungen und eckig zugleich. Auf der zweiten Seite schlägt einem die Stimme Baals entgegen, mythisch, kraftvoll, unverwüstlich:
und dort sprang die tänzerin zukunft am horizont
durch den feuerreif
der sonne
Mort singt in den ersten Gedichten des Bandes für eine Generation, manchmal mit der Kraft eines Walt Whitman, in Bildern des Alltags eines zweimal verschlossenen Landes, die plötzlich ins Poetische, in die Phantasiewelt, den rasenden Stillstand des Surrealismus bersten:
und als unbeweglicher blitz
steht auf dem bett
eine tulpe
Sie singt auch für sich, immer aus der eigenen Erfahrung: zuerst der der Kindheit, die in weichen, verspielten Tönen durch das Stahlbad des Älterwerdens und Erkennens schimmert, zunehmend übertönt von erotischen, oft komischen Erlebnissen der jungen Frau: „Die Lust sitzt in der Mitte des Kirschkerns, und ich pule sie mit ungeschickten Händen heraus.“
Morts Stimme ist weiblich und sehr alt, als komme sie aus Fernster, aus mythischer Zeit, in der man noch unbedenklich von Gott und Mutter und Großmutter in einem Atemzug sprach. Dabei gehe es ihr nicht um den Triumph des Weiblichen, erklärte Mort während eines Podiumsgesprächs vor einigen Monaten in Berlin mit ihrer Übersetzerin Katharina Narbutovič, der zu verdanken ist, dass diese Gedichte auch in der deutschen Sprache wunderbar tönen. Und doch gibt Mort zu bedenken, dass Autorinnen in Weißrussland in keiner Tradition stünden, denn es seien nur Männer, die dort schreibend immer noch das Rad erfänden, nicht selten ohne jede Kenntnis der internationalen Literatur. Das zu behaupten ist frech. Wie die Nacktfotos, die Mort machte, aus Trotz, weil man sich über die angeblich vulgäre Sprache ihrer Gedichte erregte: „männer, die niemals mir glauben, / which bound me to a chair“.
Nein, die Männer, die sich empören, wenn eine junge Frau einen einsamen Orgasmus als Bus beschreibt, der zur Haltestelle kommt, eine Minute wartet und der Wartenden die Tür vor der Nase zuschlägt („und ich bleibe liegen, das Gesicht im Kopfkissen, und schaue ihm nach“), diese Männer fürchten sich nicht vor Vulgarität, sondern vor einer Sprache, die Revolutionen entfachen kann. Und vor dem Humor und der Wandelbarkeit dieser außergewöhnlichen jungen Lyrikerin, die mal als Conferencier krakeelt, mal als mythisches Wir wispert und sich dann wieder „so dünn“ wie eine Wimper macht. Die Sprache der männlichen Widersacher hingegen „ist so klein, / daß sie noch kein gespräch führen kann“.
Fragte Ginsberg noch einmal, er sollte diese Gedichte lesen. Laut.
− Die Gedichte der 1981 in Minsk geborenen Lyrikerin Valžyna Mort handeln von ihrer Heimat, der weißrussischen Sprache – und dem Akkordeon, ihrem Lieblingsinstrument. Denn die Musik, so schreibt sie im Nachwort zu ihrem neuen Buch Tränenfabrik, wisse immer „einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus, was ich suche“. −
In den letzten Jahren hörte man häufiger die These, dass die jungen Schriftsteller in Osteuropa viel eher als diejenigen im Westen mit den alten literarischen Fragen beschäftigt seien, mit dem Gegensatz von Ich und Welt etwa und einer Auseinandersetzung mit biografischen und politischen Brüchen. Einen Beleg dafür könnte man auch jetzt wieder in den Gedichten von Valžyna Mort finden. Die 1981 im weißrussischen Minsk geborene Lyrikerin verblüfft durch eine mal pathetisch aufgeladene, mal ironisch gebrochene, aber immer wieder poetisch eigene und faszinierende Sprache, in der sich die zeitgenössischen Umbrüche widerspiegeln, die diese Umbrüche aber auch in überraschende neue Bilder verarbeitet. „Die weißrussische Sprache“ – diesen Titel tragen gleich zwei Gedichte, eines am Anfang und eines gegen Schluss. Es sind zwei Variationen zum selben Thema.
Das Charakteristische dabei ist, dass Valžyna Mort die weißrussische Sprache erst relativ spät gelernt hat, ihre Muttersprache ist Russisch. In der Zeit der Sowjetunion war das Russische hegemonial, das Weißrussische wurde nicht sonderlich ernst genommen. Es war auch in der weißrussischen Hauptstadt Minsk keinesweges die Schrift- und Kultursprache. Erst nach dem Ende der Sowjetunion diente es – ursprünglich die Sprache des niederen Volkes – als Beglaubigung der eigenen Staatswerdung, einer eigenen Nation. In diese Zeit ist Valžyna Mort hineingewachsen, und deswegen ist das Weißrussische für sie ein widersprüchliches Konstrukt aus Emanzipation und Einschränkung:
wir wurden groß in einem lande
wo man erst die türen mit kreide markiert
und nachts dann zwei, drei wagen vorfahren
und uns holen aber
in diesen wagen saßen keine männer
mit mgs
und nicht der gevatter tod
aber die liebe kam so zu uns
uns zu holen
Weißrussland gilt heute als der letzte offen-totalitäre Staat in Europa. Valžyna Mort lebt zurzeit in Washington D.C. Sie hat auf mehreren internationalen Lyrikfestivals bereits auf sich aufmerksam gemacht, ihre Auftritte sind Performances, in denen die Artikulation, die Rhythmisierung, die Musik eine große Rolle spielt. Das Weißrussische wird zum Symptom einer globalisierten Einsamkeit:
diese sprache existiert nicht,
sie hat nicht einmal ein system.
ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich −
sie schlägt einem sofort in die fresse.
Zu einem vielschillernden poetischen Symbol wird für Valžyna Mort das Akkordeon, das sie bei ihren Lesungen gelegentlich auch spielt. In ihrem extrem verdichteten, faszinierenden Nachwort zu ihren Gedichten umkreist sie dieses Instrument als Inbegriff des Lyrischen. Die weißrussische Sprache wirkt nicht in erster Linie als Sprache, sondern sie besetzt den Platz der Musik. Sie weiß „einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus, was ich suche“. Der Blasebalg vermittelt zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, er vermittelt zwischen Sprache und Körper. Der Blasebalg kennt alle Gefühlswelten, zwischen Gewalt und Zärtlichkeit. Valžyna Mort bespielt genau diesen geheimnisvollen Zwischenraum zwischen Sprache und Körper, sie nähert ihre Lyrik dem Ideal an – der Musik.
− Poesie und Hass aus Weißrussland: Valžyna Morts „Tränenfabrik. –
Die Tränen bilden nur den Auftakt. Da Valžyna Mort aus Weißrussland stammt, muss man das Titelwort ihres Gedichtbandes Tränenfabrik auf „Fabrik“ betonen. Es geht um Nachtschichten, „nacht für nacht“, um „neue rekorde der produktion“ und die „fotos der jahresbestarbeiter“. Die Tränenfabrik bringt das sowjetische Lebensgefühl auf den Punkt. Mit dem landläufigen Weinen hat das nichts zu tun, es drängt sich keine Gefühligkeit vor. Die Tränen, die hier in einem maschinengestählten Rhythmus beschworen werden, sind hart erarbeitet worden, und sie hinterlassen Spuren.
In den letzten Jahren hörte man häufiger die These, die jungen Schriftsteller in Osteuropa seien eher als diejenigen im Westen mit den alten literarischen Fragen beschäftigt, zum Beispiel mit dem Gegensatz von Ich und Welt. Die 1981 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk geborene Valžyna Mort geht über das gern „postmodern“ genannte Spiel mit dem Sprachmaterial tatsächlich weit hinaus, ihre Musikalität trägt verwirrend anachronistische Züge – sie ist am ehesten von den zeitlos schrägen Tönen des Akkordeons geprägt, von Schrammelmusik mit Punk- und Kalinka-Elementen. Die Gegensätze von Pathos und Ironie, ideologisch aufgerüstete Formeln für die Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West, werden in ihren Texten aufgehoben, sie können nicht mehr isoliert werden. Zwischen den verrottenden Fabrikgeländen von Minsk und seinen grauen und verstopften Durchgangsstraßen hat ein Umbruch stattgefunden, der ständig neue überraschende Bilder und Rhythmen, Breaks und Brüche produziert.
„Die weißrussische Sprache“ – diesen Titel tragen gleich zwei Gedichte, es sind zwei Variationen zum selben Thema. Valžyna Mort hat die weißrussische Sprache erst relativ spät gelernt, ihre Muttersprache war zwangsläufig Russisch. In der Zeit der Sowjetunion, in der die russische Sprache hegemonial war, wurde das Weißrussische nicht sonderlich ernst genommen, auch in der Hauptstadt bildete es keineswegs die Schrift- und Kultursprache. Vor allem mündlich überliefert, als Sprache des niederen Volkes, diente es erst nach dem Ende der Sowjetunion als Beglaubigung eines neuen, eigenen Staates. In diese Zeit ist Valžyna Mort hineingewachsen, und deswegen ist das Weißrussische für sie ein widersprüchliches Konstrukt aus Emanzipation und Einschränkung:
wir wurden groß in einem lande wo
man erst die türen mit kreide markiert
und nachts dann zwei, drei wagen vorfahren
und uns holen aber
in diesen wagen saßen keine männer
mit mgs
und nicht der gevatter tod
aber die liebe kam so zu uns
uns zu holen.
Aufflüge ins Ungewisse
Weißrussland gilt heute als der letzte offen totalitäre Staat in Europa, Valžyna Mort lebt zur Zeit in Washington D.C. In dem vermutlich sehr frühen Prosagedicht „Prolls“ (für „Proletarier“), das längst nicht so virtuos durchgearbeitet ist wie die meisten Texte des Bandes, wird der Hass beredt, der einen Hauptquell dieses Schreibens ausmacht – ein Hass, der weniger politisch als existentiell ist. In ihrer Lyrik sucht Valžyna Mort jedoch immer zwingender nach einer Verbindung der harten, realistischen Töne einer Art brut mit abhebenden, sehnsüchtigen Metaphern. Diese Aufflüge ins Ungewisse haben eine erkennbar weibliche Perspektive, und manchmal erscheint diese Dichterin fast wie eine östliche zeitgenössische Wiedergängerin der frühen Ingeborg Bachmann, so, wenn sie einmal das Erlebnis der Oper mit einem Fischmarkt vergleicht:
opera – du verwundetes dunkel
am leib des saales…
Die Töne von Valžyna Mort sind allerdings meist viel schroffer. In einem der Gedichte setzt sie den Dichter mit einem Hundezüchter gleich (mit dem Gleichklang zwischen „Dichter“ und „Züchter“ gelingt der Übersetzerin Katharina Narbutovič auch hier eine kongeniale Wendung), „immer denselben befehl wiederholend / als suchten sie einen rhythmus für ihn“. Der Erfahrungshintergrund aus den Sowjetwelten lässt Konkretes und Abstraktes, Dichtung und Hundedressur, in einem charakteristischen Bild zusammenfließen:
in der einen hand hält er die leine
in der anderen die tüte für exkremente
Valžyna Morts Auftritte sind Performances, bei denen die Artikulation, die Rhythmisierung, die Musik der Gedichte die Hauptrolle spielen. Das Weißrussische wird zum Symptom einer globalisierten Einsamkeit:
diese sprache existiert nicht,
sie hat nicht einmal ein system.
ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich –
sie schlägt einem sofort in die fresse
Zu einem vielschillernden Symbol wird das Akkordeon, das die Dichterin auch auf der Bühne spielt. In ihrem Nachwort umkreist sie dieses Instrument als Inbegriff des Lyrischen: es weiß „einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus, was ich suche“. Das Akkordeon, so heißt es im Gedicht „Die weißrussische Sprache II“, „frisst aus der Hand, es leckt und wie ein Kind / geht es mir nicht vom schoß, / doch wenn nötig zeigt es sein tralala!“ Der Blasebalg des Akkordeons vermittelt zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, er kennt alle Gefühlswelten zwischen Gewalt und Zartheit. Valžyna Mort bespielt den geheimnisvollen Zwischenraum zwischen Sprache und Körper. Sie nähert ihre Lyrik auf eine bisher so noch nicht gehörte Weise dem alten Ideal an, der Musik.
Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 9.7.2009
Gleich Uljana Wolf wird die 1981 geborene Valžyna Mort als „Ausnahmetalent“ bezeichnet, ein merkwürdiger Begriff. Wären sie nicht die Ausnahme, blieben sie als Mittelmaß uninteressant. Beide sind junge Dichterinnen, die mit einem Paukenschlag die literarische Bühne betreten, sofort Preise erringen und mit ihren Büchern auf Tournee gehen. Im vergangenen Jahr bekam die Weißrussin den Hubert-Burda-Preis für junge osteuropäische Lyrik. Mort, die auch aus dem Englischen und Polnischen übersetzt, tritt nicht nur in Leipzig, Göttingen und Berlin auf; auch im Bowery Poetry Club in New York machte sie Furore. Heute lebt sie in Washington D.C. und hält Poetikvorlesungen an der Universität Baltimore. Geboren ist sie in Minsk. Ihre Muttersprache wurde zwangsläufig zu Sowjetzeiten Russisch. Ihre Gedichte aber schrieb sie von Anfang an in Weißrussisch, der durch mündliche Überlieferungen lebendig erhaltenen Sprache des Volkes. In ihrem Nachwort spricht Valžyna Mort von der größeren Weichheit des Weißrussischen, von den Lauten, die sich zu Wortakkorden formen. Nein, keine Schrammelmusik mit Kalinka-Klängen. Sie spielt ihr Wort-Akkordeon mit angriffslustiger Direktheit. Die fließenden Übergänge der Sprachmusik werden jäh durch drastische umgangssprachliche Elemente zum Stolpern gebracht. Das klingt – auch in der sensiblen Übersetzung von Katharina Narbutovič – melodiös und ist doch im Subtext wutentbrannt schroff. Weniger das Politische als das Existenzielle steht im Mittelpunkt, wenn Mort zärtlich und schonungslos genau über die Großmutter schreibt oder über vergessene Bücher. Fantasievoll heiter betrachtet sie New York und Floridas Strände. Sie ist eine Worterfinderin. In ihren vieldeutigen Metaphern agieren „schwingende Schneiden“.
In den Gedichten von Valžyna Mort sind animistische Vorgänge zu beobachten. Ob Wüsten, Meere, Himmelskörper oder tote Gegenstände – was diese 1981 in Minsk geborene Lyrikerin mit ihrer Sprache berührt, wird lebendig. Bei ihr wohnt das Mana im Instrument:
Akkordeon, arroganter Vogel
pickt in die Hände mir
anstatt zu essen aus ihnen.
Ein riesiger Falter, dessen Flügel die Augen blenden
und den ich fangen muss nach Gehör.
Akkordeon, das sich wie eine Metapher öffnet.
Akkordeon, das mir den Rücken zukehrt.
Eine Auswahl ihrer besten Gedichte liegt, aus dem Weißrussischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen, nun erstmals auf Deutsch vor. Darin besticht der oft abrupte Wechsel zwischen hypnotisierender Zärtlichkeit und alarmierender Lautstärke. Hungrig greift Mort in die Wirklichkeit, breitet mit großem Gespür für die Ambivalenzen des sexuellen Begehrens die Fragmente einer Sprache der Liebe aus. Jean-Paul Belmondo hat ein Steingesicht, „auf dem wie zwei Robben die lippen liegen / im küstennebel aus zigarettenrauch“. Die Lust „kommt wie ein Bus zur Haltestelle, wartet eine Minute und macht einem vor der Nase die Tür zu“. Schmerz ist „ein Gott, der küsst und piekt mit seiner unrasierten Wange“. Ob es ums Erwachsenwerden, um Einsamkeit, Familie oder Städte geht – die Motive von Valzhyna Mort, die ihre Gedichte oft in Nordamerika verortet, sind universell. Und doch kommt dieses Ausnahmetalent, das in Amerika lebt, immer wieder auf das verschlossene Heimatland zurück:
deine sprache ist so klein,
dass sie noch kein gespräch führen kann.
und du, belarus, in hysterie,
dir scheint stets,
dass die hebammen die wickel verwechselt haben.
