Wilhelm Bartsch: Poesiealbum 208

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wilhelm Bartsch: Poesiealbum 208

Bartsch/Reinel-Poesiealbum 208

Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen
ohne Begriffe sind blind.

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

DER WEISE WELTBÜRGER IMMANUEL KANT

Geht Schlag zehn zu Bett, um seinen
Schwachen Körper zu füttern mit Schlaf (er
Nennt ihn „Erkenntnisbehausung“), und er weiß, der
Mensch kann fliegen nicht, doch geht er
Schritt um Schritt am Seil, das führt vom
Weltnabel Schreibpult durch dunkle Räume zur
Schlafmaschine, und Kant, die Zipfelmütze
Auf, daß seine transzendentale
Apperzeption nicht die überall lauernde
Krankheit ereile, in Filzschuhn, daß die
Tönernen Füße warm seien, auf denen
der Gigant tappt, aber sicher
Und voran, löscht das Unschlitt-
Licht und stellt es auf den Stuhl im
Schlafgemach, dann findet seine
Linke Hand den Pfosten, wo das
Seil am Ziel, am Bett sich endigt,
Tastet mit der Rechten ohngefähr
Seines Kissens Mittelpunkt,
Das ist das Zeichen, mit der Linken
Sich den Bettuchzipfel zu nehmen
Seiner flachen Decke, welche,
Diagonal zusammengelegt, ein
Gleichschenklichtes Dreieck bildet,
Dessen Hypotenuse Kant stets
Zugewendet ist, so kann er
Nun das rechte Bein aus dem Pantoffel
Heben und es unterm Bettuch
Steif placieren, demzufolg
Linken pedem einholn, und nun,
Jäher Abschluß eines Tags und
Ohne Zeitverlust, die Umblätter-
Hand zur Brust führn, sich bedeckend
Somit und in tiefen Schlaf jetzt
Fallen, der erquicken muß. Wer
diese Welt versucht, braucht Sicherheiten.

 

 

 

Einstand: Wilhelm Bartsch

„Die Welt geht mir nah, die Kunst liegt mir fern“, läßt Wilhelm Bartsch den Helden seines Hrdlička-Gedichts sagen. Sicher weiß der Dichter, der Philosophie studiert hat, daß die Alternative nicht stimmt; er kennt sich recht gut in Perioden unserer Kunst- und Literaturgeschichte aus, in denen Kunst die Welt oder den Menschen besser machen wollte. Die Formel, die wir hier von Hrdlička hören, ist in der spätbürgerlichen Kunstwelt paradoxer Ausdruck des Willens zur Wirkung.
So verstehe ich auch Bartsch: als einen, der Kunst will, welche der Welt nahegeht. Dies auch im einfachsten Verständnis: Bartsch kennt durchaus die Sehnsucht nach einem Publikum, das dem Dichter die Verse unter der Feder hervorreißt, um sie auf der Straße und bei der Arbeit zu singen; aber er weiß sehr gut, daß seine Gedichte nicht auf eine derartige Situation treffen. Das Gedicht muß in unserem Lande – damit es bei der Suche nach seinem Leser nicht auf der Strecke bleibt – gut und dauerhaft ausgerüstet sein, aus festem Material bestehen und einen langen Atem haben. Unter diesem Aspekt scheint mir das Hrdlička-Gedicht mit seinem aggressiven Griff nach dem Leser, mit seinen wirkungsvollen provokant-paradoxen Fügungen und seinem Hang zur Sentenz aus dem Kontext der kleinen Auswahl herauszufallen, die hier vorgelegt wird. Es könnte die Verbindung zu anderen Gedichten des Autors herstellen, für welche schon als Überschrift denkbar wäre:

Mir fällt was auf.

Dort werden sehr genau Beobachtungen von Verhalten im Alltag – Bartsch arbeitet im Bahnhofsdienst der Post – aufgezeichnet.
In der vorgelegten Auswahl fehlen auch die Gedichte, in denen eigenwillige Porträts eigenartiger Menschen gestaltet werden. An sie erinnert manches in dem Kant-Gedicht. Es ist viel Lustiges in diesem Gedicht, viel an Ironie, und doch ist es weit davon entfernt, ein komisches Heldenbild zu sein. Hier wird mit tiefem Ernst, der im Vordergrund des Textes nicht gleich zu finden ist, über Voraussetzungen für Größe nachgedacht. Indem Bartsch das Alltägliche im Leben des Großen ausbreitet, „vermenschlicht“ er Kant durchaus nicht in jenem schlechten Wortsinne, der stillschweigend „menschlich“ und „groß“ einander entgegensetzt; der Dichter zeigt Wert und Würde des Einfachen. Bartsch hat sich fleißig und eigenwillig durch große Gebiete der Literatur und Kunst hindurchgelesen und -gesehen. Schon aus den wenigen Gedichten, die hier vorliegen, läßt sich eine beachtliche Liste großer Namen herausziehen. Die wesentlichen Orientierungsgestalten für den jungen Dichter scheinen aber Goethe und Kant zu sein, wobei der zentrale Bezug die große schöpferische Gestalt ist. Man mag das anmaßend nennen; mir erscheint ein Anspruch, wie er mit der Proklamierung solcher Leitbilder erhoben wird, als der Ausdruck größten Respekts vor der Kunst und vor dem Leser. Wilhelm Bartsch ist der einzige junge Dichter, von dem ich wiederholt – und ohne eine Spur von Ungeduld oder Bitterkeit vorgetragen – die Äußerung hörte, es habe Zeit mit der Veröffentlichung seiner Gedichte; so könne er nochmals in Ruhe an ihnen arbeiten. Daher denn auch dieses erstaunlich reife und sichere Debüt.
Er hat eine Vorliebe für eigenwillig gewachsene Bäume und für den Stein, der ihm nirgends die tote Materie ist, sondern ein größeres Leben, wie es sich in der Kontinuität offenbart, in die Bartsch die Plastiken Henry Moores stellt, oder wie es der Oybin, dessen Bienenkorb-Form ein Gedicht nachbildet, birgt und geduldig durch die Jahrhunderte trägt.