− Valžyna Morts Gedichtband Tränenfabrik: Eine eindringliche Stimme aus einem unbekannten Land. −
Wenige Stimmen aus Belarus, dem Land zwischen der Grenze der Europäischen Union und Russland, dringen bis zu uns vor. Eine davon ist Valžyna Mort, deren Gedichtband Tränenfabrik nun in deutscher Übersetzung von Katharina Narbutovič vorliegt. Erstmals veröffentlicht wurden die Gedichte in dieser Zusammenstellung unter dem Titel factory of tears in den USA, dem derzeitigen Wohnort der 1981 in Minsk geborenen Lyrikerin.
Es ist eine starke und eigene Stimme, die auf der Suche nach dem Ausdruck des Lebensgefühls ihrer Generation zu einem Meer von Stimmen anschwillt. Zu hören ist das kollektive ‚Wir‘ einer Generation, die noch in die Sowjetära hineingeboren wurde und ihre Jugend in den 1990er-Jahren zubrachte, zur Zeit der Perestrojka und der Unabhängigkeit Weissrusslands, in einer Zeit der Identitätssuche:
welche schmerzen, unter denen unsre jugend uns setzt in die welt
welche schreie, mit denen wir uns aufrichten aus der stellung des
fragezeichens
in die stellung des ausrufezeichens
die linke lippe polen und die rechte russland öffnen sich
und zum vorschein kommen unsere köpfe aus…
doch woraus?
Doch das kollektive „Wir“ weicht bald einem „Ich“ auf der Suche nach dem ganz persönlichen Augenblick des Glücks im Gedicht „Berlin – Minsk“:
wir fahren durch warschau.
sommer. abend.
das herz verwandelte sich
in wind
und weht.
zehn minuten auf dem bahnhof.
abend. sommer.
das herz dreht sich
wie ein planet
in meinem innern. […]
Identität verbindet Valžyna Mort eng mit Sprache, weshalb die Suche nach den Worten nicht nur eine Metapher fürs Schreiben ist; sie musste zuerst ihre Sprache finden. „Eine Sprache, die der Musik hinterherläuft“, sei das Weissrussische, schreibt sie im Nachwort zur deutschen Ausgabe, bei der sich „die Laute zu Wortakkorden“ fügen. Die Muttersprache der Lyrikerin ist Russisch, wie bei den meisten Menschen in dem von sowjetischer Vergangenheit geprägten Land. In Belarus wird die zweite Landessprache, das Weissrussische, erst in der Schule erlernt und nicht zuletzt wegen der auf Sowjetnostalgie basierenden Politik des repressiven Regimes ist sie zur Sprache einer intellektuellen Opposition geworden. Diese politisch-rebellische Funktion der weissrussischen Sprache spannt den Bogen über den Gedichtband, der jeweils von einem Gedicht eröffnet und beschlossen wird, dessen Gegenstand die weissrussische Sprache selbst ist.
Weissrussisch sei zwar nicht ihre Muttersprache, aber ihre „Blutsprache“, meint Mort in einem Interview. Sie habe die Wörter zuerst nur aufgrund des Klanges in ihre Gedichte eingewebt, noch bevor sie deren Bedeutung verstand. Ihre Lyrik besticht durch diesen spürbar sinnlich musikalischen aber auch spielerischen Umgang mit den Worten. Über das Heimweh schreibt sie: „und schon von diesem geschmack nur / läuft dir das wasser im auge zusammen“. In der Mitte des Gedichtbandes stehen zwei Prosatexte, die den Fluss des Gedichtbands fortführen. In Rhythmus und Melodie, aber auch in der Dichte der Sprache stehen sie den Gedichten, die manchmal beinahe in Prosa übergehen und deren Verse sich fast nie reimen, in nichts nach.
Bisweilen mischen sich Zorn, Ohnmacht und Schrecken in den Ton:
das lockenwicklereinzugsprinzip
war die basis des nationalen mähdrescherbaus −
und meine erste metapher
die ich wutentbrannt wiederkäute
als hätte ich einen schwanensee verschluckt
Valžyna Mort scheut den Bruch von in Belarus geltenden Tabus nicht und benutzt Bilder, die sich nicht in den offiziellen Kanon der meist folkloristischen weissrussischen Lyrik einreihen lassen. 2001 hat sie sich mit anderen postsowjetischen Schriftstellern in Minsk zur radikalen Künstlergruppe Schmerzwerk zusammengeschlossen, die sich – wie im Namen angedeutet – den Schmerz zum Programm gemacht hat. In ihrem Manifest Recycling des Schmerzes kann man lesen:
Wir schliessen uns Čechovs Meinung an, dass die bürgerliche Pflicht des Schriftstellers darin bestehe, nicht Arzt, sondern Schmerz der Gesellschaft zu sein. Gerade deshalb gibt es in unseren Texten so viele hässliche, giftige, höhnische Bilder. Wir schmeicheln den Lesern und den Gönnern nicht, wir fordern sie, im Unterschied zum Reklameslogan der Firma Philips, nicht auf, das Leben zum Besseren hin zu verändern; wir sagen einfach das, was wir denken, wir „kneten zu Worten jenes ungehorsame Plastilin, das im Kopf erstarrt“.
Der Schmerz zieht sich wie ein roter Faden in pathetischer Leidenschaft und oft drastischen Bildern durch den Gedichtband: „und die hände ertasten / einen körper, der erblüht in lindgrünem schmerz.“ Im Gedicht „Utopia“ heisst es:
könnte man das herz herausreissen wie einen zahn
und die erinnerung erschlagen
liesse sich unter der gelben limonadenfahne
sehr glücklich leben
Doch das rebellische Image allein wird der jungen Autorin aus Europas ‚unbekannter Mitte‘ nicht gerecht. Vor allem wenn es um die Liebe geht, kippt die Sprache oft in leisere Töne und bezaubert durch zärtliche Metaphern, wie in folgendem kurzen Gedicht:
dein körper ist so weiss
dass ich liege auf ihm wie schnee
jede nacht ist bei uns – winter
Oder in Versen aus einem anderen Gedichts:
und es ist unmöglich mit diesem mann einzuschlafen
mit ihm wird der körper nachts
heuschreckenmusik
Valžyna Mort findet in den Gedichten eine aufrüttelnde und bisweilen rücksichtslose Sprache, die bizarre Bilder erzeugt und durch plötzliche Tonwechsel hinüber in leise und zärtliche Lagen überrascht. Schade, dass in der Ausgabe von Suhrkamp das Belarussische (eine Sparmassnahme?) auf der Strecke geblieben ist: Nur die ersten beiden Gedichte wurden zweisprachig abgedruckt. Ein Glück, dass die Übersetzungen sich auch unabhängig von den Originalen wunderbar lesen. Sie bleiben sehr nah am Wort und am Inhalt, wobei der Klang der Worte nicht im Einzelnen transportiert werden kann, aber doch ein gewisser Fluss und Rhythmus gewahrt wird. Gut, dass klang- und sprachinteressierte Leser im Internet fast alle Gedichte aus Tränenfabrik auf Weissrussisch finden können, teilweise mit Hörfassung – was sich alleine aufgrund des Klangerlebnisses lohnt. Wie Valžyna Mort im Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt, ist „die Musik der weissrussischen Sprache […] für diese Worte nicht nur einfach ein verbales Gewand, sondern ihr eigentlicher Sinn.“
− Valžyna Mort verzaubert mit ihrem Gedichtband Tränenfabrik. −
Sie ist erst achtundzwanzig, verfügt über eine breite lyrische Palette und über einen Tonfall, der sich sofort einprägt: Valžyna Mort, die zierliche Dichterin aus Minsk, die es vor Jahren nach Washington D.C. verschlagen hat. Wie in Weissrussland üblich, wuchs sie vor allem russischsprachig auf, doch schon ihre ersten Gedichte schrieb sie auf Belarussisch, dessen melodiöse Weichheit ihrer Musikalität – sie wollte ursprünglich Opernsängerin werden – entgegenkam.
Zugleich entdeckte Valžyna Mort in dieser vom Regime unterdrückten Volkssprache das adäquate Ausdrucksmittel für Zärtlichkeit, Trauer, Wut und Protest. Auf Belarussisch besang sie die geliebte Grossmutter („grossmamas arme – zwei storchenbeine / zwei rote stöckchen / und ich hocke mich hin / und heule wie ein wolf“) und die hellen Klaräpfel („wir lasen euch auf / wie muscheln in grünen ozeangärten“), schrieb über sterbende Bücher, havarierte Lieben, polnische Immigranten und die schmerzlichen Häutungen des Körpers, auf Belarussisch schreibt sie über New York, Floridas Strände und Jean-Paul Belmondo, auch wenn das Englische ihr allmählich ans Herz wächst.
Tränenfabrik heisst der deutsche Auswahlband in Katharina Narbutovičs sensibler Übertragung, und er ist eine Entdeckung der besonderen Art. Denn Morts Gedichte enthalten ganze Welten: west-östliche Landschaften und Befindlichkeiten, Alltags- und Märchenszenarien, visionäre Utopien und lakonische Einsichten, berückende Erinnerungsbilder und abgründige Todesmetaphern. Nicht nur die Vielfalt der Motive überrascht, sondern auch die der Register: zwischen heiter und melancholisch, zwischen verträumt und schonungslos direkt. Mit stupender Wandlungsfähigkeit spricht bald ein Kind, bald eine alterslose, der vergangenen Jugend nachtrauernde Frau, bald ein zartes Flügelwesen, bald eine scharfzüngige Beobachterin.
Valžyna Morts Gedichte gehen unter die Haut, ja sie tun weh. Wie diese Zeilen aus dem Titelgedicht Tränenfabrik:
Und wieder liegt in der jahres-
bilanz die tränenfabrik
vornan.
während mein verkehrsamt sich noch die hacken ablief
und das amt für herzensangelegenheiten
noch hysterische attacken ritt,
fuhr die tränenfabrik nacht für nacht schicht,
brachte selbst an sonntagen neue rekorde der produktion.
(…) ich bin arbeitsinvalide meiner heldentränenfabrik,
habe schwielen auf den augen,
dazu noch den jochbeinbruch
bezahlt werde ich nach der leistung
und bin zufrieden mit dem, was ich habe.
Realsozialistisches Vokabular trifft hier auf politisch oder privat verursachten Schmerz, und der Sarkasmus ist unüberhörbar. Er ist es auch im Gedicht „in fragezeichenposition“, wo das diktaturgeschädigte Ich „sechzehn namen für die finsternis“ sucht und bekennt:
das lockenwicklereinzugsprinzip
war die basis des nationalen mähdrescherbaus –
und meine erste metapher
die ich wutentbrannt wiederkäute
als hätte ich einen schwanensee verschluckt.