Rüdiger Ziemann, neue deutsche literatur, Heft 12, Dezember 1980

Die Absage in den achtziger Jahren

1986 bis 1989: Glasnost und Destruktion

(…) Wilhelm Bartsch (*1950) war in den Achtzigern einfach da. Außerhalb jeder staatlichen, verbandlichen oder volkskünstlerischen Förderung legte der 35jährige Rinderzüchter, Diplomphilosoph, Korrektor, Rotationsarbeiter, Rolleur, Heimerzieher, Postarbeiter und Dramaturg seine Gedichte vor. Da war scheinbar ein trocken-sarkastischer Schreiber am Werk, ein Schilderer und Chronist, dessen Poesie und strenger Rhythmus – wie im Falle von „Kastrieren“ – von der Prosa einfach aufgefressen schien:

Erst pack bei den hinteren Läufen den Borschen
Sehr kraftvoll und heb ihn mit Schwung aus der Box,
Wobei du die Sau auch beachtest, damit
Sie zubeißend oder dich quetschend dich nicht
Behindere beim Greifen des männlichen Kindes
Von ungefähr vier Kilo. Nun schwinge
Das kreischende, panikgestärkte Geschöpf
Mit Wucht in die Zwinge der Kniee und presse
Dieselben so fest an den Hals des Objektes,
Bis daß seine hälsernen Adern dich pulsen,
Spreiz aus gleich die hinteren Läufe…
Und drück sie zum Bauche mit würgender Hand,
Und quetsch mit der freien behutsam doch kräftig
Die reifenden Murmeln…
Heraus, und nun mußt du mit winziger Klinge
Und schnell die zwei Schnitte anbringen. Bevor noch
Das Blut dich bespritzt, sieh das gelbe Geschläuch,
Um das es dir geht, denn draus käme die Schöpfung,
Die uneingeplante, die lösche mit Durchschnitt.
Dann stopfe, was noch blutet, hinein in den Leib
Und lockre die Kniee und wirf nun das Schwein… herum…
Jetzt knack mit der Zange zur Prägung als Abschluß
Das Zeitmaß und Wertmal ins schlappende Ohr
Des späteren Läufers, des schmackhaften Mastschweins
1

Das war eine Äsopsche Parabel eines Rinderzüchter-Philosophen-Heimerzieher-Dichters. Der schilderte auf drastische Weise die gewaltsame Abrichtungstortur von Mitläufern zu brauchbaren Domestiken mittels Amputation alles Schöpferischen. M. Jendryschik begutachtete:

Vital-plebejischer Grundgestus, daß die Worte aus den Nähten zu platzen scheinen. Alltag und Atmosphäre, dabei verstechnisch auf den Punkt gebracht, fest von innen gefügt, wiederum wie die leichte Rede des Nachbarn übern Gartenzaun. Alles unüblich komplex und (be-)treffend.

Beim Lesen von W. Bartschs Texten erfuhr man aber auch: Da hatte einer Bildung gelöffelt, kannte Kant und Marx, hatte Petrarca gelesen und Aleixandre, und nun äpfelte sein Pegasus saftige Satiren. Nein, nicht die von der billigen, bellenden Art der Choleriker, die Gift und Galle spucken und mit hämischem Zeigefinger gehässige Löcher in ihre Opfer stoßen, Satiromanen mit Killergemüt, Satyre mit Keule, Zyniker mit begabtem Griffel; auch kein geifernder, keifender Besserwisser und Schuldzuweiser, keiner, der mit boshaftem Besen vor fremden Türen kehrte, keiner, der die Pointen lästerlich knallen ließ; schon gar kein Possenreißer, Berufswitzler. Eher so: Da versuchte einer mittels grotesker Verfremdung das Menschenungeheuer und seine Praktiken zu entzerren, da wollte einer Macht und Übermacht mittels subversiver List kontern.
Dann, 1986, Übungen im Joch. Der Spaßmacher war zum Grübler mutiert. Die Spottbrocken waren ihm im Halse steckengeblieben. Zwar kobolzte es noch manchmal in der Art der Commedia del’arte, aber der Bildungsbürger Bartsch machte es dem Leser immer schwerer mit dem Verstehen. Zuweilen schwang er sich aufs Pathos-Roß, aber es war nun Rosinante, die äpfelte. Und er psalmodierte in klassischen Versmaßen, in denen die Alltagssprache anachronistisch klapperte und schepperte. Oder er parodierte Goethes Dem Geier gleich, / Der auf schweren Morgenwolken…:

Einem Schraubkampfhuber gleich,
Der über Sperrland und Niemandsgebiet
Mit herrschenden Fittichen donnernd
Auf Sichrung und Ordenheit achtet,
Liedre mein Kreis!…
Doch abseits (im Winter), wer war’s?
Ich war’s, und ich schlug mich
Buschwärts in die Seite, Strauchdiebe
Schlagen die Köpfe – wirst stehen! –
Unter der Hand zusammen und rufen:
Die Öde verschlingt ihn!
2

Eine Persiflage auf die eigene mißglückte Republikflucht, wo er sich auf den Spuren von Goethes Harzreise im Winter befunden hatte. Bartschkrakeel nannte er selber solche Versifikate. Und das Pendel ging zwischen Sarkasmus und Erschrecken:

Es haben reichlich Augenbinden auslegen,
Als man uns die Instrumente zeigte.

… jeder ist ohne Aussicht Ketzer, der nicht
Der Heiligen Kongregation angehört
Dieser Bunkerkameraderie…

Die Folterpfannen aller öffentlichen Plätze
Sind angefeuert, und in den Kesseln ferngeheizter
Neubaukerker steht vielen schon
Der Arsch voller Tränen…

Da gibt es kein Entkommen, keinen
Gott aus der Maschine: Die feurigen Eisenwände
Rücken auf uns
3

Das war zwar mit „N a c h  Prokojjew“ etikettiert, aber taktisches Versteckspiel vor der Inquisition war an der Tagesordnung im totalen Zensurstaat. Und in W. Bartschs Schreibhöhle (Vokabeln wie Vorhölle und Hölle kamen oft in seinen Texten vor) stellte sich unversehens zum Fünf-Uhr-Tee Tschernobyl ein:

Sieh, die Wolke, entbunden dem See
Im Sonnengespräch, gleicht dem Teegeist, so hör:
Der Karpfen wird Drache
4

Extreme Erfahrungen mit Menschenmöglichem, sich verweigerndes Glück und bohrende Ungewißheit drängten barsch in die Zeilen. Er lebte mit Pol Pot im gleichen Boot. Er stürzte sich ins Wechselbad zwischen Entsetzen und Ergetzen. Mal sezierte er gedankenscharf, mal ließ er die Metaphern wuchern, mal kam er logisch dürr daher, mal haschte er nach Effekten. Er versuchte sich in Sonett und Ode, in Langzeile und Vers libre, in Trochäen, Distichen und Heiku, er schaute bei Vergil nach und bei Dante und Shakespeare und Goethe und füllte alte Versschläuche mit neuem, gärendem Wein. Dennoch Weizen und Spreu noch nicht geschieden. Aber die Texte drängten offensiv ins Publikum. In ihnen die Schlagwetter der achtziger Jahre. W. Bartschs Übungen im Joch sollten ins Literaturmuseum.
Gewiß, man könnte einen Großteil des seit 1945 in den deutschen Ostlanden recht und schlecht Zusammengeschriebenen auf die Müllkippe karren, und manche Autoren gäben dazu gern ihr Einverständnis, wenn damit eine tabula rasa möglich wäre, die sie mancher Scham enthöbe. Doch müßte ein Nach-Fragen immer wieder möglich bleiben, daher sollte es zumindest ein Geschichtsmuseum geben, in dem heilsames Nach-Sinnen befördert wird. Literatur–  o d e r  Geschichtsmuseum, das wäre von Fall zu Fall, von Text zu Text die Frage.

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

 

WILHELM BARTSCH

Grimmgebauschtes Gruselbüschel     o di sau di
Geschwängertes Blumengras     was ein Gau di
Wachholdergehopstes Schnürleibchen     o ja hau di
Dotterliese Märchenmodderkuh Rotkopp     trau di trau di
Moorschlickanfall Waldmeisterbrodel     nicki lauda
Tautränennass im Mieswölfchenschein     schaba du
In jedes Tier Mensch nein sehen     tu

Peter Wawerzinek 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Christian Eger: Alles spricht
Mitteldeutsche Zeitung, 2.8.2020

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + Kalliope
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Wilhelmbartsch“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Wilhelm Bartsch

 

Wilhelm Bartsch liest aus seinem Gedichtband Gotische Knoten am 2.8.2018 in Erfurt.

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