Unschuldsgeraune und Sentimentalität gibt es bei Valžyna Mort nicht. Doch eine faszinierende Palette von Bittersüssem und Helldunklem. Ob es um die Schwierigkeiten der Ehe geht („und deine kolumbussin hier / die die fleischroten augen weit aufreisst /sieht nicht weiter als bis / zum bug ihrer barke / wer sticht in see nun, dich zu entdecken“), um die Oper Carmen oder die Leiden der weissrussischen Sprache. Mort hält sich, vital und erfinderisch, an die Metapher. Und manchmal zaubert sie mit einer Souplesse, die Heiterkeit, Charme, ja Übermut verrät. So in dem vor Sinnlichkeit sprühenden Belmondo-Gedicht, das einen Flirt mit dem Filmschauspieler und seiner Stadt Paris imaginiert:
alles fängt an mit Ihrem steingesicht
auf dem wie zwei robben die lippen liegen
im küstennebel aus zigarettenrauch
laufen Sie durch die strassen
sie aufzuzählen hiesse –
den wellen des meeres namen zu geben
(…) Ihre brustblessur färbt sich rabenschwarz.
ich sage Sie sind meine jugend (so ist es vereinbart).
der apfel, der mich isst, um nichts zu wissen…
Bilder, Bilder und Sätze, die sich eingravieren. Einige stehen auch in den Prosaminiaturen, die Valžyna Mort unter die Gedichte gestreut hat. Es sind starke, rhythmische Sätze „mit der schwingenden schneide / ihrer rocksäume, befleckt von päonien“. Man darf sie für ebenso wahr wie wundersam halten.
− Das macht Valžyna Mort, eine junge Sappho aus Weissrussland mit Wohnsitz in Washington D.C. –
Also, das hier muss ich ganz schnell schreiben, sonst wird das nie was. Nur kurz die Worte auf die LKW-Waage legen und ab damit.
Valžyna Mort hat Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und das Gedicht darüber geht so:
DAS ANDENKEN IM GESICHT
damit ich sie nie vergesse
hat die mama
mir ein gesicht
an den körper geknotet
Sie ist mit Büchern aufgewachsen:
Ich stecke die Finger in die Buchrücken, ziehe sie zu mir und zum Vorschein kommt die zweite Buchreihe. Noch ein Bücherschrank steht im Schlafzimmer der Eltern, weitere sechs Bücherregale hängen im Flur an der Wand. Ungefähr einmal im Monat kracht das unterste Regal aufgrund des Gewichts der Dumasschen Romane mit einem Heidenlärm herunter, und dann kommt Mama wie eine durchgedrehte Fliege aus dem Schlafzimmer und schreit, dass man unmöglich so leben kann…
Irgendwo schreibt sie:
Die Haut klebt am Körper wie nasse Wäsche.
Die Temperatur ist höher als ein Monatsgehalt
Na und jetzt: Leute, mal herhören! Neues über Tränen. Glaubt man denn im Ernst das gibt es noch??? In einem kleinen Prosa-Stück über ihre Großmama schreibt Valžyna Mort:
… Die Tränen auf meinem Gesicht kommen so unerwartet, wie ein Eroberungsheer, wie eine Spezialtruppe tauchen sie auf meinem Gesicht auf. Diese Tränen in Tarnuniform, ganz durchsichtig in der Luft, sie nehmen die Farbe der Wangen an und von allem worauf sie tropfen…
Ein sehr schönes Gedicht, eher eine Anbetung auf Jean Paul Belmondo steht auch drin:
alles fängt an mit Ihrem steingesicht
auf dem wie zwei robben die lippen liegen
im küstennebel aus zigarettenrauch…
… alles nimmt seinen fortgang mit meinem
vom kleid in streifen gerissenen leib…
und ich zeige Ihnen wo Sie parken können…
… Ihre hände wissen, wo beim wagen die taille sitzt.
Es geht über zwei Seiten ganz wunderbar weiter, ein neues Wort habe ich auch gelernt, ich sage nicht wofür, es heisst „Knipsbörse“.
Belmondo hat einmal auf die Frage wie eine Frau für ihn sein müsse geantwortet:
„Sie muss mich mögen“.
Ich fand immer, das sei so ungefähr, oder ganz genau die beste Antwort auf diese Frage.
Für Valžyna Mort trifft das jedenfalls zu.
Ich habe das Büchlein gerade noch einmal durchgeblättert, und ich muss sagen:
Das Schönste habe ich wiedermal weggelassen. Wirklich wahr!
(Das „h“ im Vornamen der Autorin meine ich nicht, das steht so da auf dem Titel meiner Ausgabe, ganz h-los)
„mit unserem ganzen körper stellen wir uns in frage“. Die Gedichte von Valžyna Mort betrachten den Körper nicht nur als einen unter anderen Gegenständen. Vielmehr wird der Körper hier aus der befremdenden und beengenden „bürokratie des körpers“, wo – so beispielhaft im Gedicht „Fragezeichenposition“ –, ein Körpersinn nach dem anderen, einschließlich des Denk-Sinns, seine Aufgabe träge an den nächsten abgeben will, zu seiner ganzen ur-kreatürlichen und viszeralen Vielförmigkeit befreit.
Schmerzgekrümmt, tierhaft Blut und Speichel leckend oder ausströmend, aber auch märchenhaft lustverspielt und zarthäutig oder federleicht sphärische Formen annehmend, erscheint der Körper als eine Art ur-materielles Pneuma, als eine allgegenwärtige, sich in alles einverwandelnde, alles sich anverwandelnde, formgebende Kraft.
Wie in dem kraftvoll sich dehnenden „Balgzug“ des Akkordeons, das sich – so im Nachwort zu lesen – in die Kindheit von Valžyna Mort eher zwanghaft eingeprägt hat, als „Monster“, als „fremder Körper“; wie dieser „Pfau der Musikinstrumente“, der ein „Rad mit seinem Balg schlägt“, so dehnt sich in diesen Versen auch der Körper in seiner viszeralen Kreatürlichkeit, mal ins Kosmische, mal zu einer Steinlandschaft aus, mal ballt er sich zu Blut und Zahn zusammen und mal (ein Mal), in einem, der geliebten Großmutter gewidmeten Gedicht, erscheint er als eine „Rebe“ – wie in einer kreatürlich-erotisch bestimmten analogia entis.
Ein anderes Wort für dieses kreatürliche Kraftprinzip ist die „Musik“, das Musikalische der fließenden Übergänge zwischen den (Wort-)Akkorden, das Valžyna Mort in ihrem Nachwort „Eine Sprache, die der Musik hinterherläuft“ als das bestimmende Merkmal der weißrussischen Sprache hervorhebt:
Die Musik der weißrussischen Sprache ist für diese Worte nicht einfach nur ein verbales Gewand, sondern eigentlicher Sinn.
In Analogie dazu läßt sich auch vom Körper in diesen Gedichten sagen, daß er der eigentliche Sinn ihrer Sprache ist.
Auf diese Weise wird der Körper als kreatürliche Kraft zugleich zu einem unmittelbar entdeckerischen Agenten, zum Agens der Sprache selbst, zum „fragezeichen in der korporation der sprache“.
Hier spricht die Stimme einer „kolumbussin [hier] / die die fleischroten augen weit aufreißt“, um „mit den Zähnen den Kern zu suchen, in allem“. Mit kreatürlicher Dringlichkeit schärfen diese Gedichte immer aufs neue ihre Sprachzähne, rebellieren gegen die eigene, gleichzeitige Stumpfheit angesichts eines dürftigen Allgemeinzustands:
warum nur sind unsre zähne stumpf nun wie watte
In einer Art märchenhaft spielerischem Exorzismus verwandelt Valžyna Mort ihr wutentbranntes Befremden über den Stand der Dinge in Bilder von einer verblüffenden Fremdheit und zugleich befremdenden Schönheit. Es sind Bilder, die es dann immer wieder auch ermöglichen, daß „wir uns aufrichten aus der stellung des fragezeichens / in die stellung des ausrufezeichens“.
Wie setzt Valžyna Mort dieses Aufrichten ins Werk?
Erkennbar sind häufig naturalistisch oder auch surreal anmutende Bildzüge, die nach freier Märchen-Art eine ganz eigentümliche, kreatürlich gespannte wie zugleich offen luftige Bildlichkeit erzeugen; so etwa im Gedicht „Die Schneekönigin“:
das ergraute firmament blutet
dünnstrahlige vogelschwärme aus […]
mein körper ist die feder eines vogels nicht von hier
die nur schreiben kann auf einem anderen leib
bevor die stadt dann vollgeschrieben ist mit ihren ziegelzeilen
krönt sie meinen mund mit eines anderer: mund und
ich bin der hofdichter
da mag die sintflut
meine verse holen
Was auch in so manch anderem Gedicht der Tränenfabrik an plakativ naturalistische Schreibweisen erinnnert, ist – wie etwa von Emile Zola programmatisch festgehalten – die fast schon mechanische Abhängigkeit der Figuren von überpersönlichen physiologischen Gesetzen, von ihren Nerven, ihrem Blut, der Fatalität ihres Fleisches:
J’ai choisi des personnages souverainement dominés par leurs nerfs e leur sang, dépourvus de libre arbitre, entraînés à chaque acte de leur vie par les fatalités de leur chair. […] L ’âme est parfaitement absente.
Auch bei Valžyna Mort ist die „âme“, die Seele, auf erfrischende Weise abwesend, zumindest als Ort des leidigen und allzu oft abgeleierten, psychologischen Einmaleins sogenannter innerer Befindlichkeiten. Nirgends das Wort „Gefühl“ oder andere gängige Gefühls-Vokabeln. Was nicht heißt, daß man nicht über die sinnlich prägnanten Bilder in den Gedichten auch auf innere Regungen, Empfindungen, zurückschließen könnte.
Das äußere Zeichen dafür ist wiederholt das Wort „Herz“, das nun allerdings für einen ganz unbestimmen Körperraum von Empfindungen steht, der sich nicht durch spekulative Selbstbetrachtung erschließt, sondern unmittelbar sich selbst als tätige, körperhafte Erscheinung zeigt. Also nicht im romantischen Sinn eines fühlenden Herzens oder im Sinne von Goethes Werther als eine Quelle von Seligkeiten oder Entzückungen. Während Werther sein Herz etwa noch an der äußeren Natur erwärmen konnte – „Das volle warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur“ – wird bei Valžyna Mort das Herz selbst zur äußeren Natur. In einem Gedicht zur Großmutter wird das Herz so beispielsweise als eine Art Gegenbild zum Schmerz der Großmutter zu einer zarten Rose:
ihr herz ist eine zarte rose geworden –
zu spüren nur fest an sie geschmiegt und dann auch kaum
zu mehr taugt es nicht
nur noch zur blume
Doch selten geht es derart zart zu in diesen Gedichten. Meist überwiegt das Ungestüme. Mal erscheint das Herz als rabiate Naturgewalt – „wird man uns untreu / gehen wir ins wasser hinein / und schauen wie unser herz / das meer zu schaum schlägt / und die wogen zurückwirft“ –; was weit wörtlicher zu nehmen ist, denn etwa als eine bloße, symbolische Steigerungsform eines sogenannten verletzten Herzens. Wenig später heißt es von denselben Männern wie in der Art eines surreal-kannibalischen Liebesakts – als gleichsam physiologisch radikalisierte Verfremdung von Werthers „Herz als Wonnequell“:
dann aber pressen sie sich mit den trockenen lippen
an unsere münder vor durst
und ziehen aus ihnen unsere herzen heraus
wie schwere eimer mit kaltem wasser
aus brunnen
Geradezu lebensnotwendig erscheint dieses unmittelbare Andocken von Lippen und Herz – es bedarf keiner vermittelnden Worte zwischen den hier Agierenden – im Gedicht „Opera“:
statt creolen trägt deine carmen schellentrommeln im ohr
wie ein waldhorn nährt ihr herz sich von lippen
Dieses Herz – so könnte man weiter phantasieren – dieser ur-kreatürliche Liebes- oder Lebens-Balg, braucht „wie ein Waldhorn“ die Lippen, um tönen zu können.
Gemeinsam ist derartigen Stellen, daß menschliche Regungen, ob Schmerz, Angst, zarte Zuneigung oder lustvolles Verlangen mit der Unmittelbarkeit eines wundersam körperhaften Naturereignisses auftreten. Exemplarisch plakativ geschieht das im Gedicht „Utopia“:
gegen abend wallt unser blut auf
und ergieß sich durch nase und mund
auf die weißen steine der see
sie in rote äpfel verwandelnd
und die äpfel reichen wir unseren liebsten
und sie beißen sich an ihnen die zähne aus
weil wir weder gut noch böse kennen
läßt sich mit unsren worten bisweilen das fleisch zertrennen
Jenseits von Gut und Böse wird hier nebenbei zugleich die sinnenfeindliche Legende vom Apfel der Begierde, der Versuchung, in einer ganz anderen Transsubstantiation in das neu-mythische Bild einer steinerweichend vehementen Erregung verwandelt. Auf herkömmliche Erlösungen derartiger Erregungen wartet man – zum Glück – vergeblich in Morts Gedichten. Aber es gibt Lösungen und Auflösungen. Sei es, wie bei der zitierten Liebesszene, daß die Inbrunst sich an ihrer eigenen Besessenheit auflöst, sich die Zähne sisyphushaft wie an einem Beißring ausbeißt; oder – wie es beispielhaft das Ende des langen, neu-epischen, mythisch-surrealen „Utopia“-Gedichts zeigt –, die prägnante Turbulenz eines utopischen Dämmer-Traums, in dem sich kindlich-anarchische Bilder unter dem Kindheitsbanner der „gelben Limonadenfahne“ mit eher rabiat surreal-gewalttätigen Bildern paaren, läuft sanft-schwermütig aus in ein Bild konzentrierten Innehaltens:
wenn es dämmert
halten wir uns die muscheln ans ohr
und hören
mit angehaltenem atem
wie malvina mit kahlgeschorenem kopf
weinend im dunkeln
ihre blauen locken aufsammelt
Worauf sich diese stille Aufmerksamkeit richtet, ist nicht etwa die ernüchternde Bilanz eines sogenannten beschädigten Lebens, sondern vielmehr die offene Lehre des Märchens (hier wohl eine Anspielung auf die „Abenteuer Burattinos“ von Tolstoi). Gerade an derartigen Versen zeigt sich, wie die Gedichte nicht nur wild, sondern auch wie feinsinnig und feinsinnend sie durchkomponiert sind. In aller Einfachheit und ruhig gespannter Gedrängtheit zeigt sich das besonders klar im Gedicht „Berlin-Minsk“. Wie ein extraktartiges Echo auf den Anfang des „Utopia“-Gedichts – „nach sonnenuntergang / leerte sich unsere stadt wie ein bahnhof / in dessen fahrplan / nichts steht / außer sonne und mond“ – so setzt auch „Berlin-Minsk“ lapidar mit der ruhigen Szene einer Abend-Dämmerung ein:
wir fahren durch warschau.
sommer. abend.
Der Fortgang des Gedichts – „das herz verwandelte sich / in wind / und weht“ – zeigt dann allerdings, daß hier keine Abendstimmung evoziert wird, die gewisse Empfindungen beim lyrischen Ich bewirkte. Denn mehr als eine irgendgeartete Stimmung wird hier ein eher kreatürlich-sphärisches Gestimmtsein evoziert, gleich dem Gestimmtsein eines Instruments. Die lyrische Sprache Valžyna Morts selbst trägt dieses Gestimmtsein.
Zusammen mit den beiden restlichen Strophen des Gedichts erscheint das Gedicht schließlich wie die wörtliche Ausformung einer kreatürlichen Sphärenmusik:
zehn minuten auf dem bahnhof.
abend. sommer.
das herz dreht sich
wie ein planet
in meinem innern.
und kein kloß in der kehle,
so daß man kein wort herausbringt.
das ist so eigenartig,
das ist so geradezu,
das herz dringt durch den mund
und spannt die sehkraft an.
Als Sphärenmusik wird gemeinhin ein nach der Lehre von Pythagoras durch die Bewegung der Planeten entstehendes kosmisches, für den Menschen nicht hörbares, harmonisches Tönen bezeichnet. Valžyna Mort macht in den Kompositionen ihrer Gedicht-Planeten den Zusammenklang – der nicht immer harmonisch sein muß – von kreatürlicher Körper-Empfindung und Natur, Welt, hörbar, spürbar. Es sind Verse, die für eine freie Kehle sorgen und wo es keiner weiteren Worte bedarf, um – wie hier durch das Herz – unmittelbar das körperliche Gestimmtsein weniger sprechen, als die Sinne schärfen zu lassen.
Helmut Moysich, manuskripte, Heft 185, Oktober 2009
Frank Milautzcki: Manchmal wie Grau, das sich rückzerlegt in seine Farben
fixpoetry.com, 24.7.2009
Erika Achermann: Tränenfabrik
St Galler Tagblatt, 21.9.2009
Uljana Wolf: Poesiegespräch mit Valzhyna Mort – Der singende Knochen
Valžyna Mort liest in Broklyn am 29.8.2008.
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